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Heute, am 4. Januar, ist Internationaler Welt-Braille-Tag. Da wurde nämlich in Frankreich Louis Braille geboren. Vor 200 Jahren hat er im Alter von gerade mal 16 die Braille-Blindenschrift erfunden. Es hat bis nach seinem Tod gedauert, bis die sich flächendeckend durchgesetzt hat. Aber bis heute ist sie von entscheidender Bedeutung für blinde und sehbehinderte Menschen, auch im Computerzeitalter noch.
Mich persönlich fasziniert an dieser Erfindung schon immer ein bestimmtes Detail: Als Braille drei Jahre alt gewesen ist, da hat er durch einen schrecklichen Unfall sein Augenlicht verloren – durch eine Ahle, ein spitzes Werkzeug zur Bearbeitung von Leder. Das war in der Schusterwerkstatt seines Vaters. Und genau in dieser Werkstatt hat Braille dann später seine Blindenschrift entworfen – ausgerechnet mit der spitzen Ahle. Mit diesem schicksalsträchtigen Gegenstand hat er Vertiefungen in Leder gedrückt und dabei ein bereits bekanntes System aus Punkten entscheidend weiterentwickelt. In ein- und demselben Instrument lag also beides beieinander, dramatisches Unglück und zukunftsweisender Erfolg.
Ich denke da an eine geheimnisvolle Geschichte aus der Bibel [4. Mose 21,4-9], in der es ganz ähnlich ist. Da wird erzählt, wie die Menschen in der Wüste von giftigen Schlangen bedroht werden. Sie bitten Gott um Rettung. Und diese Rettung kommt ausgerechnet in Gestalt einer großen Schlange. Die ist aus Metall und wird an einer Stange in die Luft gehalten. Wer die Schlange anschaut, dem hilft sie, die tödlichen Schlangenbisse zu überstehen. Unglück und Schutz – im Symbol der Schlange steckt beides zugleich.
Die Geschichte von der rettenden Schlange und Louis Brailles bahnbrechende Erfindung ausgerechnet mit Hilfe der Schusterahle – beides ermutigt mich. Ich will – wenn möglich – Schweres in meinem Leben nicht einfach nur verdrängen und weitermachen wie bisher. Sondern auch in Krisen fragen, was daran mich weiterbringen könnte. Wo Gott mir durch das Schwere hindurch neue Möglichkeiten schenkt. Vielleicht ist das ja auch jetzt, am 4. Januar, noch so was wie ein Vorsatz fürs neue Jahr.
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Wenn ich mit anderen Menschen zu tun habe, mache ich mir alle möglichen Gedanken. Vor allem, wenn ich sie noch nicht so richtig gut kenne. Was denken die wohl über mich? Und wie wirke ich auf sie? Wie verhalte ich mich am besten? Von manchen Kleinigkeiten dachte ich bisher immer: Darauf achtet sonst niemand – so schräg drauf bin nur ich.
Aber dann war ich bei einer Fortbildung – zusammen mit einigen Leuten, die ich noch nicht kannte. Immer wieder haben wir uns länger getroffen, fünf Wochen waren wir insgesamt zusammen. Und gleich am ersten Tag haben wir uns gegenseitig berichtet, wie wir das allererste Kennenlernen beim Ankommen in der Gruppe erlebt haben, wie es uns da ergangen ist.
Die Erste: „Ich bin ganz bewusst erst mal im Hintergrund geblieben und habe euch alle beobachtet.“ – Der Zweite: „Mir war es wichtig, nicht so viel reden zu müssen, deshalb bin ich extra später gekommen und habe mir gleich was zu essen genommen.“ – Und dann noch: „Du, deine souveräne Art mit den anderen hat mich erst mal total eingeschüchtert.“ Es ging ziemlich schnell sehr ehrlich zur Sache in unserer Runde. Das war erst mal ungewohnt, hat mich Überwindung gekostet. Aber je länger der Austausch lief, desto deutlicher ist mir geworden: Wir Menschen sitzen alle im selben Boot. Wir bringen alle unsere persönlichen Vorerfahrungen mit – und darauf ist dann auch unser Verhalten in einer Gruppe genauestens abgestimmt. Mehr noch: Jede Gruppe verhandelt vom ersten Moment an bestimmte Grundsatzfragen. Wer wie eng dazugehört und wer nicht, zum Beispiel. Oder wer das Sagen hat. Völlig egal, ob die Gruppenmitglieder das überhaupt wollen und wissen oder nicht.
Und irgendwie finde ich es auch tröstlich: Niemand von uns geht völlig unberührt und neutral durch die Welt. Wir sind alle in Kontakt miteinander, und das beeinflusst uns. Vielleicht macht uns das erst so richtig zu Lebewesen? Jedenfalls habe ich große Verbundenheit gespürt damals in der Gruppe. Und wenn ich heute mit Menschen neu zu tun bekomme, dann hilft mir der Gedanke: Auch die anderen sind jetzt nicht völlig unbefangen.
Wie geht es Ihnen im Umgang mit anderen Menschen? Welche Hintergedanken haben Sie da so? Sie müssen nichts verraten. Aber dass Sie nicht allein sind damit, da können Sie sicher sein.
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Unsere ältere Tochter sehen wir gerade fast nur noch mit Kopfhörern – ziemlich egal, wo sie gerade ist. Oft hat sie dann Musik laufen. Aber fast noch lieber hört sie ihren Lieblings-Podcast „Die Nervigen“. Jeden Freitagnachmittag wartet sie gespannt auf die neue Folge. So knapp anderthalb Stunden lang reden da zwei befreundete Influencer über Details aus ihrem Alltag.
Manchmal höre ich zwischendurch auch kurz rein. Dann bin ich oft genervt. Die Themen kommen mir oberflächlich vor – welches Essen ist gerade angesagt, wer hat wie wo Urlaub gemacht, … Was den Lebensstil angeht, bin ich auch eher weit weg von den beiden. „Ist es gut, wenn unser Kind das so viel hört?“, frage ich mich dann.
Aber manchmal höre ich mir eine Folge doch ganz an, oft auch zusammen mit meiner Tochter. Und dann merke ich: Die beiden Influencer treffen doch immer wieder den Nerv der Zeit. Und sie haben Themen im Blick, die auch mir wichtig sind. Zum Beispiel erzählen sie von ihren persönlichen Erfahrungen mit mentaler Gesundheit. Von ihrem Drang, sich immer zu viele Aufgaben auf einmal aufzuladen, dann unter Druck zu sein und nicht mehr schlafen zu können. Oder von ihren Versuchen mit Meditation, ganz ohne Scheu vor religiösen Zusammenhängen. Nebenbei lerne ich dazu, was aktuelle Sprache angeht, welche englischen Begriffe gerade angesagt sind. Und Wortwitz haben die beiden auch.
Vor allem aber merke ich, welche Bedeutung dieser Podcast für unsere Tochter hat. Mit zwölf Jahren ist gerade viel in Bewegung bei ihr. Dinge verändern sich, werden anders. Wir als Eltern oder ihre Geschwister rücken etwas weiter weg. Da bin ich froh über jede andere Möglichkeit für sie, Verbindung und Zugehörigkeit zu spüren. Und mitzuerleben, wie zwei andere junge Menschen ihre langjährige Freundschaft gestalten.
Auch vielen anderen Fans des Podcasts geht das so. Eine Jugendliche schreibt den beiden Influencern: „Vielen Dank, dass ihr uns Woche für Woche diesen Safe Space ermöglicht.“ Ein Safe Space, ein sicherer Ort, ist überall dort, wo Menschen merken: Hier bin ich gut aufgehoben. Hier kann ich sein, wie ich bin, auch mit allen Themen, die mich umtreiben. Ich bin froh, dass es solche Orte gibt auf unserer Welt. Und manchmal ist es eben einfach ein Podcast.
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„Ich sagte zu dem Engel, der an der Pforte des neuen Jahres stand: Gib mir ein Licht, damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen kann!“ So beginnt ein Text, den ich zum Jahresanfang immer wieder höre und lese.
„Gib mir ein Licht“ – diesen Wunsch kann ich gut verstehen. Besser zu sehen, was in der Zukunft auf mich wartet, – wäre das Leben dann nicht leichter, gerade in den aktuellen Krisenzeiten? Weil ich mich dann besser darauf einstellen könnte?
Aber wenn ich dann ans letzte Jahr zurückdenke – wenn ich da vorher schon gewusst hätte, was alles passieren würde in unserer Welt – hätte mich das wirklich sicherer werden lassen? Ich glaube nicht! Wahrscheinlich ganz im Gegenteil. Bei den schweren Dingen hätte ich mich vor Sorge verrückt gemacht. Wahrscheinlich hätte das mehr Energie gekostet als die Sache selbst. Und das Schöne, das auf mich gewartet hat, hätte ich wahrscheinlich tausendmal in Gedanken hin- und hergewälzt – und hätte es später dann vielleicht gar nicht mehr genießen können.
Überhaupt ist ja immer entscheidend, wie ich persönlich mit den Dingen umgehe. Welchen Einfluss sie auf mich haben, wie ich mich von ihnen bestimmen lasse. Das ist jedes Mal anders. Es hängt davon ab, wie mein Leben gerade aussieht. Und es hat auch ganz stark mit meiner Person zu tun.
Komplette äußere Sicherheit kann es deshalb gar nicht geben, glaube ich. Sicherheit gewinnen kann ich nur im Umgang mit mir selbst. Indem ich mich besser kennenlerne, meine Fähigkeiten und Grenzen spüre. Dann kann ich besser dem begegnen, was auf mich zukommt. Das wird mich immer wieder herausfordern. Aber in den meisten Fällen nicht komplett verunsichern oder in Frage stellen.
Das also ist mein eigentlicher Wunsch fürs neue Jahr, glaube ich, – innere Gewissheit, innerer Halt. Ein Gespür für den eigenen Platz in der Welt. Und damit Mut für das, was kommt. Der Engel an der Pforte zum neuen Jahr im eingangs erwähnten Text sagt es in seiner Antwort so: „Gehe nur hin in die Dunkelheit und lege deine Hand in die Hand Gottes! Das ist besser als ein Licht und sicherer als ein bekannter Weg!“
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Unsere kleine Tochter malt gerade leidenschaftlich gerne. Kein Stück Papier ist sicher vor ihr. Die Box mit den Notizzetteln unten am Esstisch ist regelmäßig leer.
Neulich ist unsere Tochter spontan gekommen und hat mir ihre aktuellen Bilder präsentiert. Jedes hat sie mir einzeln mit einer kurzen Erklärung in die Hand gedrückt. Zuerst: „Ein Igel, der Kacka macht.“ – Dann das nächste: „Buchstaben.“ – Und weiter ging‘s: „Herzen.“ – „Fußball-Deutschlandfahne.“ – „Ein Mensch.“ – „Krieg.“ – „Blumen“.
Einen Augenblick lang war ich durcheinander. Fast ein bisschen überfordert. Verloren zwischen einem lustigen Igel und erschreckend detailgetreuen Panzern mit Kanonen. Diese vielen verschiedenen Themen – wie gehören die zusammen? Was wollte unsere Tochter damit? Und was hat sie von mir als Vater erwartet?
Aber dann habe ich gedacht: Ja, so ist unser Leben halt. Da gibt es Schönes und Schweres – beides beieinander. Und manchmal folgen auf ganz gewichtige Dinge sofort leichte Sachen, oder umgekehrt. Wenn ich auf dieses zu Ende gehende Jahr zurückschaue, geht es mir auch so. Genau so eine Mischung war es auch in meinem Leben.
Wie kann man gut damit umgehen? Unsere Tochter hat ja eine wunderbare Möglichkeit für sich gefunden. Sie hat all die verschiedenen Dinge gemalt, ihre Erfahrungen in Bildern ausgedrückt. Auf ihren Zettelchen hat sie allem einen Platz gegeben. Und dann konnte sie das nochmal in Ruhe überblicken. Das haben wir auch nochmal gemeinsam gemacht – wir haben die Bilder zusammen angeschaut und besprochen. Um mörderischen Krieg ging es da, und genauso um die bunten Blumen, die sie das Jahr über ausgiebig gepflückt hat.
Mir persönlich hilft es, Dinge aus diesem Jahr nochmal laut auszusprechen. Dabei bedenke ich sie für mich selbst. Ich fühle mich verbunden mit anderen Menschen. Und zugleich vertraue ich das Leben Gott an. Heute Abend machen das viele Christen in Gottesdiensten zum Jahreswechsel. Und oft singen dann alle gemeinsam folgende alte Liedstrophe: „Das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz. In Gottes treue Hände leg ich nun Freud und Schmerz und was dies Jahr umschlossen, was Gott der Herr nur weiß, die Tränen, die geflossen, die Wunden brennend heiß.“ [„Das Jahr geht still zu Ende“, EG 63,1]
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„Ich bin froh, dass es das Vaterunser gibt!“ Das hat eine Patientin in der Klinik mal zu mir gesagt. Da arbeite ich als Pfarrer in der Klinikseelsorge. Wir hatten darüber gesprochen, wie belastend ein langer Krankenhausaufenthalt sein kann. Dass das auch mental sehr anstrengend ist und man manchmal keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Selbst dann, wenn man eigentlich schnell ist im Kopf und gerne nachdenkt. Nach Wochen oder gar Monaten im Krankenbett mit immer derselben Umgebung geht das oft nicht mehr.
… und dann kam im Gespräch dieser Satz: „Ich bin froh, dass es das Vaterunser gibt!“ Weil dieses alte Gebet für diese Patientin ein Text war, den sie einfach nachsprechen konnte. Ohne sich groß eigene Worte überlegen zu müssen.
Den Gedanken habe ich mitgenommen von der Frau. Für mich war es wichtig, das zu hören. Ich bin gerade in einer Lebens- und Glaubensphase, in der mir alte Texte oft nichts mehr sagen. Manches klingt floskelhaft für mich, abgenutzt, nicht mehr authentisch. Also suche ich viel nach neuen Worten und eigenen Gedanken. Auch wenn ich bete. Aber bei der Patientin im Krankenhaus ist mir klar geworden, dass ich so auch etwas verliere: Das Gefühl äußerer Verbundenheit mit anderen Christen zum Beispiel. Texte wie das Vaterunser werden ja seit Jahrhunderten überall auf der Welt gesprochen. Auf die Weise finden auch wildfremde Menschen eine Gemeinsamkeit und spüren über ihren Glauben Zugehörigkeit. Außerdem ist ein Gebet ja auch nicht mehr wert, nur weil es besonders originell ist. Gott hört jeden Menschen. Auch das sollte mir im Bewusstsein bleiben.
… und manchmal fehlt auch mir einfach die Energie, selbst etwas zu formulieren. Nach einem langen Tag bin ich einfach nur erschöpft. Dann kann und will ich nicht mehr groß überlegen, welches Gebet jetzt zu mir passt. So wie diese eine Patientin damals.
Deshalb finde ich auch die alten, bewährten Texte gut und hilfreich. Die sind dann einfach da und gelten. Ich kann mich in sie hineingeben, mich von ihnen tragen lassen. Satz für Satz: „Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. …“ Am Schluss unserer Begegnung in der Klinik haben wir das gemeinsam gebetet. Und wir waren beide froh darüber.
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„Ich habe immer alles getan.“ Vor einigen Monaten hat eine Patientin in einer Klinik das zu mir gesagt. Und dann hat sie ausführlich erzählt, was genau sie getan hat: Für die ganze große Familie und für Freunde gekocht. Für einzelne Verwandte Schulden übernommen. Auch mal jemanden bei sich wohnen lassen. Es war eindrücklich für mich, das alles so zu hören. Eine richtige „Schafferin“ hatte ich da vor mir, die sich ihr Leben lang für andere eingesetzt hatte.
Jetzt lag diese Frau im Krankenhaus, konnte fast nichts mehr tun. Und sie hat sich gewünscht, dass es nun auch andersherum funktioniert. Dass also nun die anderen etwas für sie tun. Sie mal besuchen. Oder anrufen. Oder einfach nur eine Karte schreiben. „Ich will ja gar nicht viel.“ … aber – so gut wie niemand ist gekommen oder hat sich gemeldet. Und wenn, dann nur ganz knapp und oberflächlich. Warum nur?
Am Krankenbett damals haben wir diese Frage vor allem gemeinsam ausgehalten. Schnelle Antworten darauf gab es sowieso nicht. Später, zu Hause, hat mich noch eine andere Seite beschäftigt: Wo tue ich sehr viel für andere? Und warum tue ich dann so viel? Was bringt mich innerlich dazu?
Ist das immer nur reine Fürsorge? Oder steckt auch anderes dahinter? Will ich vielleicht insgeheim Dankbarkeit von den anderen haben? Will ich die Dinge in der Hand behalten? Oder dränge ich anderen meine Hilfe sogar auf?
Was die Patientin dazu bewegt hat, weiß ich nicht. Und ich weiß auch nicht, warum sich so wenige um sie gekümmert haben. Womöglich hatten sich alle an die Situation gewöhnt. „Ich wollte nie von jemandem abhängig werden“, hat die Frau gesagt. Und lange Zeit hat das ja auch gut funktioniert. Als es dann aber anders wurde, da konnten sich die Familie und die Freunde vielleicht nicht umstellen, stelle ich mir vor. Zumindest nicht so schnell …
Ich weiß nicht, wie es weitergegangen ist mit dieser Patientin damals, ihrer Familie und ihren Freunden. Ich wünsche ihnen allen, dass sie sich neu aufeinander einstellen konnten.
Einmal hatte die Frau das sogar schon erfahren. Mittendrin im Gespräch hat sie mir von einem Mann erzählt, – mit dem war alles anders. Der durfte Dinge für sie tun. Sogar in der Küche stehen und kochen. Von dem hat sie sich das gefallen lassen. „Bei dem hatte ich keine Angst, abhängig zu werden.“ Und zusammen mit diesem einen Menschen sind Tun und Lassen ins Gleichgewicht gekommen.
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Stellenkürzungen. Das gibt es auch in der Kirche. Und das Thema nimmt jetzt richtig Fahrt auf, auf allen Ebenen. In meiner Evangelischen Landeskirche in Württemberg fällt zum Beispiel in den nächsten sechs Jahren über ein Viertel aller Pfarrstellen weg. Weil das Geld weniger wird – und weil auch wir unter Fachkräftemangel leiden und es gar nicht mehr genügend Leute dafür gibt.
Viele Menschen in den Kirchengemeinden fragen sich: Wie kann meine Kirche dann überhaupt noch funktionieren? Ich kann das verstehen. Ich war selbst viele Jahre Gemeindepfarrer – und weiß deshalb gut, für wie viele Aufgaben ich verantwortlich war. Da gibt es die klassischen Dinge, von denen man oft was mitbekommt: Gottesdienste, Konfirmandenarbeit, Seelsorge. Aber es gibt noch viel mehr unsichtbare Arbeit, die im Hintergrund läuft: die Organisation von Veranstaltungen, Verwaltungsdinge, jede Menge Absprachen. Und – man hat als Pfarrer meistens die Letztverantwortung, hält also die Fäden in der Hand.
Vor allem in den letzten paar Jahren habe ich mich häufiger gefragt: Ist das überhaupt gut und richtig so? Also – dass in der Kirche alles Entscheidende über eine ganz bestimmte Berufsgruppe läuft? Die Kirche hat sich so entwickelt, ja. So hat sie lange Zeit auch funktioniert. Aber – es kann ja nicht nur darum gehen, zu funktionieren. Ein System am Laufen zu halten. Aus meiner Sicht sollte es auch Sinn ergeben, was wir als Kirche tun.
Kirche, das heißt für mich: Viele verschiedene Menschen bringen etwas ein. Und je mehr persönliche Begabungen zum Einsatz kommen, desto mehr kann Kirche bewirken. Also braucht es über die Pfarrerinnen und Pfarrer hinaus noch weitere Menschen, angestellt oder im Ehrenamt. Die gibt es ja auch schon längst in Kirchengemeinden. Im Gemeindebüro, im Festausschuss, im Kindergarten-Elternbeirat, auch in der Gemeindeleitung. Stecken da nicht noch viel mehr Möglichkeiten drin?
Deshalb glaube ich: Die aktuellen Pfarrstellenkürzungen werden herausfordernd. Auch schmerzhaft. Abschiede kosten Kraft. Aber zugleich entsteht die Chance, ehrlich zu überlegen: Wofür sind Pfarrerinnen und Pfarrer hilfreich? Und was geht mit anderen Menschen sogar besser? Wie sieht sinnvolle Teamarbeit in der Kirche aus?
Ich habe Lust, Kirche auf diese Weise neu zu denken. Und wenn Sie selbst Ideen dazu haben, melden Sie sich bitte.
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Neulich in der S-Bahn. Ich steige mit Fahrrad ganz hinten ein – da, wo es extra Platz gibt für so sperrige Dinge. Aber dort sitzen schon andere Reisende, alle ohne irgendwas Größeres mit dabei. Im übrigen Zug ist ganz viel frei. „Kann sich vielleicht jemand umsetzen?“, frage ich freundlich in die Runde. Niemand reagiert, alle schauen ins Leere. Nur einer murmelt undeutlich, es gäbe doch noch einen Klappsitz für mich mittendrin. Ja, schon richtig. Aber dann steht mein Fahrrad halt mitten im Gang. Nicht ganz so praktisch …
Die Bahn setzt sich in Bewegung – und ich bin unzufrieden. Auch mit meiner Frage von eben. So allgemein zu bleiben bei einer Bitte, das funktioniert selten. Dazu gibt es auch Untersuchungen. In größeren Gruppen von Menschen verhallt eine Bitte in die Runde fast immer. Selbst dann, wenn es um einen echten Hilferuf oder Notfall geht, und nicht bloß um Platz in der Bahn. Vermutlich unter anderem deshalb, weil jeder denkt, das macht schon jemand anderes. Wissenschaftler sprechen vom Zuschauereffekt. Oder man kann es so erklären: Wenn sich die Verantwortung auf verschiedene Leute verteilt, wird sie dadurch für jeden kleiner. So dass es nicht mehr reicht, sich einen Ruck zu geben.
