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20MAI2024
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Nicole Stockschlaeder copyright: Volker Lambert

Christopher Hoffmann trifft: Nicole Stockschlaeder, Theologin und Leiterin der Lebensberatungsstelle in Mayen in der Eifel
Sie begegnet dort Menschen, die in ihrem Leben vor großen Herausforderungen stehen:
Menschen, wo das Leben in irgendeiner Art und Weise aus dem Tritt gerät, also wo es gerade stockt, wo wir stolpern, wo wir in einer Krise sind, wo wir nicht mehr weiterwissen.
Ich spüre in unserem Gespräch schnell: Die Theologin ist nah dran an den Menschen in Mayen und Umgebung, denn zu ihr und dem multiprofessionellen Team mit Psychologin, Pädagogin und Sozialarbeiterin, kommen die unterschiedlichsten Personen:
Das kann die Frau sein, die gerade ihren Mann verloren hat und jetzt mit einem zweijährigen Kind alleine da ist. Das kann das Paar sein, das jetzt seit 17 Jahren verheiratet ist und sich fragt: Wer sind wir jetzt noch füreinander? Das können Themen sein von hochstrittigen Eltern, die in der Trennungsphase sind und sich als Paar wirklich überhaupt nichts mehr zu sagen haben und kaum mehr ertragen können, aber dennoch eine gemeinsame Erziehungsaufgabe haben und einen Auftrag. Mit denen wir dann gucken: wie können sie gut die Entwicklungsaufgaben ihrer Kinder begleiten in dieser Phase.
Auch einsame Menschen oder Paare, die einen unerfüllten Kinderwunsch haben, suchen die katholische Lebensberatungsstelle auf. Eine von deren Hauptaufgaben ist es, Familien in schwierigen Situationen zu begleiten. Was ist für die katholische Seelsorgerin und systemische Familientherapeutin denn alles Familie?
Mir gefällt eigentlich die Definition ganz gut, dass Familie da ist, wo Menschen dauerhaft Verantwortung füreinander übernehmen. Das sind alle Lebensformen, in denen Menschen heutzutage unterwegs sind. Also ganz vielfältig und bunt. Das gefällt mir gut und so ist auch mein Familienverständnis.
Und diese Menschen kommen auch wirklich vorbei in einer katholischen Einrichtung?
Wir sagen in unseren Erstkontakten immer, dass wir ein Haus mit kirchlicher Trägerschaft sind und manche Klientinnen oder Klienten sagen dann: „Ah, ich bin ja gar nicht katholisch, darf ich dann trotzdem zu euch kommen?“ Und mich beschämt diese Frage immer sehr- ich bin dann immer sehr offen und sehr werbend -natürlich: wir stehen offen für Konfessionslose, für gläubige Menschen, für Junge, für Alte, also ganz unabhängig welcher Hintergrund.
Und trotzdem ist es für Menschen in einer Krise oft ein langer Prozess, sich Hilfe zu holen. Man kann in der Lebensberatungsstelle anrufen, oder vorbeigehen. Man kann aber auch anonym bleiben und erhält im Internet Beratung:
Es ist möglich, dass ich mich anonym anmelde über unsere Homepage und eine Onlineberatung mache, das heißt ich schreibe was und ich habe die Zusage, dass innerhalb von 48 Stunden jemand mir antwortet und dann bin ich direkt in Kontakt mit einem Berater, einer Beraterin.
Und alle Angebote der Lebensberatung sind kostenfrei und vertraulich. Ich treffe Nicole Stockschlaeder, die in Mayen in der Eifel eine von insgesamt 20 Lebensberatungsstellen im Bistum Trier leitet. Solche Beratungsstellen gibt es im gesamten Sendegebiet. Welche Hilfe ist denn aktuell sehr gefragt? Die 49-Jährige, die selbst Mutter von zwei Teenagern ist, erzählt, dass besonders viele junge Menschen Hilfe suchen:
Wir haben gerade sehr viele Jugendliche auf dem Weg ins Erwachsenwerden: Wie kann ich diesem Druck standhalten? Mobbing ist immer ein Thema: Wie komm ich an meine Stärken ran, wenn alle anderen sagen: „Du bist doof und mit dir wollen wir nichts zu tun haben und du kannst nichts!“
Sehr viele Menschen sind auch auf der Suche nach einem Therapieplatz und sind dann mit langen Wartezeiten konfrontiert:
Das ist gerade auch ein sehr großer Sorgenpunkt und beschäftigt uns in den Beratungsstellen sehr.-Wir haben immer schon stabilisierende Arbeit gemacht mit Menschen, die auf Therapieplätze warten, aber im Moment nehmen wir es schon so wahr, dass das Netz gerade sehr fragil und löchrig ist. Die stabilisierenden Aufgaben werden immer größer.
Es fehlen so viele Psychotherapieplätze und die Lebensberatungsstellen können mit ihrem Angebot keine Therapie ersetzen. Aber sie sind eine erste Anlaufstelle, um Menschen zu stabilisieren und mit ihnen die Zeit bis zur Therapie zu überbrücken. Ohne Vorurteile das anschauen, was ist und nach Lösungen suchen. Das ist Nicole Stockschlaeder ganz wichtig. Die gebürtige Westerwälderin, die heute in Sinzig am Rhein lebt, wurde 2001 im Trierer Dom als Pastoralreferentin beauftragt und ihr Beauftragungsvers ist für sie heute noch ganz zentral. Der steht im Alten Testament beim Propheten Jeremia und lautet: „Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.“(Jer 29,11).
Wir sind unterwegs mitten im Leben und da sehe ich auch den Auftrag von uns als Kirche: mitten im Leben unterwegs zu sein.
Und auch Pfingsten als Geburtsstunde der Kirche und das Wirken des Heiligen Geistes ist der Leiterin der Lebensberatungsstelle ganz wichtig:
Und zwar ist die Blickrichtung Zukunft, in die wir sehen. Und wir schauen von der Gegenwart aus und schauen was ist und alles darf sein gerade. Und mit dem Blick drehen wir dann und gucken in die Zukunft. Und ich finde das ist bei Pfingsten auch so. Wir öffnen die Türen, wir gehen raus und lassen das Leben rein und sind bereit für die Zukunft.
Das Gespräch mit ihr macht mir Mut: auch heute sind Menschen motiviert, mit anderen eine gute Zukunft zu gestalten. Ihr Glaube ist für Nicole Stockschlaeder ganz zentral und ihr Gottesbild gefällt mir. Denn Gott ist für sie ein Co-Pilot:
Was mich gerade trägt ist der Begriff des Co-Piloten, der an meiner Seite ist. Also ich kann vieles steuern und kann vieles tun und weiß aber trotzdem mich gehalten von dem der da neben mir steht und der schützt und der vielleicht gegebenenfalls irgendwie – irgendwie - eingreift, wenn ich nicht mehr fähig bin zu steuern und das ist eigentlich gerade aktuell mein Bild, was mich trägt.

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19MAI2024
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Thorsten Dietz

Wolf-Dieter Steinmann trifft Prof Thorsten Dietz.
Der evangelische Theologe ist medial kreativ. Als Autor, Podcaster und
in Videos inspiriert er zum Denken und Glauben. Seit August 2022 am
"Fokus Theologie" im „REF(ormierten)-LAB(oratorium)“ in Zürich.

Das Christentum ist alt geworden. Hat er auch mal gedacht. Inzwischen hält er es für möglich, dass es seine Zukunft noch vor sich hat. Und das hat für Thorsten Dietz viel mit seinem ‚persönlichen‘ Pfingsten zu tun. Mit der Lebensenergie, die ihn angesprungen hat, als er Bibel gelesen hat. Erst distanziert, wie ein Zuschauer auf den hinteren
Plätzen. Aber dann:

Ich war völlig verstört, aber auch zunehmend ergriffen, mit welcher Leidenschaft in der Bibel gelebt wird. Und habe gelernt, mir zuzugestehen: Ich brauche so etwas eigentlich auch. Dieses ‚Gott hat mich lieb, sieht mich, hört mir zu.‘ Das war eine Lebenswende. Diese Geborgenheit, bei einem DU zu finden, was ich nicht beweisen und begründen kann. Was ich aber spüre, wenn ich mich dafür öffne.

Da war er schon erwachsen, als er Christ geworden ist. Zuvor Atheist. Heute mit gut 50 ist er überzeugt. In Pfingsten steckt ein großer Traum für Menschheit und Erde.

Dieser Traum eines gemeinsamen Lebens, wo diese ganzen Mauern niedergebrochen werden; die von ‚drinnen und draußen‘ und die von ‚oben und unten‘ und wir gemeinsam verbunden werden durch etwas, was uns heilig ist.

