Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR1

     

SWR2

    

SWR3

  

SWR4

      

Autor*in

 

Archiv

25FEB2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Der herbeigeführte Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny durch das Regime hat mich traurig und wütend gemacht. Ein Gefühl der Ohnmacht schleicht sich ein. Gleichzeitig bewunderte ich, dass Nawalny sich alles andere als ohnmächtig zu fühlen schien. Aber wie war es ihm möglich, vor Gericht stets so selbstbewusst und ungebrochen aufzutreten?

Eine Antwort darauf habe ich kürzlich in einem seiner Schlussworte gefunden, die er vor Gericht gehalten hat. Dort erklärte der ehemalige Atheist: „Jetzt bin ich ein gläubiger Mensch und das hilft mir sehr bei dem, was ich tue. Denn es gibt so ein Buch, das mehr oder weniger genau beschreibt, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich daran zu halten, aber ich versuche es im Großen und Ganzen.“

Mit dem Buch meinte er die Bibel. Und sein Leitsatz war das Wort von Jesus: Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.

Diese Aussicht, dass einmal Gerechtigkeit herrschen wird, hat Nawalny aufrecht gehalten. Diese Erwartung prägte seine Haltung.

Was erwarten wir angesichts zahlreicher Krisen? Was prägt unsere Haltung? Es ist schlimm und kann nur noch schlimmer werden? Oder hungern wir einer Gerechtigkeit entgegen, die nicht aufzuhalten sein wird?

Meine Erwartung entscheidet darüber, ob ich aktiv durchs Leben gehe oder ob ich die Flügel hängen lasse.

Wieso hat das etwas mit dem Glauben zu tun? Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das heute in den Gottesdiensten gesprochen wird, heißt es, von Jesus Christus, der im Himmel ist: Von dort wird er kommen.

So wie Jesus vor 2000 Jahren erwartet wurde und auf diese Erde gekommen ist, so will er nach seiner Ankündigung wiederkommen und für Frieden und Gerechtigkeit sorgen. Das ist die Erwartung der Christen. Das ist der Grund, nicht zu resignieren, sondern sich weiter zu engagieren.

Und so kann ich Nawalny in seiner Unbeugsamkeit rückblickend besser verstehen. Sicher war sein Weg ein unglaublich schwerer Weg. Und für ihn blieb sein Hunger nach Gerechtigkeit ungestillt. Doch die Ungerechtigkeit und ihre Handlanger werden nicht den Sieg behalten. Es gilt, je länger die Nacht desto näher der Morgen.

Wie sagte doch der ehemalige Bundespräsident Heinemann: Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39414
weiterlesen...
18FEB2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Möge der neue Tag dir den Blick für die Schönheit der Welt schärfen!“

Mit diesem Segenswort aus Irland möchte ich Sie in diesen Sonntag begleiten.

„Bene dicere“ ist das lateinische Wort für segnen. Übersetzt heißt es „Gutes sagen“. Und genau das ist der Sinn eines Segens: Mir etwas Gutes zuzusagen.

Ich glaube, dass diese schöne Tradition im Lauf der Zeit ein bisschen in Vergessenheit geraten ist. Wenn ich in die Schule gegangen bin, hat mir meine Mutter öfter mal mit dem Finger ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet. Das ist auch eine Form des Segens. Gott begleite und behüte dich, bedeutet es.

Hier bei uns im Schwarzwald ist es noch üblich, „ade“ zu sagen, wenn jemand sich verabschiedet. Auch das ist eigentlich ein Segen. Sei „mit Gott“ unterwegs. Deutlich wird das in der längeren Form „adieu“. Übrigens: Die gleiche Bedeutung hat auch das vielerorts bekannte „tschüß“.

Mich stimmen Segensworte positiv. Sie sprechen mir Mut zu. Das macht es mir leichter, in den Tag hinein zu gehen. Wie oft stelle ich fest, dass ich einfach nur so in den Tag hineinstolpere. „Möge der neue Tag dir den Blick für die Schönheit der Welt schärfen!“ öffnet meine Augen für das, was ich sonst gar nicht sehe: Die Welt ist schön. Es ist ein neuer Tag. Ich darf neu anfangen.

