Alle Beiträge

Die Texte unserer Sendungen in den SWR-Programmen können Sie nachlesen und für private Zwecke nutzen.
Klicken Sie unten die gewünschte Sendung an.

Filter
zurücksetzen

Filter

Datum

SWR2

 

SWR4

 

Autor*in

 

Archiv

SWR2 Wort zum Tag

16MRZ2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In einem engen Schacht tief unter der Erde. Die Luft ist feucht und voller Kohlestaub. Laute Maschinen und ständige Lebensgefahr. Vor rund 150 Jahren hat Joseph als Bergmann in einer schlesischen Kohlemine gearbeitet. Berufsbezeichnung: Oberhauer.

Abends auf dem Sofa hat mir meine Oma früher von ihren Großeltern Thekla und Joseph erzählt. Joseph aus der Kohlemine. Seine Ehefrau Thekla war jedes Mal erleichtert, wenn er unbeschadet von einer Schicht nach Hause kam. Nicht nur, weil sie ihn geliebt hat. Sondern auch weil er mit seinem Lohn eine Familie mit sieben Kindern ernähren musste. Joseph hat immer einen Vogel im Käfig mit in die Mine genommen. Wenn der Vogel von der Stange gekippt ist, wussten alle: Nichts wie raus hier. Denn wenn Gas austritt, kommt es schnell zu tödlichen Unfällen.

Vier Generationen liegen zwischen mir und dem Leben von Joseph und Thekla. Mein Leben kommt mir bedeutend einfacher vor: Urlaub in Italien, ein Handy in der Tasche und volle Regale im Supermarkt. Joseph könnte wohl kaum glauben, wie stark sich alles gewandelt hat. Damals hatte man ein Klohäuschen im Garten. Heute hat jede Wohnung einen Wasseranschluss. Scheinbare Selbstverständlichkeiten, die damals der pure Luxus waren. Darum hatte Joseph auch noch keine Dusche: Seine Frau Thekla hat ihn nach jeder Schicht ordentlich abgeschrubbt. In einem großen Waschzuber. Der Kohlestaub saß in Kleidern und Haaren, einfach überall. Danach war Joseph ein neuer Mensch und konnte sich seine Pfeife anstecken.

Meine Oma hat mir viel aus unserer Familiengeschichte erzählt hat. Wie damals die Familie bei aller Armut zusammengehalten hat. Wenn es zu essen gab, war jeder froh um seine Portion. Wenn gebetet wurde, wusste jeder, wofür er bittet.

Ich will die Schicksale von damals weder verklären noch bemitleiden. Wer weiß, wie Thekla und Joseph auf unser Leben blicken würden. Vielleicht würden sie tatsächlich am meisten über die Toilette und die Dusche in meiner Wohnung staunen. Für mich relativiert der Gedanke an ihre Zeit viele Probleme, über die ich heute oft klage. Damals waren die meisten Menschen damit ausgelastet zu überleben. Heute kann ich streiten über Politik und Kirche, kann reisen, lesen und ins Konzert gehen. Viel mehr Freiheiten, viel mehr Möglichkeiten. Ich meine: Es lohnt sich auf das Gute zu sehen, was sich seitdem entwickelt hat. Denn das kann uns helfen, zuversichtlich in die Zukunft blicken.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39517
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

15MRZ2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Das Leben nach dem Tod – ist das nicht ein zentrales Thema für die Bibel? Ich war richtig erstaunt, als ich gemerkt habe, dass es in der Bibel nur an wenigen Stellen um ein Leben nach dem Tod geht. Im Alten Testament scheint sich kaum jemand den Kopf darüber zerbrochen zu haben, was nach dem irdischen Leben kommen könnte. Die großen Gestalten wie Mose, Sarah, Abraham oder Ester, sterben – aber nirgends heißt es, dass sie auferstehen und im Himmel weiterleben. Damals scheinen sich die Menschen voll auf das Leben im Hier und Jetzt zu konzentrieren.