Seit diesem Erlebnis mit Fahrrad in der S-Bahn mache ich es deshalb wieder anders: Ich frage eine einzelne Person, ob sie außerhalb des Fahrradbereichs Platz nehmen kann. Und das klappt dann praktisch immer. Mir leuchtet auch ein, warum: Wer direkt angesprochen wird, ist kein unbeteiligter Zuschauer mehr, sondern merkt: Ich bin persönlich gemeint. Oft wechseln wir dann auch noch ein paar Worte mehr, und manchmal sind es richtig schöne kurze Begegnungen.
Ich denke, deshalb spricht auch Gott die Menschen in der Bibel ganz direkt an. Sogar mit Namen! An einer Stelle klingt das zum Beispiel so: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.“ Damit meint Gott zuerst sein Volk, die Israeliten. Aber auch als Christ fühle ich mich angesprochen. Ich merke da: Gott meint mich! Persönlich – mit allem, was mich als Mensch ausmacht und auszeichnet. Ich fühle mich gesehen, wertgeschätzt, gehalten. Und zugleich frage ich dann nach meinem Platz und meiner Aufgabe in der Welt. Denn, wie in der Bahn: Konkret angesprochen zu werden und persönlich gemeint zu sein, das macht einen spürbaren Unterschied.
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Neulich bin ich schon ganz früh am Morgen aufgebrochen. Es war noch stockdunkel draußen, ich habe nur ein paar Meter weit gesehen. Aber gehört habe ich etwas, laut und deutlich: Die Vögel haben schon gesungen. In den höchsten Tönen haben sie den kommenden neuen Tag begrüßt. Von dem ich noch gar nichts gemerkt habe zu dem Zeitpunkt.
Warum machen die Vögel das? Was ahnen, spüren sie da? Natürlich gibt es gute biologische Erklärungen dafür. Mit einem die Nacht über gebildeten Hormon könnte es zusammenhängen. Oder mit der frühmorgens besseren Ausbreitung des Schalls in der Luft. Oder die Männchen wollten sich vor der Brutzeit einfach als besonders einsatzfreudige Partner präsentieren. Vielleicht ist an allem davon was dran.
Für mich hatte dieses frühmorgendliche Erlebnis zugleich noch etwas Tieferes. Dass etwas wirkt, obwohl es noch gar nicht da ist, das kenne ich auch sonst aus meinem Leben. Den Urlaub zu planen zum Beispiel, – manchmal ist bereits das richtig erholsam. Wenn ein schönes Fest ansteht oder ein lang ersehnter Besuch, dann genieße ich auch schon die Vorfreude darauf. Oder wenn ich Hoffnung habe, dass eine schwere Sache sich zum Guten wendet, dann wird es schon damit ein Stück besser. Die Hoffnung ist dann wie eine Triebfeder, hat bereits für sich einen Wert.
In der Bibel gibt es das auch, und zwar in ganz großen Zusammenhängen. Die Völker „werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln“, schreiben die alten Propheten Micha [in 4,3] und Jesaja [in 2,4]. Und weiter: „Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Diese Texte sind vermutlich mitten in Krieg und Zerstörung entstanden. Da sah es wenig nach Frieden aus. Und trotzdem haben Menschen dadurch Kraft gefunden, das Leben weiterzuleben und weiterzugeben. Damals – und hoffentlich auch heute.
Haben die Vögel an diesem einen frühen Morgen gesungen, weil sie den Tag gespürt haben? Oder haben sie umgekehrt mit ihrem Gesang den Tag erst hervorgelockt? Auf mich hat das fast so gewirkt. Und dann wurde es tatsächlich hoffnungsvoll hell nach und nach. Äußerlich um mich herum – und auch in mir drin.
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