In der Bibel wird erzählt, wie Menschen das vor 2000 Jahren erlebt haben: Jesu Traum von einer besseren Welt schien am Kreuz gestorben. Dann haben einzelne gesagt: Jesus sei nicht tot, Gott habe ihn und seinen Traum neu zum Leben erweckt.

Dann machten sie gemeinsam die Erfahrung wie sie das begeistert, wie es sie ergreift und wie es sie zusammenfügt. Und sie haben dann gesagt: ‚Es war das Gefühl, als hätte Gott uns erfüllt mit seinem Geist, mit Mut, mit Kraft, mit Freude‘.

‚Heiliger Geist‘. Thorsten Dietz weiß, das klingt speziell. Aber der ist nicht nur für Religiöse. Im Gegenteil. Geist ist Lebenskraft in allem.

Grade im Alten Testament wird uns Geist, ruach, Windhauch, Geistkraft gezeigt als etwas ungeheuer Dynamisches, was jedem Lebewesen innewohnt, im Atem.

Darum ist für ihn klar: Kirchen und Christenmenschen haben diese Kraft nicht für sich.

Wir werden ab und an freundlich ergriffen und berührt und dürfen staunen und können versuchen, davon etwas zu sagen, in Predigt und Theologie. Das ist es dann aber auch. Er gehört allen.

Es entspricht Gottes Geist auch nicht, wenn wir Menschen uns abgrenzen in „wir drinnen- die draußen“. An Pfingsten sollte man  diesen Traum feiern. Indem soziale Grenzen durchlässig werden, wir Fremde erkennen, unser Wirgefühl weiten.

Wo wir vielleicht lieber denken sollten an Freundinnen und Freunde, an Gemeinschaften, an Netzwerke. es wäre das Freundschaftsfest schlechthin. Geistkraft Gottes ist sehr eventfreundlich und das sollten wir feiern. Gott ist nicht nur auf Familien programmiert.

Pfingsten berührt Thorsten Dietz tief innen. Und lässt weit denken und
neu glauben.

 

Thorsten Dietz war Atheist, dann eine Lebenswende, Pfarrer im Ruhrgebiet. Professor. Heute mit gut 50 bringt er Christliches kreativ in soziale Medien. Er mag Pfingsten. Weil Gottes Geistkraft in allem Leben ist und es an vielen Orten bewegt in eine bessere Richtung. Sie wirkt frei und unverfügbar. Schafft Neues, verändert. Und das tut ja not, bei den Gegenkräften.

Wo Leben aufsteht gegen den Tod, wo Menschen Gemeinschaft knüpfen gegen Vereinsamung, wo Menschen Ungerechtigkeit entgegen treten, weil sie sagen: ‚das tötet, das engt ein, das wollen wir nicht mehr.‘ Und dafür den Sinn zu wecken, möglicherweise ist das nicht etwas, was wir uns wünschen, möglicherweise rührt sich in uns das Geheimnis des Lebens selbst.“

Und diese Kraft berührt auch ganz persönlich. Lange hat er nur „der Heilige Geist“ gesagt. Bis er begriffen hat, für viele Frauen ist das anstößig. Und dass man Gott auch sprachlich nicht einsperren kann.

Ich möchte lernen, neue Worte zu finden, für alte Erfahrungen, die mir lieb und vertraut sind. Aber auch denen neue Seiten abgewinnen, die ich mit anderen Menschen teilen kann. Ich finde, auch das ist Gottes Geistkraft, den Mut, die Offenheit zu finden, Neues zu wagen und zu entdecken.

Aus feministischer Theologie berührt und bewegt ihn Gottes Geistkraft und er findet auch: 2000 Jahre Männerkirche sind genug.

Wo Frauen aufbegehren: Er ist nicht festzulegen auf ein Geschlecht. Wir lassen uns auch Gott und Glaube nicht stehlen und wir akzeptieren nicht, dass wir nicht zählen.‘ Ich lasse mich davon auch gern anstecken. Das tut mir gut.

Es ist ein Geschenk, wenn man sich immer noch ergreifen lassen kann. Auch wenn man älter ist. Ich spüre Feuer und Begeisterung bei ihm.
In unseren Kirchen fehlen ihm die oft. Wir sind ‚hüftsteif‘ geworden,‘ sagt er. Mehr Leben, mehr Geist. Christsein mit dem ganzen Körper, mehr Pfingsten. Musik kann dazu helfen und der spirit von beweglicheren Christenmenschen
zB. aus Afrika.

Die Menschen sind nicht hüftsteif, sie tanzen, sie singen. Sie umarmen einander, sie lassen sich ergreifen und berühren sich gegenseitig. Wir können uns davon inspirieren lassen.
Und ich glaube, Musik ist eine Kernsprache des Göttlichen. Wo wir uns der Musik öffnen, mitschwingen, so in Resonanz versetzen lassen. Ist immer ein guter Anfang.

Thorsten Dietz ist sicher, immer wenn ich spüre, ich bin Teil des großen Lebens auf unserer Welt. Das sind heilige Momente. In diese Richtung wünscht er Ihnen und mir noch viel Pfingstliches, heute und überhaupt.

Möge jeder etwas finden, was ihn berührt und ergreift. Und man kann an so einem Tag ja mal überlegen, ob das stimmt, was viele denken, dass sie das Christentum hinter sich haben. Vielleicht haben sie es auch noch vor sich.

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12MAI2024
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Marion Bohner copyright: Manuela Pfann

Manuela Pfann trifft die Mutter und Landwirtin Marion Bohner aus Bad Waldsee

Am Muttertag heute spreche ich mit der Landwirtin Marion Bohner aus Bad Waldsee. Es ist gar nicht so leicht, mit ihr einen Termin zu finden. Weil sie viel unterwegs ist. Zwischen Kuhstall, Kindern und Küche, zwischen Zweit-Job und ehrenamtlichem Engagement. Wie das alles gut funktionieren kann, das erzählt sie mir bei einem Kaffee vor dem Haus. Im Hintergrund: Vogelgezwitscher, Traktoren und ab und zu muht eine ihrer 45 Milchkühe.

Also der Alltag erfordert ein gewisses Maß an Organisation und Flexibilität. … Wir haben einen Familienkalender, wo jeder einfach eintragen kann, was für Termine sind, so dass wir das gemanagt kriegen.

Für mich sieht es hier nach Idylle aus: grüne Wiesen und blühende Obstbäume, Marion hat die Hofkatze auf dem Schoß – und erklärt mir, wie das hier so läuft:

Das ist ein Familienbetrieb und da müssen einfach alle ran. Anders geht's nicht. Das bringt Vor- und Nachteile mit sich. Insgesamt finde ich es super, dass wir eigentlich jeden Tag drei Mahlzeiten zusammen einnehmen.

Zur Tischgemeinschaft gehören Marion und ihr Mann Klaus und die beiden Kinder im Teenageralter. Die andere Seite ist: Auf dem Hof gibt es keine Pause, die Arbeitswoche hat sieben Tage. Und wenn’s eng wird, hilft der über 80-jährige Schwiegervater noch mit. Marion sagt es ganz ehrlich:

Das sind schon auch Sachen, mit denen wir manchmal hadern, wenn wir hören, dass andere eben spontan übers Wochenende wegfahren.

Und trotzdem: Sie liebt die Arbeit auf dem Hof. Aber die Bedingungen für kleine Familienbetriebe sind schwierig. Marion Bohner will, dass sich was ändert: Weniger Bürokratie, mehr Planungssicherheit, und dass Bio-Betriebe wie ihrer mehr gefördert werden. Deshalb sitzt sie seit drei Jahren im Präsidium eines großen internationalen Bioland-Verbands. Das bedeutet aber für die Familie: Sie ist regelmäßig unterwegs. Und dann ist ihr Mann zuhause gefragt.

Das ist ein ganz wichtiger Faktor für mich, dass ich mich da einfach auch darauf verlassen kann, dass das daheim dann auch läuft, dass er mir da den Rücken freihält und ich schätze das sehr.

Bei Bohners ist es normal, dass der Papa auch mal kocht oder mit den Kindern zum Zahnarzt geht. Am Ende muss einfach alles passen.

Ich bin ein großer Fan von Gleichberechtigung, egal was jetzt auch eben Hausarbeit oder was auch immer betrifft. Allerdings finde ich es auch manchmal so ein bisschen schräg, wenn man dann die Männer so in den Himmel lobt, weil die jetzt einen Elternabend besuchen oder so.

Ebenso pragmatisch ist Marions Blick auf den heutigen Muttertag und ihre Antwort auf meine Frage, ob ihr der Tag wichtig ist.

Also im Zweifelsfall wäre mir eine ordentliche Absicherung im Alter usw. wichtiger für die Mütter als der Blumenstrauß, wenn ich jetzt wählen könnte. Also ich denke, da gibt es viel Nachholbedarf, auch in der Landwirtschaft.

Marion arbeitet deshalb zwei Tage in der Woche zusätzlich in einer medizinischen Einrichtung. Das tut auch der Familienkasse gut. Denn bei ihnen ist es wie bei vielen kleinen Familienbetrieben: Finanziell ist es immer eng.

 

Ich spreche heute mit Marion Bohner aus Bad Waldsee. Sie ist Landwirtin, Mutter, engagiert bei den katholischen Landfrauen - und vertritt klare Positionen, nicht nur bei den Sitzungen in ihrem Bioverband.

Also ich bin dieses Jahr schon auf die Straße gegangen gegen die neue Gentechnik zum Beispiel. Und dann eben jetzt auch gegen Rechtsradikalismus. Einfach, wo ich sage, okay, das sind die Werte, die mir wichtig sind.

Beim Thema „Proteste“ kommen wir beide dann schnell ins Gespräch über Subventionen. Sind die denn wirklich notwendig, frage ich sie?

Um die kleineren, die familiengeführten Betriebe halten zu können, müssen wir entweder sagen: Okay, diese Subventionen, die brauchen wir weiter, dass die Lebensmittel einigermaßen günstig bleiben können. Oder wir müssen uns überlegen, ob diese hochwertigen Lebensmittel uns einfach nicht ein bisschen mehr wert sind.

Ich möchte es konkret wissen: Wieviel Cent müssten bei ihr auf dem Hof für den Liter Milch ankommen, damit das wirtschaftlich ist? Da gibt es einen Orientierungspreis sagt sie mir; der liegt gerade bei 69 Cent.

Und unser Milchpreis in Deutschland schwankt da gerade so zwischen, ich sage mal, zwischen 52 und 62 Cent.

Und da sind die Subventionen schon miteingerechnet. Ich kann gut verstehen, dass Marion Bohner auch deshalb viel Energie in ihr Ehrenamt beim Verband steckt und sich für Veränderungen einsetzt.

Deutschland ist ein Land, in dem Lebensmittel sehr billig sind und sehr billig sein sollen, dass wir einfach alle noch genug Geld übrig haben für sonstigen Konsum. Da würde ich mir einfach mehr Wertschätzung für diese Lebensmittel, für die wir wirklich jeden Tag früh aufstehen, wünschen.

Vor gut 100 Jahren hat der Uropa von Marions Mann das Land in Bad Waldsee in Oberschwaben gekauft. Seither bewirtschaftet es die Familie. Ich finde es bemerkenswert, wie die beiden mit diesem Erbe umgehen.

Diese Fläche, die wir da von den Vorgenerationen übernommen haben, das ist für uns nicht nur Besitz und Wert, sondern eben auch Verantwortung. Wir wollen da auch was zurückgeben. Also wir holen da jetzt nicht nur runter, sondern wir wollen eben für diesen Grund und Boden gut sorgen; in der Zeit, in der wir dafür verantwortlich sind.

Auch deshalb haben die Bohners den Hof vor über zehn Jahren auf ökologische Landwirtschaft umgestellt. Die Kühe sind mit viel Platz im Kompost-Stall und die Wiesen werden ohne chemischen Dünger bewirtschaftet. Das ist ihr Weg, die Schöpfung zu achten und zu bewahren.

Diese Haltung spüre ich auch, als wir in den Stall gehen. Marion nennt die Kühe liebevoll „meine Mädels“. Und dann erzählt sie mir zum Abschluss vom schönsten Tag im Jahr für sie auf dem Hof:

Wenn wir da das erste Mal die Kühe rauslassen, dass ist echt ein Highlight vom Jahr. Das sind zum Teil Tiere mit 800 bis 1000 Kilo. Ja und wenn man dann da so eine riesen Fleckvieh-Kuh wie einen Gummiball über die Wiese hüpfen sieht und sieht, was die für Riesenfreude haben, dass die da jetzt rauskommen und die dann im Stall schon schier durchdrehn, weil die genau wissen: okay, jetzt ist es dann bald so weit. Das ist einfach schön!

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09MAI2024
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Bernd Schwenkschuster Foto: mudmates

Eine Kirche in der keine Gottesdienste gefeiert werden, sondern in der geklettert wird.  Der schwäbische Pfarrer einer methodistischen Gemeinde, Bernd Schwenkschuster, hat vor 10 Jahren mit Mitstreitern dieses besondere Projekt gestartet. Gemeinsam haben sie überlegt, wie man auch die Menschen erreichen könnte, die bisher mit Kirche wenig anfangen können. Schnell war klar: es soll was mit Sport zu tun haben:

Und viele haben gesagt, wir klettern gerne und wir tun gern Kaffeetrinken. Und da haben wir gesagt: Dann lasst uns doch mal eine Konzeption entwickeln für einen Begegnungsraum mit integrierter Kletteranlage.

Aus der Vision wurde Wirklichkeit: Dort wo früher Kanzel und Altar standen, ragen jetzt hohe Kletterwände in die Höhe. Eine Kirche in der geklettert werden kann. Den Begriff Kletterkirche verwendet Bernd Schwenkschuster trotzdem nicht so gerne.

Weil wir bewusst nicht Kirche sein wollen. Also wir wollen mit Menschen unterwegs sein, auch geistliches Leben miteinander leben. Aber die Schwelle in die Kirche zu gehen, ist hoch. Und wir haben gesagt, der Begriff Kirche, wir brauchen den nicht, wir überzeugen durch das, was wir anbieten. Und wir reden von H3. Hochklettern, herunterkommen und Halt finden. Das ist eigentlich das, was wir hier leben wollen.

Eine Besonderheit ist dabei, dass die Anlage für alle offen ist:

Wir sind die einzige Kletterhalle meines Wissens in Deutschland, die keinen Eintritt verlangt. Wir bieten Räume an, wo Menschen miteinander in Kontakt kommen. Und wenn sie dann mehr wissen wollen über uns oder über Gemeindeleben oder über Christsein, dann sind Menschen da, die Auskunft geben können.

Auch Gottesdienste gehören zum Gemeindeleben dazu. Und weil in der Kirche ja alles auf das Klettern ausgerichtet ist, finden die an ungewöhnlichen Orten statt.

Wir sind in Kneipen unterwegs. Wir sind Open Air. Es ist ein bisschen schwierig, uns zu finden. Ja, aber die, die uns finden wollen, finden uns. Wir versuchen sehr viel auf sehr einfachem Niveau zu halten. Also, wenn wir Open Air sind, haben wir einen Lautsprecher, Gitarre und Cajon. Mehr nicht. 

Mich fasziniert die Begeisterung und die Energie, die Bernd Schwenkschuster ausstrahlt und die bestimmt auch zum Gelingen des Projekts beigetragen hat. Ich selbst bin kein guter Kletterer. Und frage mich: Gäbe es in der Gemeinde auch was zu tun für Menschen wie mich, die keine passionierten Kletterer sind?

Wir kriegen alle unter. Ey, jeder ist wahnsinnig begabt. Ich finde es eine riesen Wertschätzung, wenn eine Gemeinde es ermöglicht, dir deine Begabungen so zu mir zu ermöglichen, dass du das einbringen kannst in das Ganze.

Eine Gemeinde, in der es Platz für alle gibt! Bernd Schwenkschuster und sein Team haben dazu noch mehr Ideen. 

Vor 10 Jahren hat Bernd Schwenkschuster zusammen mit einer kleinen Gruppe eine Gemeinde in Metzingen gegründet und aus der Kirche eine Kletterhalle gemacht. H3 – so haben sie sich genannt: Hochklettern, herunterkommen, Halt finden. Das Angebot ist ein voller Erfolg. Aber die Gemeinde hat noch mehr sportlichen Ehrgeiz: 

Was wäre es, wenn wir einmal ein Projekt starten, wo wir mindestens 1000 Leute zusammenbringen?

Die Idee: Ein Hindernislauf im Freien! Querfeld ein und mit viel Spaß – da gab im schwäbischen Raum und darüber hinaus noch kein gutes Angebot.

Und so sind wir 2018 in die Planung gegangen von MudMates. Und es hat uns dann ein bisschen rechts überholt, muss man gestehen. Wir hatten relativ schnell 1600 Anmeldungen der Läufer.

Insgesamt waren dann bei der ersten Auflage von MudMates, was auf deutsch so viel bedeutet wie „Schlamm-Kumpels“, 6000 Teilnehmende und Zuschauer dabei. 10 km Hindernislauf, mit Hindernissen, die nur als Team zu überwinden sind. Überhaupt: Teamwork ist bei dem ganzen Projekt ein wichtiges Stichwort. Denn nur dadurch wird so etwas großes möglich, davon ist Bernd Schwenkschuster überzeugt:

Als Team können wir wahnsinnig viel auf die Beine stellen. Und wenn die richtigen Leute zusammenkommen, dann stellst du die Welt auf den Kopf. Und wenn wir es schaffen, einen Rahmen zu bieten, wo Leute sich mit ihrem Potenzial einbringen können und uns sehen, der Mehrwert für alle ist so enorm, dass ich das als Einzelner gar nicht hinbekommen würde, dann ist meine Erfahrung, dass da Großes dabei entsteht

Was MudMates neben dem großen ehrenamtlichen Engagement auszeichnet: Es gibt keine Siegerehrung:

Jeder ist ein Gewinner. Jeder, der durchkommt, hat gewonnen.

Beim gemeinsamen Überwältigen des Hindernisparcours entsteht eine besondere Gemeinschaft.

Also das, was ich bei MudMates erlebe, ist tatsächlich, dass Menschen kommen, manchmal allein und als Team gehen. Ich kann mich 2019 erinnern, da sind Firmen Teams gekommen und danach hat mir einer gesagt: „Mir hat heute der Geschäftsführer aus dem Dreck geholfen.“

Und das verbindet die Kletterhalle mit dem Hindernislauf: Das Anliegen, Räume zu schaffen, wo sich Menschen begegnen, die sonst nicht aufeinandertreffen und Gemeinschaft entsteht:

Und auf einmal sitzt du an einem Lagerfeuer und rede über Abenteuer des Lebens. Und da sitzt einer, der im Knast war und da sitzt ein Geschäftsführer und da sitzt einer, der so Kleinkunstsachen macht,  das sind so heilige Momente, wo ich heute noch manchmal Gänsehaut kriege, wenn ich daran zurückdenke.

Heilige Momente werden möglich, wenn Himmel und Erde sich berühren. Nicht nur damals, zur Zeit Jesus, sondern auch heute noch ist das möglich davon ist Bernd Schwenkschuster überzeugt. Er meint, dazu muss man es den Jüngern nachmachen. Und das heißt: 

 …mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen und mit dem Kopf trotzdem im Himmel schauen. Und ich glaube, das ist genau das, was das H3 und MudMates versucht. Wir wollen mit beiden Beinen im Leben stehen und trotzdem unseren Kopf ein Stück weit im Himmel haben. Und das ist vielleicht auch das, was MadMud und H3 jetzt mit Himmelfahrt verbindet, weil ich glaube, dass wir da schon etwas von diesem, von diesem Himmel auf Erden hier leben können.

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05MAI2024
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Anna Dushime copyright: Johanna Wittig, rbb

Christopher Hoffmann trifft: Anna Dushime

Am vergangenen Wochenende hat sie den Grimme-Preis verliehen bekommen – für ihre Gesprächsführung in der Talksendung „Der letzte Drink“. Bei der Preisverleihung hat sie ihrem Vater, der vor 30 Jahren im Genozid in Ruanda umgebracht wurde, die Auszeichnung gewidmet.  An ihn gerichtet, sagte sie in die Kameras: „Wir haben überlebt…mit dem Grimme-Preis kannst du jetzt im Himmel angeben.“ „Wir“- das sind ihre Mutter und ihre Schwestern. Fast alle anderen Familienmitglieder sind in dem Völkermord umgebracht worden. Rund 1 Millionen Menschen starben innerhalb von 100 Tagen. Anna Dushime war damals fünf Jahre alt, als sie im „Hôtel de Mille Collines“, das später in dem Film als „Hotel Ruanda“ bekannt geworden ist, Zuflucht fand:

Uns hat das das Leben gerettet, dass wir dahin fliehen konnten. Und das war in der Nähe von der Schule, in der mein Vater unterrichtet hat und wiederum diese Schule war direkt in der Nähe von unserem Haus und als es dann losging sind wir zunächst in die Schule geflohen, da waren natürlich die Familien aus der Nachbarschaft. Da wurde dann mein Vater umgebracht und nach und nach wurden die Männer zuerst umgebracht und da wussten wir, dass wir nicht in Sicherheit sind

Nach Wochen in der Schule suchen Anna Dushime, ihre Mutter und ihre Schwestern deshalb zunächst Obdach im „Hôtel de Mille Collines“ und von dort fliehen sie nach Uganda. Annas jüngste Schwester ist damals ein sechs Monate altes Baby, ihre Mutter trägt es auf der Flucht ins Nachbarland auf dem Rücken.  

Ich glaube es ist unmöglich in Ruanda rein zahlenmäßig jemanden zu treffen, der vom Genozid nicht berührt ist. Entweder hat man wie wir Familienmitglieder verloren oder die Familie war in irgendeiner Form am Genozid beteiligt, manchmal sogar beides –das ist eine sehr schmerzhafte, sehr verwobene Geschichte des Landes, die aber nicht unüblich ist für viele Länder, die kolonialisiert wurden. 

Anna Dushime ist es wichtig zu benennen, dass der Konflikt zwischen den Gruppen der Hutus und Tutsis nicht über Nacht ausgebrochen ist. Volksgruppen wurden jahrelang gegeneinander aufgewiegelt. Es begann nicht mit Taten, sondern erstmal mit Hetze im Alltag. Deshalb findet es Anna Dushime auch enorm wichtig jeder Form von Antisemitismus und Rassismus heute zu begegnen, bevor es zu spät ist.

Man kann sich die Stimmung im April 1994 ungefähr so vorstellen, dass man im Radio täglich zugedröhnt wurde: Dass Tutsis Kakerlaken sind. Im Nachhinein denkt man: Was, das haben die Leute geglaubt? Dass Tutsis irgendwie eine Rippe mehr haben.

Unfassbar und schrecklich. Anna Dushime hat den Genozid überlebt, aber auch in ihrer Seele hat er tiefe Wunden hinterlassen. Bis heute arbeitet sie das, was sie erleben musste, therapeutisch auf. Darüber zu sprechen, sagt sie, ist enorm wichtig. Wie geht es ihr heute damit?

Für mich ist das Ziel Frieden in meinem Herzen und, dass ich diese Bitterkeit und diese Gefühle nicht an mein Kind weitergebe oder an andere Menschen, die nichts dafür können.

Ich treffe Anna Dushime in Berlin-Charlottenburg. Hier lebt und arbeitet sie – als Programmchefin des Satireformats „Browser-Ballett“, als Kolumnistin für die taz und als Moderatorin. Mich hat sie neugierig gemacht, als ich sie in einem Podcast von funk, dem jungen Netzwerk von ARD und ZDF, gehört habe: und zwar über Glauben und Kirche. Die 36-Jährige wünscht sich viele Reformen in der Institution Kirche. Aber sie würde nicht austreten. Weil sie denen den Rücken stärken will, die mit langem Atem für Veränderungen in der Kirche kämpfen. Und weil Kirche für sie, die progressive Journalistin aus der Hauptstadt, auch eine Heimat ist:

Vor allem: ich brauch einfach eine Heimat oder etwas, wo mein Glaube sozusagen verwurzelt sein kann. Dafür muss ich nicht jeden Sonntag gehen, das schaffe ich ehrlich gesagt gar nicht, aber wenn ich geh, gibt mir das immer total viel. Früher war ich auch wie jeder Teenager: „Oh nein, ich will nicht in die Kirche“. Aber jetzt fehlt mir das total, wenn ich das nicht mache.

Nach dem Genozid in Ruanda hat sie schwer mit Gott gehadert. Inzwischen ist Gott für sie ein ganz wichtiger Gesprächspartner im Alltag:

Jeden Tag zu beten oder mit meinem Kind zu beten. Also wenn ich bete, habe ich das auch schon mal erlebt, dass Partner gesagt haben: „Hä? Ich wusste gar nicht, dass du betest, ich dachte du telefonierst oder so“, weil ich rede so ganz normal. Und ich erzähle so von meinem Tag und frage auch um Rat und das ist glaub ich dann so eine väterliche oder mütterliche also eine elterliche Figur ist Gott für mich.

Ganz wichtig ist ihr auch das christliche Menschenbild: Dass der Wert eines Menschen nichts mit seiner Leistung zu tun hat, sondern die Würde aller Menschen wirklich gleich ist:

Mensch ist Mensch! Alle haben irgendwas Interessantes zu erzählen oder irgendwas Besonderes an sich, wirklich jeder Mensch!

Anna Dushime ist das auch deshalb wichtig, weil sie immer noch Alltagsrassismus erlebt – manche Menschen können sich nicht vorstellen, dass eine Schwarze Frau eine Redaktionsleiterin ist oder eine Talkshow im deutschen Fernsehen moderiert:

Weil viele Leute eben Schwarze Frauen meistens nicht dahin verorten, wo ich bin. Und deshalb gehen sie auch nicht so mit mir um. Das kommt dann vielleicht im Gespräch und dann ändert sich das und das finde ich sowieso ganz schlimm. Ich finde, dass man immer mit allen Leuten so höflich umgehen sollte und nicht, weil man denkt die Person könnte vielleicht irgendwie wichtig sein oder so.

Menschen, die sich erst über andere erheben und ihr Verhalten dann ändern, wenn sie einen eigenen Vorteil wittern- geht gar nicht! Deshalb thematisiert sie in ihrer Arbeit Rassismus. Aber eben auch, dass Schwarze Menschen mehr zu bieten haben als dieses Thema.

Viele von den Schwarzen Journalist*innen, die ich kenne, reden sehr oft über Diversität und Rassismus, nicht weil sie Expert*innen darin sind, sondern weil sie oft dazu gemacht werden - oft werden uns diese Themen zugeschoben- und ich will damit nur sagen, dass wir auch noch mehr Themen anzubieten haben:  über Finanzen, über Start-ups, über Feminismus, …

Und deshalb hoffe ich sehr, dass auf die Grimme-Preis-prämierte Folge von „Der letzte Drink“ noch viele Getränke und Gespräche mit Anna Dushime folgen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39864
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28APR2024
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Andrea Müller Foto: Hansjörg Fuchs

Martina Steinbrecher trifft Pfarrerin Andrea Müller bei der Evangelischen Landeskirche in Baden zuständig für den Bereich Mitgliederorientierung.

Andrea Müller hat ihren Job als Pfarrerin in einer pfälzischen Gemeinde an den Nagel gehängt, um sich verstärkt den vielen Kirchenmitgliedern zu widmen, die vor Ort nicht erreicht werden. Beim Evangelischen Oberkirchenrat in Karlsruhe entwickelt sie nun Ideen und Projekte für eine gezielte Mitgliederorientierung.

Es ist ja so, dass viele Menschen kommen. Aber die, die kommen, sind ja nicht die hundert Prozent unserer Kirchenmitglieder, sondern das sind oft zehn, zwanzig Prozent, die wir im Blick haben und für die wir auch Angebote machen, die die dann auch gerne beanspruchen. Aber zu den 80% haben wir ganz wenig Kontakt und dadurch haben wir die auch wenig im Blick und können sie auch nicht so gut fragen, was wollt ihr eigentlich?

Für die Kirche und ihre Amtsträger geht es dabei ans Eingemachte, nämlich um einen echten Perspektivwechsel: Die gelernte Sesshaftigkeit und Selbstverständlichkeit aufgeben. Hinaus auf den Markt der Möglichkeiten und hinein in den Wettbewerb um das, was Menschen Halt und Sinn geben kann. 

Ich glaube, der Punkt ist vielleicht, dass wir Amtskirche waren, eine Institution, wo die Menschen hingegangen sind. Und heute hat sich die Gesellschaft so geändert, dass man auch super ohne Kirche leben kann. Und man kann woanders auch Gemeinschaft finden und auch spirituelle Erfahrungen anderswo machen. Und da ist es jetzt unsere Aufgabe geworden, auch zu werben, auf die Leute zuzugehen und zu sagen, wir haben immer noch eine gute Botschaft. Aber wir müssen eben eine Sprache finden und Formen finden, wo wir wirklich einladend sind.  

Stichwort Einladung: Das erste Projekt, das Andrea Müller entwickelt hat, setzt genau hier an: Jemand ist umgezogen, muss sich neu orientieren. Wo gibt es den Bäcker mit den leckersten Brötchen? Wie finde ich eine neue Zahnärztin? Und obwohl die Kirche nach wie vor oft unübersehbar in der Ortsmitte steht, ist noch lange nicht gesagt, dass das neu zugezogene Gemeindeglied auch den Weg in den Gottesdienst findet … 

Das Projekt, das heißt Brot und Salz. Dazu haben wir einen Brotbeutel entwickelt. Da kann man dann hinterher auch sein Brot gut verstauen. Es ist ein schöner Baumwollsack. Eine Karte dazu, da ist auch ein kleines Salztütchen aufgeklebt. Und auf dieser Karte sind eben die Kontaktadressen der Kirchengemeinden.

Die Brot-und-Salz-Aktion kommt gut an. Bei den Gemeinden vor Ort, die die ansprechend gestalteten Materialien bei Andrea Müller einfach bestellen können. Bei den Ehrenamtlichen, denen es Spaß macht, den schönen Willkommensgruß unter die Leute zu bringen. Und sie kommt an bei den Zugezogenen, die von dieser Form der Willkommenskultur oft freudig überrascht werden. Schließlich bietet die Aktion auch noch Anknüpfungspunkte für Quartiersarbeit. Denn neben Brotbeutel und Salz enthält das Päckchen auch noch einen Gutschein:

Ein Gutschein für ein Brot beim Bäcker vor Ort. Da suchen die Gemeinden Kooperationspartner, wo das Brot abgeholt werden kann. Und der Bäcker stellt es dann entweder der Kirchengemeinde in Rechnung, oder viele sagen auch: Das ist für uns eine absolute Win-win-Situation: Sie machen Werbung für uns, und wir geben gerne das Brot.

Brot und Salz als Willkommensgruß. Und wer mag, nimmt die Einladung an, mit der Gemeinde vor Ort zu entdecken, dass der Mensch eben nicht vom Brot allein lebt.

Pfarrerin Andrea Müller ist zuständig für die Mitgliederorientierung der Badischen Landeskirche. In ihrer Arbeitsstelle in Karlsruhe entwickelt sie Ideen und Materialien, um vor allem mit den passiven Kirchenmitgliedern in Kontakt zu kommen. Zum Beispiel die Kirchenpost.

Die Kirchenpost, das sind bunte selfmailer, also bunte Briefe, mit denen wir Jugendliche und junge Erwachsene einmal im Jahr kontaktieren wollen. Die sind zwischen zwölf und 30 Jahre alt. Diese Altersgruppe, die ist für uns als Kirche natürlich ganz wichtig. Das ist unser Nachwuchs.

Im Austausch mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat Andrea Müller versucht herauszufinden, welche Themen in welchem Alter interessant sein könnten:

Zum Beispiel mit 19 ist ja so die Frage, wie treffe ich eigentlich Entscheidungen? Was will ich nach der Schule machen? Oder fühle ich mich wohl in meiner Ausbildung und plane vielleicht was ganz anderes. Und wo haben wir als Kirche Ansprechpartner, wo man sich auch hinwenden kann? Oder wo gibt es Informationen, die hilfreich sein könnten in so einer Frage.

Aber nicht nur in inhaltlichen Fragen wirken die Vertreter der angepeilten Zielgruppen mit. Auch was das Layout für die geplante Kirchenpost anbelangt, hat ihr Urteil Gewicht: 

Und die sagen dann, ob ihnen erst mal das Design gefällt und die Ästhetik, ob sie es überhaupt öffnen würden, wenn da plötzlich so ein Brief vor ihnen liegt oder ob die sagen: Ne, das geht direkt in den Papierkorb. Und dann ist da die Frage, lest ihr das oder ist es zu viel Text? Und das ist wirklich überraschend, wie wenig Text oft schon zu viel ist.

Weniger textlastig, mehr mitgliederorientiert möchte die Kirche in Zukunft werden. Und das große Potenzial ihrer passiven Mitglieder heben.

Wenn wir uns trauen, unsere Formen zu öffnen, aus den Kirchen rauszugehen und mit den Menschen Kirche zu gestalten, dann kommt da was ins Fließen und Ins Sich-Entwickeln. Und dann kann Neues entstehen.

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21APR2024
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Tobias Breer, Marathonpater copyright: Tobias Breer

Caroline Haro-Gnändinger trifft Pater Tobias Breer, Marathonläufer und Seelsorger

 

Und mit dem sportbegeisterten Ordensmann Tobias Breer. Ich spreche mit ihm, weil er dieses Jahr bei einem Marathon in der Antarktis mitgemacht hat, als einziger Deutscher. Das heißt: Viele Kilometer und das bei großer Kälte. Er ist auf einer der südlichen Shetlandinseln gelaufen und wegen Unwettern sogar nachts:

Wir hatten -18 Grad gehabt. Das war jetzt nicht so dramatisch. Wir haben natürlich Mundschutz gehabt, sodass die kalte Luft nicht direkt in die Lunge kommt, und, ja gut, der ganze Bart war alles voll mit Eis und so weiter.