In der Bibel kommt die Frage nach einem Leben nach dem Tod erst nach vielen Jahrhunderten auf. Ein Grund mag gewesen sein, dass das Leben in Israel so viel schwerer wurde. Fremde Herrscher beuten die Menschen aus und fordern immer neue Opfer. Da klingt es trotzig und gleichzeitig hoffnungsvoll, wenn es heißt: Gott wird uns nicht einfach verschwinden lassen. Damals haben die Menschen wild diskutiert: Gott wird einen Retter schicken, er wird Gericht halten oder er wird uns nach dem Tod auferwecken. Irgendwie wird er seine Macht zeigen. Erst mit Jesus Christus wird greifbar, was Auferstehung bedeutet.

Diese Sehnsucht der Menschen, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, drückt der Lyriker und Pfarrer Kurt Marti in einem Gedicht so aus:

Das könnte manchen Herren so passen

wenn mit dem Tode alles beglichen

die Herrschaft der Herren

die Knechtschaft der Knechte

bestätigt wäre für immer

das könnte manchen Herren so passen

wenn sie in Ewigkeit

Herren blieben im teuren Privatgrab

und ihre Knechte

Knechte in billigen Reihengräbern

aber es kommt eine Auferstehung

die anders ganz anders wird als wir dachten

es kommt eine Auferstehung die ist

der Aufstand Gottes gegen die Herren

und gegen den Herrn aller Herren: den Tod.

Heute denke ich bei diesen Worten an die Ukraine. Wie viele Menschen mussten dort schon sterben, weil ein böser Herrscher es so wollte? Putin wohnt in seinem Palast, er frönt dem Luxus. Und jeden Tag gehen Bomben und Raketen auf Wohnhäuser nieder. Das macht mich fertig. Für all die Opfer von Krieg, Terror und Diktatur, die ihr Leben nicht leben konnten, vertraue ich darauf: Ihr werdet auferstehen. Besonders denke ich dabei an Alexej Nawalny. Er war ein gläubiger Christ. Er hat darauf vertraut, dass Gott größer ist als aller Terror. An Ostern werde ich an ihn besonders denken. Ich warte auf seine Auferstehung.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39516
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

14MRZ2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Gott braucht Dich nicht. So heißt das Buch von Esther Maria Magnis, die in Ostwestfalen aufgewachsen ist. Darin beschreibt sie, wie sie sich schon als junges Mädchen Gott ganz nah gefühlt hat. Gott schien mit ihrem Herzen, mit ihrem ganzen Wesen untrennbar verbunden.

Darum will sie mehr von ihm erfahren, will ihn besser verstehen. Doch sie ist bald gelangweilt von dem, was ihr dazu erzählt wird. Sie schreibt: „Alle wollten Toleranz gegenüber anderen Religionen, alle wollten, dass die Kirche lockerer wird, allen kam es auf die „Menschlichkeit“ an.“ Überall hört Esther Maria Magnis diese Sätze: Ob in der Kirche, in der Schule oder in Talkshows. Die immer gleiche Moral, die gleichen Appelle. Sie hatte Gott als junges Mädchen gar nicht so durchschnittlich kennen gelernt. Aber jetzt gewinnt sie den Eindruck: Dieser Gott ist belanglos. Der braucht mich nicht.

Ihre Geschichte mit Gott geht trotzdem weiter. Denn ihr Vater erkrankt an Krebs. Esther betet mit ihren Geschwistern so fest sie kann. Leider erfolglos. Esther denkt: Gott sieht doch, wie Papa leidet, wie er um das Leben kämpft. Wofür ist Gott dann gut, wenn er nicht hilft? Wofür braucht es dann Gott?

Gott braucht Dich nicht ist ein sehr persönliches Buch. Esther Maria Magnis beschreibt keine gerade Linie zu Gott oder von Gott weg. Das Schicksal schlägt zu. Das Leben geht irgendwie weiter. Und Gott ist für sie mal so nah wie der eigene Herzschlag, mal fremd und abwesend. Esther Maria Magnis ist eine junge Frau, die mit Gott hadert, ihn herausfordert und anders verstehen lernt. Am besten gefallen mir die Stellen, wo sie über die Stille schreibt. Gott antwortet ihr nicht und schweigt. Doch in dieser Stille steckt mehr. