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SWR Kultur Wort zum Tag

11JUL2025
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„Ich glaube fest, dass alles anders wird“ - immer wieder singen wir bei uns im Gottesdienst dieses Lied aus dem württembergischen Regionalteil des Gesangbuchs. Seine Melodie ist ein richtiger Ohrwurm für mich geworden. Das gilt auch für seinen Text, der mein Herz berührt. Wie soll ich das dann nennen – ist der Text dann ein „Herzwurm“ für mich?

„Ich glaube fest, dass alles anders wird“: Mich berührt dieser Text auch deshalb, weil ich die Lebensgeschichte seines Autors kenne. Und daher weiß, dass dieser Satz nicht leicht dahingesagt ist. Es ist kein naiver Text, sondern ein Text voller Trotzkraft. Ein großes Dennoch, das Dennoch des Glaubens.

Der Autor heißt Oscar Romero. Er stammt aus Mittelamerika, aus El Salvador. Oscar Romero hat ein erstaunliches Leben gehabt. Er wurde 1917 in eine arme Familie hineingeboren. Bald wurde ihm klar: „Ich werde Priester“. Er wurde zum Studieren nach Rom geschickt und kehrte dann zurück nach El Salvador. Erst war er dort Priester, dann Bischof, und zuletzt, 1974, wird er Erzbischof – der stille Junge aus einer kleinen Familie ist zum höchsten Katholiken des Landes geworden.

Und dann beginnt das, was viele „das Wunder Romero“ nennen: Die Einstellung von Oscar Romero ändert sich grundlegend. Die Kirche in El Salvador war äußerst konservativ und hat die damalige Militärdiktatur unterstützt. Doch als Erzbischof nimmt Oscar Romero die Stimmen der Unterdrückten ernst. Und protestiert gegen die Militärdiktatur. Er übernimmt eine Radiosendung und benennt dort jede Woche die Menschenrechtsverletzungen. Dadurch wird er zur „Stimme derer, die keine Stimme haben“.

Die Militärdiktatur warnt ihn: „Hör auf damit – sonst garantieren wir für nichts“. Aber Oscar Romero macht weiter.  Und er schreibt unser Lied: „Ich glaube fest, dass alles anders wird.“ – In einer der Strophen heißt es: „Ich glaube fest, das Ziel ist nicht mehr weit – ich hoffe auf die Zeit voll Frieden und Gerechtigkeit.“ – Er selbst wird diese Zeit nicht mehr erleben. Denn die Militärdiktatur setzt ihre Drohungen in die Tat um und lässt Oscar Romero erschießen, während er gerade eine Messe feiert. So wird er zu einem der großen Märtyrer des 20. Jahrhunderts.

Für mich lebt sein Geist auch in diesem Lied weiter. Gegen alle Gewalt in unseren Tagen singe ich es und halte ich mit ihm daran fest: „Ich glaube fest, dass alles anders wird…. Ich hoffe auf die Zeit voll Frieden und Gerechtigkeit.“

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

11JUL2025
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Wenn Bienen schwärmen, ist das ein faszinierendes Ereignis. Tausende Bienen sprudeln zusammen mit der alten Königin aus einem Bienenkasten. Oft setzen sie sich erstmal an den nächstbesten Baum. Von dort suchen sie nach einem neuen Zuhause – einer geeigneten Nisthöhle.

Der Biologe Thomas Seeley hat sich sein ganzes Leben mit dem Studium von Schwärmen beschäftigt. Er sagt: Ein Bienenschwarm entscheidet sich in einem demokratischen Prozess für eine neue Wohnung.

Einzelne Bienen erkunden die Landschaft nach Nisthöhlen. Sie vermessen sie sogar akribisch. Tanzend berichten diese Kundschafterinnen von ihrer Entdeckung. Schließlich stehen verschiedene Nistplätze – quasi als Kandidaten – zur Wahl. Dafür machen einzelne Bienen Werbung, also Wahlkampf. Die übrigen Bienen sind die Wählerschaft.

Ich finde diesen Prozess beeindruckend. Er kann dauern, wenn lange Zeit Uneinigkeit herrscht. Jede Biene wird angehört, keine wird ausgegrenzt. Aber die Argumente für die jeweilige Nisthöhle müssen überzeugend sein. Sie werden auch überprüft, indem andere Bienen sie sich anschauen. Leere Versprechungen werden also schnell entlarvt. Und es wird nicht nach dem eigenen Vorteil gesucht, sondern nach einer guten Lösung für das gesamte Bienenvolk. Letztlich wird die Nisthöhle genommen, die am meisten überzeugt hat. Und tatsächlich ist es in der Regel die bestmögliche Entscheidung für den Schwarm.

Diese zauberhaften kleinen Insekten gestalten auf ganz natürliche Weise einen demokratischen Prozess. Da werden wir es ja wohl schaffen, unsere Demokratie zu bewahren und nicht menschenfeindlichen und ausgrenzenden Parolen auf den Leim zu gehen.

Im alten Ägypten hieß es, Bienen seien von den Göttern geschickt. Sie sollen uns zeigen, wie wir in Süße, Schönheit und Frieden miteinander leben. Als Christin kann ich da gut mitgehen: Bienen sind für mich Geschöpfe Gottes. Und auch für uns geht es doch darum, im Miteinander die bestmögliche Lösung zu finden.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

11JUL2025
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Ich bin unterwegs auf einer Wanderung in den Bergen. Mit meiner ganzen Familie, Kinder, Eltern, Großeltern. Nach zwei Stunden sind wir auf dem Gipfelplateau. Oben eine kleine Kapelle, davor eine Bank aus verwittertem Holz. Ein wunderbarer Ort! Ich setze mich hin, schnaufe durch und schaue in die Ferne. Blauer Himmel, Grashänge gegenüber, Berglandschaften und Schnee-Gipfel in der Ferne. Direkt vor mir eine Stute und ihr junges Fohlen, die miteinander spielen. Wanderer kommen und gehen.

Ich wäre gerne noch geblieben und hätte einfach nur geschaut. Aber wir müssen weiter. Es ist heiß und der Rückweg ist lang. Für einen kurzen Besuch in der Bergkapelle reicht es aber noch. Und dann muss ich schmunzeln, als ich auf einer Tafel am Eingang einen Satz lese – da steht: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ [1] Die Zeilen sind von Astrid Lindgren. Der großen Dame, die so wunderbare Geschichten erzählen konnte. Von Pippi Langstrumpf natürlich, von Michel aus Lönneberga oder Ronja Räubertochter. „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ Das hat Astrid Lindgren bestimmt immer wieder gemacht. Und sich dabei ihre Geschichten ausgedacht.

Es ist im Alltag nicht immer leicht, einfach dazusitzen und sich Zeit zu nehmen. Ich habe oft den Eindruck, ich muss meine Zeit gut nutzen, der Kalender ist voll und ich bin ständig auf Achse, um alles möglichst effektiv zu erledigen.

Was Astrid Lindgren über die Zeit sagt, passt gut zu Jesus. Ob der Satz deshalb in der Kapelle auf dem Berg steht? Jesus wurde gerade mal 30 Jahre alt. Er hatte der Welt ziemlich viel zu sagen. Das war ein Leben, von dem man glauben könnte, da ist keine Zeit für Pausen. Aber das Gegenteil war der Fall: Jesus hat sich bewusst immer wieder zurückgezogen. Um einfach dazusitzen. Um zu beten. Heute würde man sagen: um zu reflektieren, um wieder zu sich zu kommen.

Als mein Sohn vor einiger Zeit gesagt hat, er hätte gerne ein Bänkle vor unserem Haus, hab ich ihn nicht ganz ernst genommen. Zumal er auf meine Frage „warum ein Bänkle?“ nur gesagt hat: „Einfach so“. Aber er hat es ernst gemeint. So wie ich jetzt:

Ich wünsche Ihnen für diesen Sommer: Dass Sie die Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen. Egal ob in den Bergen, am Meer, auf dem Dorfplatz oder zuhause auf dem eigenen Bänkle.

 

[1] Astrid Lindgren, Tagebuch 1964 ("Astrid Lindgren - Ein Lebensbild" von Margareta Strömstedt)

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SWR3 Gedanken

11JUL2025
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Ich habe eine uralte Freundin. Also im wahrsten Sinne des Wortes: Annelise ist über 90! Wir haben uns vor ca. 15 Jahren im Elsass kennengelernt und es war Freundschaft auf den ersten Blick! Ich war junge Pfarrerin in einem Bergdorf in den Vogesen, sie war Organistin im Nachbardorf. Abends, wenn ich mit dem Hund eine letzte Runde gegangen bin, gab es bei Annelise noch einen tisane, also einen Abendtee, oder einen selbstaufgesetzten Brombeerschnaps.

Was mich an Annelise fasziniert? Ihre Geschichte und ihre Art.

Ihr Bruder wanderte nach Amerika aus, ihre Schwester heiratete und Annelise? Sie sollte zuhause bleiben, ihren alternden Eltern helfen. Sie hat das anders gesehen. Sie setzte sich durch und übernahm den kleinen Kiosk des Dorfes, verkaufte fortan Zeitungen, Kaffee und Zigaretten. Zuhause sprach man Elsässisch. Als das Elsass französisch wurde, lernte sie Französisch. Als ihr Bruder eine Amerikanerin heiratete, lernte sie Englisch. Da es einige italienische Gastarbeiter im Dorf gab, die bei ihr Kaffee und Zigaretten kauften, lernte sie Italienisch. Von den deutschen Touristen lernte sie Deutsch. Annelise will alles wissen: wie es sich in den USA lebt; hört sich die Heimatgeschichten der Italiener an; fragt die deutschen Touristen nach Deutschland aus.

Wenn man Annelise etwas erzählt, sagt sie: Ja, pourquoi pas? warum nicht? Und das ist es, was Annelise ausmacht: ihre immense Neugier auf die Welt und ihre Offenheit allem und jedem gegenüber.

Was ist wichtig im Leben, frage ich sie. „Gemeinsam essen und trinken, miteinander reden“, kommt ihre Antwort. So einfach? Ja, warum nicht?

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SWR4 Abendgedanken

11JUL2025
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Allein sein kann richtig schön sein. Ich persönlich genieße ab und an die Stille, die Ruhe im Haus, wenn die Kinder nicht da sind und das Telefon schweigt. Wenn niemand etwas von mir will. Aber ich weiß: Dieser Zustand wird nicht lange dauern. Meine Freundin kommt bald nach Hause, die Kinder ebenso. Für diese kurzen, überschaubaren Momente genieße ich also das Alleinsein.

Anders Hilda. Sie ist 83, und vor einigen Jahren ist ihr Ehemann gestorben. Seitdem ist sie viel allein. So viele Jahre haben ihr Mann und sie das Leben geteilt, alles miteinander gemacht. Seit seinem Tod ist das Haus leer, still. Die Kinder und Enkel kommen zwar regelmäßig vorbei und Hilda genießt diese lebendigen, lauten und wuseligen Momente. Danach ist die Stille jedoch noch stiller als zuvor.

Deswegen geht Hilda regelmäßig unter Leute. Immer, wenn im Dorf eine Veranstaltung ist, ist sie dort anzutreffen. Sie sagt: „Dann habe ich Gesellschaft, ich habe jemanden zum Reden, ich erfahre die neuesten Neuigkeiten.“ Sie lacht: „Alleine habe ich viel weniger Appetit, aber in der geselligen Runde, da schmeckt es mir wieder.“

Ich bewundere Hilda für die Art und Weise, wie sie mit ihrer Einsamkeit umgeht. Sie resigniert nicht, sondern sie geht raus. Lässt sich nicht aufs Alleinsein festlegen. Das kostet Kraft. Aber es lohnt sich.

Einsamkeit betrifft mehr Menschen als ich mir selbst vorstellen kann. Von Jugendlichen weiß ich: Einsam sind nicht nur ältere Menschen, sondern auch jüngere. Denn Freundschaften in sozialen Netzwerken ersetzen oft nicht den richtigen Kontakt und eine wirkliche Begegnung.