Der Bart voll mit Eis – da friert‘s mich schon beim Zuhören. Es haben Leute aus der ganzen Welt mitgemacht. Am Ende hat Tobias Breer einen Halbmarathon geschafft, also etwa 21 Kilometer, in weniger als drei Stunden. Einer der ersten Plätze ist es nicht, aber für ihn zählt, dass er es überhaupt durchgezogen hat. Gequält haben ihn dabei leider Knieschmerzen:

Dann war es eigentlich die letzten Kilometer nicht mehr so eine große Freude zu laufen, sondern ich musste da schon sehr kämpfen. Also, ich musste mich dann selber wieder überreden: Komm, du musst weitermachen, weitermachen. Dann ruft man sich die Bilder vor, dass man dann die Medaille bekommt und wofür ich eigentlich laufe - für die Kinder und für die bedürftigen Kinder. Und wenn man die strahlenden Kinderaugen sieht.

Denn Tobias Breer läuft fast immer für einen guten Zweck. In der Antarktis hat er mehr als 20.000 Euro zusammen bekommen und eine Förderschule konnte damit Sport-Rollstühle für die Schülerinnen und Schüler kaufen. Schon viele solcher Spendenläufe hat er hinter sich: fast 200 Marathons und etliche Halbmarathons. Trotzdem bleibt Kinderarmut ein strukturelles Problem, das sieht er auch. Er will aber in kleinen Schritten etwas verbessern und behält einen langen Atem.

Ich kann nicht die Welt retten letztendlich. Aber wo ich helfen kann, das tut meiner Seele besonders gut. Für mich ist es einfach gut, für die Seele, für den Geist, für den Körper und dass ich dann, wenn ich laufe, meine Sponsoren habe, die dann ein neues Projekt, Kinderprojekt, mit unterstützen oder mitfinanzieren.

Damit ermöglicht er Kindern aus ärmeren Familien, Sport im Verein zu machen, Fußball oder Schwimmen zum Beispiel. Oder dass Kinder mit Behinderung ein Therapiepferd bekommen oder Kinder in der Ukraine in Schutzzentren Spielräume. Das finde ich toll! Er verknüpft also konkrete Nächstenliebe mit seinem Hobby. Er läuft immer wieder los, weil er weiß, wofür.

Da habe ich immer diese gelben kleinen Aufkleber, mit einem kurzen Satz oder nur drei, vier oder vier Wörter ist vielleicht noch besser. Und die klebe ich immer bei mir im Badezimmer, wo ich dann morgens und abends reinschaue. Das heißt, ich werde immer wieder an diese Ziele erinnert.

Und das Laufen selbst spornt ihn natürlich auch an. Deshalb schnürt er seit fast 20 Jahren seine Sportschuhe.

Laufen ist für mich mehr als Sport, pure Leidenschaft, pure Meditation, etwas, das Körper, Seele und Geist immer wieder in Einklang bringt.

Das kann ich nachvollziehen, mir geht es zum Beispiel bei längeren Fahrradtouren so. Es fühlt sich gut an, sich zu bewegen, draußen zu sein und neue Gegenden zu entdecken. Und manchmal bringt mich das in Gedanken auch zu Gott. Pater Tobias Breer hat als Seelsorger übrigens viele unterschiedliche Aufgaben und ihm hilft, dass jeder Tag mit Ruhe anfängt.

Der Tag beginnt morgens bei mir immer mit einer persönlichen Meditation. Also ich kann auch ruhig sitzen. Es ist nicht so, dass ich immer in Bewegung bin.

Danach betet er gemeinsam mit den anderen Ordensleuten. 19 Mönche im Orden der sogenannten Prämonstratenser leben zusammen in der Abtei in Duisburg – er mag die Gemeinschaft:

Ich habe noch sechs Geschwister damals zu Hause war schon eine große Familie und ich muss da Menschen um mich haben und bin auch ganz gerne aber alleine. Ich laufe auch gerne alleine, aber dann bin ich auch froh, wenn ich mal wieder nach Hause komme und da sitzt der eine oder andere Pater noch im Wohnzimmer oder wie auch immer und kann mit ihm noch sprechen.

In seinem Büro, wo er Trauergespräche führt oder Gottesdienste vorbereitet, hängen an der Wand Medaillen und Urkunden. Mehrere Schuhe stehen bereit und am Kleiderständer hängen Laufshirts.  Er nennt es auch sein kleines Sportstudio. Fast jeden Tag startet er von dort aus eine kleine Runde:

Ich ziehe gerne farbenfrohe Kleidung an und dann gehe ich vor die Tür und schalte meine Uhr ein auf GPS und dann starte ich und dann laufe ich. Ich weiß: Heute muss ich zum Beispiel zehn Kilometer laufen. Es geht an einem Kanal vorbei, in Oberhausen. So eine wunderschöne Strecke. Und jetzt gerade, wo der Frühling beginnt, genieße ich natürlich die ersten warmen Sonnenstrahlen.

Er ist schon viele Marathons, Ultra- und Halbmarathons gelaufen, zum Beispiel in Oman in der Wüste und in Großstädten wie Paris und Tokio. Dabei sammelt er Spenden für Kinder in Togo oder in Syrien oder bei sich in der Umgebung. Durchs Laufen Not zu lindern, bedeutet ihm nämlich auch, als Christ zu handeln. Und es verbindet ihn manchmal mit Gott. Mal kommen ihm Ideen für die nächste Predigt, mal staunt er über die Natur.

Es war ein wunderschöner Lauf an der Wupper entlang und ich sah dann die ersten Tiere, Kälber, auf der Wiese. Und das berührt mein Herz, weil hier in der Stadt in Duisburg sieht man diese Tiere kaum und das ist einfach ein tolles Gefühl. Und das ist auch eine Begegnung mit Gott letztendlich, weil Gott hat alles erschaffen.

Dem Schöpfer in all seinen Geschöpfen begegnen – für Tobias Breer eine Art, Gott dankbar und nahe zu sein. Einmal wollten Jugendliche vor ihrer Firmung mit ihm das Laufen starten – und zwar direkt nach dem Gottesdienst. Für Pater Tobias Breer auch Seelsorge:

Gemeinsam unterwegs zu sein, nicht in einem Raum zu sitzen, in einem Kreis, wo dann mittendrin irgendwo eine Kerze steht und eine Blume, wie man es kennt. Das ist auch sehr schön und mag ich auch sehr gerne, aber nicht so oft, sondern ich bin immer draußen unterwegs. Da sehe ich auch ganz viele Blumen. Und während des Laufens kommen halt diese tollen Gespräche dann auch zusammen.

Gespräche über Gott und die Welt und das, was junge Menschen bewegt. Läuft also bei Pater Tobias Breer! Und auch mich spornt die Begegnung an, beweglich zu bleiben, sportlich und im Glauben.

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14APR2024
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Seit 20 Jahren ist Gabi Sauer die Mesnerin der evangelischen Veitskirche in Nehren, einem Dorf bei Tübingen. In anderen Gegenden würde man sagen: Sie ist Kirchendienerin oder Küsterin. Ich würde sagen: Sie ist die gute Seele ihres Kirchleins mit dem markanten Fachwerkturm, sie für frische Blumen auf dem Altar sorgt, die die Glocken läutet und sich darum kümmert, dass sich bei einem Hochzeitsgottesdienst alle wohl fühlen. Nur durch einen Zufall hatte sie damals erfahren, dass händeringend jemand für die Betreuung des Kirchengebäudes und der Gottesdienste gesucht wurde.

Wir sind (...) in die Kirche. Da stand der Pfarrer da. Und er hat mir leid getan: Wenn Sie jemand wissen, der jemand weiß, der jemanden kennt, der gerne Mesner werden würde, dann schicken Sie den doch bitte zu mir.

Ein, zwei Wochen hat Gabi Sauer das in sich gären lassen. Und ist dann zum Pfarrer hin und hat gemeint: 

Also ich weiß jemand, aber das Problem ist, Sie sehen es. Ich bin schwanger und - katholisch bin ich auch. Und Sie sind ja evangelischer Pfarrer.

Der stellte aber sofort klar, dass beides kein Hinderungsgrund war, Gabi Sauer als Mesnerin für die evangelische Kirche anzustellen.

Das ist kein Problem. Das eine vergeht und das andere ist kein Problem.