Aus Irland kenne ich viele Segensworte, eine sehr alte Tradition dort. Die irischen Segensworte sind sehr bildhaft. Sie lassen sich gut verstehen. In Irland hat der Glaube an Gott sich intensiv entwickelt. Viele Klöster sind entstanden. Vor 1.500 Jahren verlassen irische Mönche die Insel, um ihren Glauben weiterzugeben. So sind sie nach Mitteleuropa gekommen. Mit ihrer bildhaften Sprache haben sie sich schnell die Sympathien erobert. Sie haben mit ihrer naturverbundenen, weltoffenen Art deutliche Spuren hinterlassen. Sie haben viele Klöster gegründet und so die Germanen und die Alemannen zum Glauben gebracht.

Die irischen Segensworte haben in den letzten Jahren viele Freunde gefunden. Am Beginn einer Reise werde ich immer wieder einmal gebeten, einen Reisesegen zu sprechen. Da nutze ich gerne ein irisches Segenswort.

Und so wünsche ich Ihnen auch heute für diesen Tag: „Möge der neue Tag dir den Blick für die Schönheit der Welt schärfen!“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39334
weiterlesen...
11FEB2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Besonders im Winter brauche ich immer wieder mal einen Energieschub, sonst bleibe ich im trüben Grau um mich herum buchstäblich stecken. Ich gehe dann tanken.

Meine Tankstelle ist eine Schatzkiste. Bis zum Rand gefüllt mit Bildern und Fotoalben. Da drin sind ganz alte, dicke Alben, noch mit eingeklebten Bildern, aus neuer Zeit dann eher selbst gestaltete Fotobücher. Voller Leben und voller Energie. Schätze.

Das Buch aus Andalusien von vor 5 Jahren strahlt mich an: Atlantikküste. Tagsüber heiß, abends angenehm kühl.  Ein Bild vom Meer, Sonnenuntergang. Und da ist er wieder, der Tag vor fünf Jahren und wie er sich angefühlt hat. Seine Energie. Wie ein warmer Wind, der aus dem Fotobuch heraus mein Gesicht erreicht und noch mehr mein Herz.  

Vor mir das Meer. Wellen kommen und gehen. Gleichmäßig und doch jede unterschiedlich. Kraft, die mir entgegenkommt und wieder geht und wieder kommt. Unter mir Sand. Ungezählt. Noch warm von der Sonne des Tages. Über mir ein funkelnder Himmel. Unendlich. Und doch von einem gezählt.  Und da mittendrin: Ich. Gewollt. Erschaffen. 

Dieses Gefühl ist wieder ganz präsent: Dass ich ein Teil dieses Ganzen bin. Auf einmal ist da so viel Vertrauen. Gottvertrauen, Selbstvertrauen, Lebensvertrauen.

Die Tür geht auf. Meine Partnerin, dick eingehüllt in eine Wollstrickjacke - angemessen für Anfang Februar - schaut mich an. „Du strahlst so.“, sagt sie. „Ja, ich war grade tanken.“ Wir verstehen uns. Und dann beginnen wir zu planen, das nächste Wochenende. Den Geburtstag. Und den Sommerurlaub. Damit es Nachschub gibt für die Schatztruhe. Und weil es so gut ist in der Gegenwart zu sein und  doch zu zehren von dem, was war und zu träumen von dem, was kommt.

Meine Zeiten in Gottes Händen. Bei ihm wird eins, was in mir manchmal auseinanderfällt. Das, was war, das, was ist und das, was kommt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39314
weiterlesen...
04FEB2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Am 4. Februar 1906, heute vor 118 Jahren, kam in Breslau der große evangelische Theologe und Bekenner Dietrich Bonhoeffer zur Welt. Er bot den Nazis die Stirn, ging in den Widerstand und wurde nach zwei Jahren Haft auf Hitlers Befehl am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.

 

In seinen geheimen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis macht er vor allem die Dummheit dafür verantwortlich, dass die Nationalsozialisten damals an die Macht gekommen waren. Dummheit ist „gefährlicher als Bosheit“, schreibt er. Gegen die Bosheit könne man protestieren oder sie notfalls mit Gewalt verhindern, gegen Dummheit aber sei wenig auszurichten. „Dummheit ist kein angeborener Defekt“, meint Bonhoeffer. „sie wird erworben. Menschen werden dumm gemacht, beziehungsweise lassen sich dumm machen!“ [1])

 

Mir scheint: Dummheit und Verdummung führen auch heute wieder dazu, dass man dumpf-dreisten Parolen auf den Leim geht und Rechtsradikale immer mehr Zulauf bekommen. Das Drehbuch ist stets dasselbe: „Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen“, sagt Bonhoeffer. Viele fallen heute auf Falschmeldungen herein und verbreiten sie ungeprüft übers Netz. Mit Hass-Botschaften aufgefüttert, werden Feindbilder und absurde Umsturzfantasien in Umlauf gebracht. 

 

Ist gegen Dummheit wirklich kein Kraut gewachsen? Klar – Dumme igeln sich ein, Belehrungen prallen ab. Aber Fragen kann man stellen, die verlangen nach Begründungen. Das verunsichert und macht manche doch nachdenklich. Vor allem jungen Menschen wird man viel erzählen müssen, wie das damals war, als die Dummen den Nazis zur Macht verholfen hatten. Und was daraus wurde: Ein Völkermord, in dem man über sechs Millionen Juden ums Leben brachte, und ein Weltkrieg mit 70 Millionen Kriegstoten.

 

Was vor Verdummung schützt, ist gründliche Information, etwa durch sorgfältige Zeitungslektüre. Darüber hinaus setzt Bonhoeffer auf die Kraft des Glaubens: „Die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang“, so zitiert er aus Psalm 111.

 

Ich meine auch: Wer an Gott glaubt, entwickelt keine blöden Allmachtsfantasien, der orientiert sich vielmehr an der Aussage Jesu: „Der Größte unter euch soll euer Diener sein“ (Matthäus-Evangelium 23,11).

 

 

 

 

[1]) Dietrich Bonhoeffer: „Widerstand und Ergebung“, hrsg. von E. Bethge, Gütersloh 1969, S. 14 f.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39290
weiterlesen...
28JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Manchmal würde man vor Glück am liebsten die Uhr anhalten. In ganz besonderen Momenten. Aber irgendwann heißt es dann doch: Weitergehen. Hinein ins Leben. Auch in die Niederungen des Alltags.

Petrus hatte damit zu kämpfen. So erzählt es eine Geschichte aus der Bibel, die heute in vielen evangelischen Gottesdiensten vorgelesen wird. Petrus war ein enger Freund von Jesus. Einer von seinen Jüngern. Er hatte keine Lust, vielleicht auch keine Energie, um weiterzugehen. Gerade erst hatte er mit Jesus und einigen anderen ein Highlight erlebt. Sie hatten einen Berg erklommen und hatten dort ein beeindruckendes Gotteserlebnis. Jesus war wie in Licht getaucht. Er wurde „verklärt“, so heißt es in der Geschichte. Was auch immer man sich darunter vorstellen mag: Es muss ein toller Moment gewesen sein. Petrus war jedenfalls hin und weg. Am liebsten wäre er hier geblieben. Hier, in diesem Moment, an diesem Ort. Er hat sich nicht gut vorstellen können, jetzt wieder aufzubrechen und weiterzugehen. Wer weiß, was alles kommt, was die Zukunft bringt.

Petrus hätte den Moment gerne festgehalten. Aber dann hört er Jesus sagen: „Steht auf und fürchtet euch nicht!“

Ich weiß nicht, wie lange Petrus und die anderen damals gebraucht haben, um sich aufzuraffen und tatsächlich weiterzugehen. Jedenfalls durften sie sich nicht auf dem Berg der Verklärung eintopfen. Jesus hat sie mit sich zurückgenommen in die Niederungen des Alltags. Er hat sie ins normale Leben reingeschickt. Wohlgemerkt: er hat sie nicht allein losgeschickt. Nein, er ist mit ihnen mitgegangen, mit ihnen aufgebrochen.

Petrus hat später neue Herausforderungen erlebt. Manches war schwer für ihn, und rätselhaft, anderes schön. Sein Alltag ist nicht „verklärt“ worden durch das, was er auf dem Berg erlebt hatte. Aber er ist weitergegangen, zusammen mit den anderen. Und ich denke, in manchem Moment wird er sie wieder gehört und gebraucht haben: diese Stimme, die ihm Mut gemacht und gesagt hat: „Steht auf und fürchtet euch nicht!“

Bibelstelle: Matthäus 17, 1-9

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39231
weiterlesen...
21JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ein ganzes Buch aus der Bibel lesen. Wäre das nicht was für einen Sonntag im Winter? Auf der Couch oder im Sessel, mit einer Kerze auf dem Tisch daneben? Ich empfehle für heute das Buch Jona im Alten Testament. Zum einen, weil es kurz ist; in einer Viertelstunde ist man durch. Aber auch deshalb, weil das kleine Buch viele Fragen aufwirft, zum Weiterdenken anregt und am Ende eine schöne Perspektive parat hat. Sie heißt in etwa: Egal, was auf dieser Welt geschieht, Gott wird ganz zum Schluss immer barmherzig sein. Was in der Zwischenzeit alles passierten kann und wie leicht man sich vertun kann, wenn man scheinbar ganz genau weiß, wie Gott denkt und handelt, davon erzählt das Buch um den Propheten Jona in seinen vier Kapiteln.

Es ist ja nicht so, dass einem die Barmherzigkeit Gottes nachgeworfen wird. Wer anderen Böses antut, wer auf Kosten des Nachbarn lebt oder sonst Schuld auf sich lädt, muss damit rechnen, dass Gott ihn irgendwann zur Rechenschaft zieht. In der Stadt Ninive scheint es eine enorme Zahl schlechter Menschen zu geben. Deshalb schickt Gott Jona dorthin, um ihnen mit Strafe zu drohen. Jona will aber nicht so Recht. Entweder hat er früher schon mal schlechte Erfahrungen damit gemacht, anderen im Namen Gottes zu drohen. Oder er hat von Anfang an die Ahnung, dass es Gott schließlich doch leid tun wird, und er dann für die Katz Mühe und Risiken auf sich genommen hat.

Jona kann sich aber auch nicht so mir nichts dir nichts aus der Affäre ziehen. Gott kann offenbar hartnäckig sein, wenn er etwas von einem will. Weglaufen nützt nichts. Als Jona dann tatsächlich nach Ninive geht und das Strafgericht Gottes androht, läuft es anders, als gedacht. Am Ende – und das ist die eine Pointe des Buchs – am Ende will Gott barmherzig sein. Weil das am meisten seinem Wesen entspricht. Hier jedenfalls, weil es den sündigen Menschen in Ninive leidtut und sie Besserung geloben. Allerdings steht auch am Ende ein verdatterter Prophet. Hin und hergerissen von den widersprüchlichen Botschaften, die er von Gott vernimmt, weiß er jedenfalls nicht mehr, woran er bei dem Gott ist, an der er bisher geglaubt hat. Und das, genau das, ist gut so. Weil es dem Respekt entspricht, dem man vor Gott stets haben sollte.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39183
weiterlesen...
14JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In diesen ersten Tagen im neuen Jahr kommen mir ganz grundsätzliche Fragen auch zu meinem Leben. Und dazu, wo ich gerade stehe. Manches lasse ich geklärt zurück, manche Lebensfragen habe ich ins neue Jahr mit hinübergenommen. Sie sind kompliziert, vielschichtig – und ich kann sie im Moment nicht lösen. Schon gar nicht, indem ich mir viele Gedanken mache. Dann komme ich im Kopf nur hierhin und dorthin – und aus dem Grübeln nicht mehr raus.

Meistens sind das Fragen, die eng mit mir persönlich zu tun haben. Und damit, wer ich eigentlich bin und was genau ich will. Deshalb finde ich nicht die eine einfache Antwort. Und vielleicht gibt es die ja auch gar nicht.

Der Dichter Rainer Maria Rilke war zu genau diesem Thema mal im Austausch mit einem jungen Kollegen. In einem Brief schreibt er ihm: „Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten […], Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben“.

Die Lebensfragen selbst liebhaben. Mich spricht das sehr an. Es nimmt mir den Druck, alles sofort lösen, eine eindeutige Antwort finden zu müssen. Wenn ich erst mal nur bei den Fragen bleibe, habe ich viel mehr Zeit und Ruhe. Und vielleicht steckt ja wirklich schon in meinen Fragen ganz viel Wichtiges. Schließlich bin ich selbst es, der auf diese Fragen gestoßen ist. Es sind meine persönlichen Fragen – und die verraten immer auch was über mein eigenes Leben.