Wir Menschen brauchen einander. So empfinde ich das. Mal alleine sein, das kann erholsam sein, aber einsam zu sein, macht traurig.

„Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei“ – so heißt es schon im biblischen Schöpfungsbericht. Gott selbst stellt das fest und hat dem ersten Menschen deshalb ein Gegenüber geschaffen. Adam und Eva nennt er die ersten Menschen. Sie konnten in Beziehung treten, miteinander reden, etwas unternehmen, sich zuhören, sich umarmen, füreinander da sein.

So freut es mich zu sehen, dass es an vielen Orten immer mehr Initiativen und Angebote gibt, um Menschen aus ihrer Einsamkeit zu holen. Hier in unserem Dorf gibt es für ältere Menschen den Seniorentreff mit Kaffee und Kuchen und einem schönen Programm, damit das Gesellige nicht zu kurz kommt. Damit möglichst viele wie Hilda den Segen einer Gemeinschaft spüren können.   

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SWR3 Worte

11JUL2025
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Es kann nur Gutes entstehen, wo die Liebe die Wurzel ist. Der Kirchenlehrer Augustinus formuliert das so:   

 

„Ein für alle Mal schreibt dir darum ein kurzes Gebot Folgendes vor: Liebe und tu, was du willst! Wenn du schweigst, schweige aus Liebe; sprichst du, so sprich aus Liebe; wenn du tadelst, tadle aus Liebe; wenn du verzeihst, verzeih aus Liebe. Die Wurzel der Liebe soll das Innerste deines Herzens sein: Aus dieser Wurzel kann nichts als Gutes hervorkommen.“

 

Quelle: Axel Kühner, Voller Licht und Leben. 265 Andachten, Neukirchner Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 2016. S. 174

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SWR Kultur Wort zum Tag

10JUL2025
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Es war eine dieser wunderbar warmen Sommerabende. Wir haben mit ein paar Freunden im Garten gesessen, die untergehende Sonne betrachtet und über die kommenden Wochen geredet. Zeit der Aufbrüche: „Wir machen in diesem Sommerurlaub endlich mal wieder eine große Reise“, hat ein Freund erzählt, „Mexiko und Mittelamerika. Ich freue mich so, mal etwas anderes zu erleben.“ – „Und ich begleite unsere Tochter nach Frankreich zu ihrem großen Neuanfang“, sagt ein anderer Freund. „Wenn sie das Abitur endlich geschafft hat, dann wird sie dort ein Jahr lang als Au-pair arbeiten.“ Und mit einem Schmunzeln fügt er hinzu: „Ich bin ihr Kofferträger in Paris und helfe ihr die ersten Tage, sich einzurichten.“  Ein dritter Freund berichtet: „Eine Weile war ich mir unsicher. Aber jetzt habe ich mich doch entschieden, den Job zu wechseln. Das ist gut für die Karriere. Und es ist gut für mich selbst – endlich mal etwas Anderes erleben. No risk, no fun.“ Wir erheben unsere Bierflaschen, stoßen an und lachen: „Auf die Neuaufbrüche!“

Auch ich lache mit. Und merke zugleich, dass ich ein bisschen neidisch werde. So etwas ganz Großes habe ich in diesem Sommer nicht vor. Auch im Job und privat stehen keine einschneidenden Veränderungen an. Nichts, was sich so cool erzählen ließe. Ich denke mir: „Neuaufbrüche haben irgendwie einen besseren Ruf, als einfach dazubleiben. Passt ja auch gut zu unserer Gesellschaft. Und zu unserer Wirtschaft. Da gilt: Verändere dich – oder verschwinde.“

Gerade, als ich anfange, in trübe Gedanken abzudriften, beginnt ein anderer Freund, vorsichtig zu sprechen: „Klar, aufbrechen ist cool. Aber ich bleibe auch gern mal da. Ich bleib gern dran an Sachen. Und an anderen Menschen. Weil ich sehe, was ich dadurch ermögliche. Wie sich Leben entfalten kann.

Unsere Tochter mit ihren 7 Jahren zum Beispiel fährt so fröhlich und selbstbewusst mit ihrem Rad durch unsere Nachbarschaft. Das geht nur, weil sie jedes Sträßchen genau kennt. – Was mich manchmal richtig langweilt, gibt ihr Sicherheit. – Oder im Job, da können die Neuen doch nur deshalb richtig loslegen, weil ich mich bei vielem auskenne und ihnen den Rücken freihalte“

Und ich denke mir: „So ist es. Auch Bleiben bringt Segen. Bleiben ermöglicht Wachstum und lässt Leben erblühen. So wie auch Gott an uns dranbleibt. Bei uns bleibt, nicht nur in unseren Neuaufbrüchen, sondern gerade auch in unseren Routinen. Gott bleibt bei uns. Und er schenkt uns den Blick dafür, wieviel Leben unser Dableiben ermöglicht.“    

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Anstöße SWR1 RP / Morgengedanken SWR4 RP

10JUL2025
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Im Frühjahr hatte meine Mutter einen Schlaganfall und der verursachte eine halbseitige Lähmung. Es war das Szenario, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte. Am dritten Tag im Krankenhaus war Chefarztvisite. Der Chefarzt fragte: „Wie geht es Ihnen?“ Sie sagte: „Ich will nach Hause.“

Ich biss mir auf die Lippe und wartete gespannt auf seine Antwort. Die fiel ganz anders aus als ich dachte. Er sagte: „Das ist sehr gut! Wirklich! Hauptsache, Sie wollen etwas.“ Er erklärte noch näher, was er damit meinte: „Der Großteil meiner Patientinnen und Patienten will gar nichts mehr und das ist ganz schlimm. Dann passiert auch nichts mehr. Heute und auch morgen können Sie noch nicht nach Hause. Es wird etwas dauern. Aber die Hauptsache ist: Sie wollen etwas!“

Seine Worte haben mich erstaunt und beeindruckt. Er tat ihren Wunsch nicht ab im Sinn eines Hirngespinstes, das jemand hat, der die eigene Lage offensichtlich völlig überschätzt oder falsch wahrnimmt. Schließlich war im Gehirn gerade einiges kaputtgegangen. Er nahm sie ernst und unterstützte sie. In den anschließenden Tagen und Wochen wurde mehr als deutlich, was er gemeint hatte. Es gab gute Tage mit positiven Entwicklungen, es gab schwere Tage, und es gab Tage, in denen alles auf der Kippe stand. Aber immer war da dieser Wille – auch der mal kräftiger, mal etwas angeschlagen. Mal zweifelnd, mal schimpfend, mal stolz, mal einfach guter Dinge. Aber er war immer da. Der Arzt hatte den Kern getroffen: Es braucht diesen entschlossenen Willen und ein klares Ziel. Ein Ziel, das sie für sich selbst bewahrt und das sie verteidigt – auch gegen Skepsis, Zweifel und Ängste anderer.

Inzwischen sind vier Monate vergangen. Krankenhaus, Kurzzeitpflege, Reha. Meine Mutter sagt immer: „Man geht abends gesund ins Bett und morgens ist die Welt eine ganz andere.“ Ja, das ist so. Und ich kann mich nicht wirklich auf alle Eventualitäten und Entwicklungen vorbereiten. Aber ein starker Wille kann offensichtlich ein Segen sein.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

10JUL2025
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Ich wusste nicht, was ein Ghostworker ist. Jetzt weiß ich’s: Das sind Menschen, die besondere Jobs machen, wichtige Jobs – und dabei unsichtbar bleiben. Wie ein Geist eben, deshalb heißen sie Ghostworkers, Geisterarbeiter.

Michelle ist eine von ihnen. Sie hat Informatik studiert und daran mitgearbeitet, dass ChatGPT so groß und so großartig geworden ist. Ich nutze dieses Programm für Künstliche Intelligenz selbst und bin jedes Mal aufs Neue fasziniert, was alles damit möglich ist. Ich habe mir zum Beispiel eine Stadtführung durch Straßburg ausarbeiten lassen, frage nach Zeichnungen zu Texten und nutze die KI, um Themen für meine Arbeit zu recherchieren. Was mir bei allen Anfragen an ChatGPT auffällt: Die KI antwortet und reagiert immer freundlich, höflich und respektvoll – egal wie kritisch meine Anfrage ist.

Dafür sorgt unter anderem Michelle. Und damit sind wir auf der Schattenseite der faszinierenden Welt von KI.

Damit Künstliche Intelligenz mir klug antworten kann, muss sie mit riesigen Datenmengen gefüttert werden. Das ist offensichtlich. Damit KI aber keinen Hass verbreitet, nicht diskriminiert oder verletzt, muss man ihr ausdrücklich sagen, was sie nicht darf; sie antwortet nämlich nicht von alleine moralisch angemessen, da braucht es die Arbeit von echten Menschen wie Michelle. Und die sieht so aus: Michelle muss Gewaltvideos sichten, sich Pornografie anschauen, Terrorpropaganda markieren, Texte über Kindesmissbrauch lesen und bewerten. Damit ChatGPT weiß, was es löschen muss. Damit wir damit nicht konfrontiert werden.

Michelle arbeitet in Kenia für weniger als zwei Dollar in der Stunde. Wie es ihr mit dieser Arbeit geht, interessiert niemanden. Ihre Geschichte steht exemplarisch für eine alte Sache und bekannte Strukturen: Sie hat nur einen modernen Namen: Hier geht es um digitalen Kolonialismus, um Ausbeutung. Die Daten und die Arbeit kommen aus dem globalen Süden – Reichtum, Macht und Kontrolle gehen von uns aus dem Norden aus.

Die Entwicklung von KI lässt sich nicht mehr aufhalten. Aber die ethischen Fragen, die damit zusammenhängen, die dürfen deshalb nicht einfach ignoriert werden. Es gibt Möglichkeiten, sich für die Rechte von Ghostworkern einzusetzen: Zum Beispiel gemeinnützige Organisationen wie die Datalabelers unterstützen. Oder politische Vertreter hier in Deutschland auffordern, das Lieferkettengesetz auf digitale Arbeit auszuweiten. Oder zumindest die Begriffe „Ghostworker“ und „digitaler Kolonialismus“ nicht mehr vergessen und davon erzählen.

https://datalabelers.org

Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen. Ingo Dachwitz/Sven Hilbig, C.H. Beck

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SWR3 Gedanken

10JUL2025
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Diskussion neben mir auf der Parkbank. Eine Mutter mit einem kleinen Jungen. „Warum darf ich da nicht spielen?“, fragte der Junge. „Weil da lauter Müll rumliegt.“ „Warum liegt da Müll rum?“ „Weil Leute ihn da liegen gelassen haben.“ „Warum haben die Leute den Müll da liegen gelassen?“ Die Mutter gibt auf. „Das weiß ich nicht“, antwortet sie ihm. Und ich denke, der kleine Junge hat das Problem genau begriffen.

In der Bibel sagt Jesus: „Ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Und ich glaube, Jesus meinte da vor allem die kindliche Neugier. Neugier aus Liebe zu den Menschen. Mit Kindern die Welt erkunden und hinterfragen.

Mein alter Nachbar und ich teilen die Leidenschaft für Diskussionen und besondere Sachbücher. Zufällig kamen wir auf das Thema Gender. Nein, meinte er, mit Gendern könne er nichts anfangen. Also habe ich ihm das Buch einer Biologin ausgeliehen. Seither liest er alles zum Thema. Neugierig, wie eh und je. Und jetzt bin ich es, die ihn wieso und warum fragt. Noch in hohem Alter lohnt es, sich mit neuen oder fremden Themen auseinanderzusetzen. Viele Kinder machen das automatisch.

Ich glaube, mehr Neugier hilft uns im täglichen Miteinander. Etwas, das man erstmal für absoluten Schwachsinn hält, sich doch genauer anschauen, wie mein Nachbar das Gendern.

Wer neugierig ist wie ein Kind, dem steht die Welt offen!

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