Seither, also seither sicher über 1000 Mal, beginnt Gabi Sauer den Sonntagmorgen erst einmal mit einer Tasse Kaffee und etwas Ruhe:

Bei einem normalen Gottesdienst ohne Taufe, ohne irgendwas mache ich mich um viertel nach neun auf den Weg zur Kirche. Ich schließ die Kirche auf, mach die Lichter an, zünde die Kerzen an, begrüß den Pfarrer meistens, die Organistin. Die Glocken läuten. Die Gottesdienstbesucher kommen und ich freue mich über jeden, der kommt. Man darf jeden herzlich willkommen heißen. Wir feiern Gottesdienst. Anschließend das Ganze wieder rückwärts, Kerzen aus: Türen zu und der Rest wird am Montag dann erledigt oder am Dienstag... (lacht)

Die 46-Jährige liebt das, was sie tut. Das spürt man. Deshalb ist sie auch „die Mesnerin der Kirch‘“ außerhalb der Gottesdienste.

Ich schließ‘ mich beim Putzen nicht ein. Meine Kirche ist immer wagenweit offen, wenn ich am Putzen bin. Und dann kann man auch mal kommen. Und wenn man dann ins Gespräch kommt, dann kommt da manchmal... ja, die Nöte, die Sorgen der Menschen zur Sprache.

Gabi Sauer ist „die“ Mesnerin ihrer Kirche. Und wenn die Leute zum Gottesdienst kommen, dann kommen sie manchmal eher zu ihr als zum Pfarrer. Als Hausfrau und als Mutter zweier Kinder ist sie außerdem im Sportverein mit dabei. Mit einem Wort, sie ist bekannt und fester Bestandteil eines Dorflebens, wie man es sich vorstellt.

Das Dorfleben hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Und Gabi Sauer erlebt auch die wachsenden Vorbehalte gegenüber Kirche und Glaube, wenn andere erfahren, was sie nebenberuflich macht:

Wie? Du schaffst bei der Kirch‘? Bist du so gläubig? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Dann sag ich: Also die Bibel, die kann ich nicht auswendig. Aber deswegen kann man trotzdem bei der Kirch‘ schaffen und den Mesnerdienst verrichten.

Mittlerweile ist Gabi Sauer auch als evangelische Kirchengemeinderätin engagiert. Und auch hier erlebt sie live mit, wie stark sich das kirchliche Leben verändert hat und welche Konsequenzen das für sie und den Dienst ihrer Mesner-Kolleginnen und -Kollegen haben könnte.

Ich befürchte, dass es irgendwann das als Bezahltes nicht mehr gibt -  dass man das versucht mit Ehrenamtlichen. Und wenn man jetzt sieht, wie viele Pfarrstellen gestrichen werden, wie viele Gemeinden zusammengelegt werden. Ich weiß es nicht. Ich bin irgendwie skeptisch, wie lange es uns überhaupt noch gibt.

Aber noch gibt es sie, die Mesnerinnen und Mesner, die liebevoll ihre Kirchengebäude betreuen und die Menschen, die hierherkommen, gleich mit. Und – Mesnerinnen und Mesner werden weiterhin händeringend gesucht! Gabi Sauer kann ihren Beruf jedenfalls nur wärmsten weiterempfehlen, auch die Gottesdienste jeden Sonntagmorgen:

Das ist eine wunderschöne Zeit. Das ist für mich nicht arbeiten, sondern fast wie Urlaub. Es tut einfach gut. Ich höre nicht immer der Predigt zu, muss ich ganz ehrlich gestehen. (…) Aber es tut einfach der Seele gut, mal nichts zu hören, (...) die gelernten Lieder einfach zu singen und nichts zu denken und nix tun zu müssen.

In ihrer Kirche erlebt Gabi Sauer gelebte Verbundenheit. Und mir wird klar, wie viel sie selbst entscheidend dazu beiträgt, als sie mir folgende kleine Anekdote erzählt von einer Frau, die sich bei ihr entschuldigt hat, weil sie einmal sonntags nicht in die Kirche kommen konnte. Die alte Dame sagte damals zu ihr:

Ich konnte nicht in den Gottesdienst kommen. Weißt, ich musste Kartoffelsalat mache. Beim Gesangverein habet mer Hockete. Die kann ich die doch nicht im Stich lassen. Aber ich konnte zu dir nicht in die Kirche komme.(lacht)

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07APR2024
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Dr. Peter Kottlorz Copyrigt: Privatfoto

Ein runder Geburtstag: 100 Jahre Kirche im Radio. An Karfreitag 1924 lief die allererste kirchliche Radiosendung. Grund genug mit einem zu sprechen, der fast ein Drittel dieser Zeit selbst Verkündigung im Radio, im SWR gemacht hat. Dr. Peter Kottlorz war bis zu seinem Ruhestand Leiter der Katholischen Rundfunkarbeit am SWR. Die Rundfunkarbeit macht die religiösen Sendungen, wie hier auf SWR1 die Anstöße oder 3vor8 oder diese Begegnungen. Das gibt es natürlich auch auf allen anderen SWR-Wellen.
Peter Kottlorz ist seit zwei Jahren im Ruhestand und seitdem nicht mehr auf Sendung. Umso größer ist die Freude, dass wir beide jetzt diese Begegnung zusammen gestalten, wir haben nämlich auch mal zusammengearbeitet. Jetzt sitzt er wieder in seinem „Heimatstudio“ beim SWR in Tübingen und ich will gerne von ihm wissen, worum es Radioverkündigung grundsätzlich geht.

 

Den Menschen gut zu tun. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und das kann man, indem man mit diesen täglichen Sendungen, die auch eine Alltagsstabilisierung für Menschen bieten, Trost, Hoffnung und Lebensorientierung vermittelt.
Wenn ich merke, dass ein Mensch über etwas spricht, das er selbst erlebt hat und jetzt natürlich aus dem Glaubensbereich, aber nicht nur. Es ist gut, wenn die Menschen, die aus der Religion heraus sprechen auch immer aus dem Leben heraus und nicht eben aus einer anderen Dimension sprechen. Also, dass Sie das selbst erlebt haben, mindestens gefühlt oder mitgefühlt haben, das spürt man, das hört man. Und dann geht die Botschaft bestenfalls wirklich von Herz zu Herz.

Dabei ist ihm das Thema Augenhöhe zwischen Sprechenden und Hörenden ganz wichtig.

Und deswegen war mir war mir Glaubwürdigkeit wichtig und ich wollte auf gar keinen Fall irgendwie über irgendwelche Köpfe hinweg predigen. Ich war auch Zeit meines Berufslebens nie auf einer Kanzel. Allein die Position ist für mich ein No Go, weil ich da über den Menschen stehe und das ist nicht mein Ort.

Mehr als 30 Jahre lang hat Peter Kottlorz Menschen über das Radio seinen Glauben, seine Erfahrungen und sein Leben angeboten. Er wird dann auch ganz persönlich, wenn er erzählt, was für ihn religiöse Sendungen im Radio bedeuten:

Hörbares und damit spürbares Wohlwollen für die Menschen. Also, es ist für mich eine Form, meine Liebe zu den Menschen auszudrücken und zwar auf Augenhöhe. Das ist auch das einzige, was mir bisher in den zwei Jahren, seit ich das nicht mehr mache, fehlt. Das habe ich so gern gemacht und da muss ich jetzt eben andere Formen finden, meine Liebe zu den Menschen auszudrücken.

Worum es in Peter Kottlorz allererstem Radiobeitrag ging und wie viel Gott so eine religiöse Sendung braucht, das hören Sie nach der Musik.

… und mit Peter Kottlorz. Er ist Doktor der Theologie und mehr als 30 Jahre lang hat er christliche Verkündigung im Radio gemacht. Und war Leiter der Kath. Rundfunkarbeit am SWR. Seit zwei Jahren ist er im Ruhestand. Kann er sich noch an seinen allerersten Beitrag erinnern?

Ja, das war auch mein Letzter. Und zwar hieß der „This day is the first day of the rest of your life“. Das ist ein Kalenderspruch. Ein klassischer geradezu, der mir aber damals wie auch vor zwei Jahren, als ich meinen letzten Beitrag gemacht hab, sehr gut gefallen hat. Und weil ich das auch lebe. Und zwar geht es darum, dass man das Leben als Geschenk sieht. Und dass man es nicht nur deshalb auch bewusst lebt, so bewusst wie eben möglich. Und das habe ich also in meiner ersten SWF 3 Randnotiz als Beitrag gehabt und in meinem letzten SWR 3 Gedanken auch.