Wie das im Leben ganz praktisch aussieht, davon schreibt Rilke in seinem Brief auch. Er gibt seinem Gesprächspartner mit auf den Weg: „Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen.“

Mit anderen Worten: Wenn ich die Antwort auf meine innersten Fragen schon hätte, dann wäre das vielleicht gar nicht hilfreich für mich. Vielleicht würde ich sie nicht hören wollen oder sie wären jetzt noch zu groß und zu schwer für mich. Persönliche Entwicklungen geschehen mitten im Leben und brauchen viel Zeit. Und nicht nur der Kopf ist daran beteiligt, sondern auch das Herz – mit all seinen Gefühlen.

„Leben Sie jetzt die Fragen“, schreibt Rilke. Fragen sind ein lebendiger Teil des Lebens, nicht nur ein Störfaktor, den man mit einer schnellen Antwort rasch loswerden sollte. Und dann schreibt Rilke noch: „Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein.“

Brief an Franz Xaver Kappus vom 16. Juli 1903, siehe https://www.rilke.de/briefe/160703.htm

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39134
weiterlesen...
07JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In der Arktis gibt es einen Plan B für unsere Welt. Unter Fels und dicken Eisschichten liegt ein Tresor. Mit allen notwendigen Informationen, damit wir überleben können; genauer gesagt: damit wir nicht verhungern. Es ist der globale Saatgut-Tresor. In diesem Gebäude lagern über eine Million Saatgut-Muster aus der ganzen Welt; von allen wichtigen Kulturpflanzen und von ihren wilden Artverwandten. Zum Beispiel vom Weizen, von Mais, Reis, Hirse und tausenden Obst- und Gemüsesorten.

Das Gebäude ist wie ein Stollen in den Berg hineingebaut, nur der Eingang ist von außen zu sehen. Innendrin sind minus 18 Grad. Der Saatgut-Tresor kann Katastrophen überstehen. Erdbeben oder Orkane - auch Kriege. Selbst wenn die Umgebung auftaut, würde es noch etwa 100 Jahre dauern, bis es im Stollen drin zu warm wäre.

Dieses Projekt macht mir Hoffnung! Zum einen, weil alles da ist, damit das Leben auf der Erde weitergehen kann. Dieser Saatgut-Tresor auf Spitzbergen erinnert an eine moderne Arche Noah. Die Bibel (Gen 6-9) erzählt, dass Noah damals mit der Arche seine Familie vor der Katastrophe gerettet hat, vor der Sintflut. Auf das Schiff hatte er von jeder Tierart ein Paar mitgenommen. So hatte Gott es ihm angewiesen. Denn das war die Voraussetzung für einen Neuanfang, diese Artenvielfalt.

Und genau die brauchen wir heute wieder. Weil wir bereits mittendrin sind in der Katastrophe: Dreiviertel aller Kulturpflanzensorten sind schon verloren gegangen. Künftige Generationen sind angewiesen auf die genetische Vielfalt, die da im Eis liegt. Denn durch den Klimawandel brauchen Pflanzen andere Eigenschaften, um wachsen zu können; zum Beispiel an Orten, wo es wärmer und trockener sein wird als heute.

Noch etwas gibt mir Zuversicht: Fast alle Staaten der Welt schicken Saatgut-Muster ins Eis. Und das könnte doch bedeuten: Im Grunde ist allen wichtig und bewusst, dass wir das Leben und die Vielfalt auf der Erde bewahren müssen. Trotz aller Kriege und Auseinandersetzungen. Vielleicht gibt es sie doch, diese gemeinsame Verantwortung für den Planeten. Die Ahnung, dass eine gute Zukunft nur funktioniert, wenn Staaten und Menschen zusammenarbeiten und sich nicht abschotten. Diese gemeinsame Adresse im Eis, der Tresor auf Spitzbergen, der könnte ein Hoffnungsschimmer sein, ein Anfang.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39120
weiterlesen...
31DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Was machen Sie heute an Silvester? Eine Umfrage hat gezeigt:  56 % der Leute stoßen um Mitternacht mit Sekt an; 25 % böllern; 35 % haben vorher „Dinner for One“ geguckt und 17 % machen Bleigießen.[1] Hab ich auch mal gemacht: zum Spaß. Damit kann man doch nicht ernsthaft die Zukunft vorhersagen. Genauso wenig wie mit einem Jahreshoroskop. Trotzdem will man es wissen: Was bringt die Zukunft?

Das war zu biblischen Zeiten nicht anders. Da hat König Saul Probleme. Es läuft nicht gut mit den Regierungsgeschäften. Er will wissen, was er tun soll. Darum geht er heimlich zu einer Wahrsagerin, zur sogenannten Totenbeschwörerin von EnDor. Sie soll ihm den toten Priester Samuel rufen, damit der Saul die Zukunft vorhersagt. Und das passiert auch. Allerdings erfährt Saul schlimme Dinge. So schlimm, dass er in Ohnmacht fällt. Dazu kommt noch, dass Saul sowieso schon geschwächt ist, weil er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Darum rät die Wahrsagerin Saul, endlich was zu essen. Damit er wieder zu Kräften kommt. Aber sie muss ihn regelrecht zum Essen drängen. Sie kocht ihm was. Und Saul isst. Die Wahrsagerei ist plötzlich nicht mehr wichtig.

Ich finde: Das ist eine gute Pointe. Es hilft mir nicht, wenn ich etwas über die Zukunft erfahre, aber dabei das Lebensnotwendige vergesse. Es hilft mir nicht, wenn ich weiß, was in der Zukunft auf mich zukommt, aber ich dafür keine Kraft habe.

Apropos essen: laut Umfrage vom Anfang gehört es für 30 % der Befragten zu Silvester, Raclette zu essen; bei 18 % gibt es Fondue und 20 % verputzen noch einen Kreppl. Es sieht also so aus, als würden die meisten das Lebensnotwendige doch nicht vergessen. Gut so.

Ach ja, in der Umfrage kam auch raus: 39 % geben sich zu zum Jahreswechsel einen Kuss. Auch irgendwie lebensnotwendig.

Ich wünsche ihnen einen guten Rutsch!

--------------

[1] Cf. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1281449/umfrage/beliebte-traditionen-an-silvester-in-deutschland/ (abgerufen am 8.12.2023).

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39053
weiterlesen...
26DEZ2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Der Stall in Bethlehem gehört für mich zur Grundausstattung von Weihnachten. Vor meinem inneren Auge sehe ich das Christkind in der Mitte zwischen Maria und Josef. Im Hintergrund stehen Ochs und Esel. Vielleicht in der näheren Umgebung noch ein paar Hirten.

Weihnachten und der Stall – diese Kombination finde ich schon immer seltsam. Hier das rauschende Fest des Friedens, dort ein armseliger Stall. Mit einem Fest des Friedens – damit kann ich etwas anfragen. Aber mit einem Stall? Was hat ein Viehstall mit meinem Leben und mit dem Frieden zu tun?

Als ich darüber nachdenke, stoße ich auf einen faszinierenden Gedanken:

Gott hat jeden Menschen als liebevollen und friedfertigen Menschen geschaffen, also auch mich. Im Lauf meines Lebens sammle ich aber ziemlich viele Dinge an, die alles andere als friedfertig und liebevoll sind. Ich kann mich zu einem Menschen entwickeln, der manchmal neidisch, arrogant, gierig, oder sogar gewaltbereit ist. Das alles sind Dinge, die mich von Gott wegführen und unglücklich machen. Und genau diese unschönen Dinge in mir – dass ist mein armseliger innerer Stall.

Der Stall in mir kann sogar ein ganz schöner Saustall sein. Als Bild für das, was mich ungenießbar macht und was die Menschen um mich herum nicht an mir mögen. Weihnachten sagt mir nun: Gott will auch in meinem ganz persönlichen Stall zur Welt kommen. Für mich ist das ein wunderbarer Gedanke.

Wenn ich ihn hineinlasse kann ich lernen, mit meinem ungeliebten Stall Frieden zu schließen.   Dadurch, dass ich weniger gierig bin. Dass ich nicht auf andere Menschen herabschaue. Dass ich teile, statt alles für mich haben zu wollen. Dass ich mich entschuldige, wenn ich etwas Verletzendes gesagt habe. Und: Dass ich mir selbst vergebe für den armseligen Stall in mir.

Meinen Mitmenschen wird das guttun, und mir auch. Und so ergibt die Kombination aus Stall und dem Fest des Friedens für mich plötzlich einen Sinn. Der Friede beginnt in mir selbst, wenn ich Gott in meinen inneren Stall hineinlasse.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38991
weiterlesen...