Für Peter Kottlorz und für mich war und ist es nicht immer leicht für die katholische Kirche zu arbeiten. Mit der Institution hadern wir immer wieder. Aber wir haben eine großartige Botschaft. Für mich ist die: Du bist grundsätzlich gut und von Gott geliebt. Und für die lohnt es sich, jeden Tag zu arbeiten und sie auch über das Radio zu erzählen. Dabei ist für uns alle in der Verkündigung das Wort Angebot wichtig:

Ja, ich teile Leben mit. Ich lege es auf ein Silbertablett wie einen blank geputzten, appetitlichen Apfel, und die Menschen können den sehen, vielleicht sogar schon riechen, oder er gefällt ihnen und sie können ihn nehmen oder auch liegen lassen.

Was würde fehlen, wenn es solche christlichen Sendungen wie diese hier nicht gäbe?


Es geht darum, dass in dem Konzert der gesellschaftlichen Meinungen auch diese eine Meinung möglich ist. Eine Meinung aus christlicher Perspektive und das würde fehlen, wenn es das nicht gäbe.
Es geht bei unseren Beiträgen um die Horizontale und um die Vertikale. Horizontale heißt um Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit. Und die Konflikte, die damit verbunden sind. Und es geht um die Vertikale. Und es geht um Spiritualität, es geht um die Frage nach Gott und es geht immer um die Knotenpunkte des Lebens: Geburt
, Krankheit, Tod, Sterben, Freude, Heirat, Liebe.

Peter Kottlorz spricht von unserem Job als wunderbare Brücke zwischen Gesellschaft und Kirche. Das hat er immer wieder erlebt, wenn ihn z.B. Menschen angesprochen haben, weil sie ihn an seiner Stimme erkannt haben.

Wie ist das denn mit Gott in der Radioverkündigung? Um den geht es ja. Wie viel Gott verträgt ein Beitrag? Für Peter Kottlorz muss Gott nicht direkt genannt sein. Er benutzt ein Bild und spricht von…

Einer Jalousie. An einem strahlenden Sommertag kann man, wenn es richtig grell ist, die Sonne durch ein großes Fenster scheinen lassen. Das ist dann aber fast zu grell oder man kann die Jalousie auf so halb klappen und wo das Licht dann ganz sanft durchstrahlt. Das ist für mich das schönste Licht und es ist für mich auch so ein Bild, wie man vielleicht dieses unbeschreibliche Wesen, Gott durchscheinen lassen könnte.

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01APR2024
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Désirée Binder

Wolf-Dieter Steinmann trifft Désirée Binder, psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin aus Freiburg

Ostern ist existentiell

Im Auto nach Freiburg zu Désirée Binder bin ich in ne schwarze Wolkenwand geraten und hab gedacht: „Wie das Leben: Es wird nicht heller, wenn man älter wird, und unsere Welt, oje.“ Nach der Begegnung war ich heller: Die Räume, in denen die Psychologin mir begegnet ist. Und: Désirée Binder hat mir Ostern in die Seele erzählt, wie gut es tut.

Wenn so aus den Zweigen das erste Grün springt, dann springt mein Herz. Ich hab Ostern sehr, sehr gern.

Dabei kann man Ostern nicht ohne Karfreitag haben. Früher hat sie damit gehadert: warum immer Kreuz? Inzwischen macht genau das für sie Ostern lebensnah: Jesus ist auch dort gewesen, wo wir alle hingehen. Tot. Und er ist da durch. Das lässt hoffen.

Dass G_tt aus dem, was wir uns am wenigsten wünschen. Krankheit, Gewalt. Tod; dass G_tt aus diesem Schlimmen was Gutes wachsen lassen kann. Und dass es dann nichts mehr gibt, das in unserem Leben verloren ist. Eine Freundin, die hat über ihre tiefste Lebenskrise mal gesagt: ‚das wollte ich nie noch mal erleben müssen, aber ich wollte es auch nicht missen.‘

Ostern, also dass Jesus neu lebendig ist, wirkt weit über die Feiertage hinaus. Sie erlebt das auch in der Arbeit als psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin. Oft kommen Menschen zu ihr, die feststecken.

Wenn es dann gelingt, wieder dort anzuknüpfen, wo Menschen stark sind, wo sie ihre Lebendigkeit spüren, vielleicht auch im Ärger, auch im Widerstand gegen ne Situation, die ihnen zu schaffen macht und dann Vertrauen finden, es gibt da vielleicht einen Weg, dann ist es so ein bisschen was wie ne Ostererfahrung.

Was hilft, aufzustehen in Krisen und durch Täler zu kommen? Désirée Binder setzt darauf: tiefe menschliche Begegnungen wirken heilsam. Darum: bitte pflegen.

Ich glaube, wir müssen in Zeiten, in denen wir nicht im Tief sind, anfangen, uns einfach zu gönnen, ein Stück Leben zu teilen. Das kann helfen, in Situationen, in denen wir wirklich jemanden brauchen, darauf zurückzugreifen und zu sagen, da war doch mal jemand.

Die Erfahrung, ich bin nicht allein, die macht jede Situation weniger ausweglos.

Das geht auch per Telefon: Wenn Seelen sich einander öffnen und heilsam zusammen schwingen. Manchmal wird dabei auch klar, es ist jetzt dran, was aufzugeben. Sie nennt das ‚heilsam kapitulieren.‘ - Wenn ich endlich aufgeben kann, einen vertrauten Irrweg immer zu wiederholen. Dann kann Neues wachsen.

Es ist immer schön, wenn jemand sich einladen lässt, das Selbstbild mal upzudaten, zu sagen, ‚eigentlich bin ich da schon ein paar Schritte weiter, ich hab es nur noch nicht gemerkt.‘

Für Désirée Binder durchzieht Ostern das ganze Leben. Dabei ist manchmal auch ein „unbekannter“ Dritter im Spiel.

 

Désirée Binder mag Ostern. Erstaunlich. Hat sie doch schon früh wichtige Menschen verloren. Mutter, Großeltern. Das hat ihr Leben tief erschüttert. Und doch dieses Vertrauen in sie gelegt: Am Ende ist Licht. Anderen geht das ähnlich.

Ein Freund von uns, der hat es beim Verlust seiner Frau mal so ausgedrückt. ‚Ich bin zugrunde gegangen. Und an den Grund gekommen, der mein Leben trägt.‘
Den er Gott nennt. 
Und es war so, dass ich diesen Urgrund auch gespürt hab. Jetzt könnte passieren, was will, mich würde nichts mehr so tief erschüttern.

Dazu passt eine ihrer Lieblingsostergeschichten aus der Bibel: von zwei Freunden Jesu. Nach seinem Tod sind sie erschüttert, bodenlos. Sie fliehen aus Jerusalem. Auf einmal geht einer mit ihnen: ein „unerkannter“ Bekannter.

Sie erkennen ihn nicht. Und das Großartigste ist, dass sie ihn erkennen, als er mit ihnen isst. Das gemeinsame Essen. Das Brot teilen. An diesem Vorgang erkennen sie ihn.

Schon in der Bibel wird also erzählt: G_TT ist nicht einfach unübersehbar da. Man kann G_TT nicht ‚haben‘. G_TT erscheint eher für Menschen und dann können Gebeugte aufstehen. Désirée Binder glaubt an G_TT als ein großes Du.

Wenn ich dieses große Du anspreche. Dass das nicht ohne Resonanz bleibt. Dass es irgendwas gibt, was mich nicht als die gleiche zurücklässt. Ich ahne mehr, als ich weiß.

Das genügt. Dass man Gott nicht sicher weiß, sondern glaubt und hofft, ist kein Mangel. Es gibt „Sachen“ mit Geheimnis: Wie den Tod.
Aber ich finde, sie hat da eine schöne Hoffnung.

Ich habe so das Bild, dass Christus den Weg vorausgegangen ist und an dem anderen Ufer sozusagen wartet. Und dann die Hand, die ich loslasse, ablöst und mir ne Hand gibt und mich rüber holt.

Ich glaube, hoffen macht frei. Heute z.B., wenn man schön feiert. Für Désirée Binder gehört dazu: Die Auferstehungsfeier morgens um sechs.

Einander zurufen: ‚Christus ist auferstanden‘. Ein Osterfrühstück. Und was für uns unbedingt dazu gehört, ist, dann rauszugehen, uns Ostergeschichten zu erzählen, zu lachen.

Vielleicht überrascht es Sie, aber als sie das gesagt hat, hab ich an Alexej Nawalny gedacht. Wie er vor seinen Richtern steht, aufrecht, mit Humor. Trotzt der Gewalt und irgendwie auch dem Tod. Désirée Binder bestätigt, Ostern ist auch politisch existentiell.

Uneingeschränkt Partei ergreifen für die Menschenwürde und das Lebensrecht aller Beteiligten. Und ich hoffe, dass Gott nen Weg für uns hat.
Und so kleine Osterzeichen sind für mich wirklich so Friedensinitiativen.

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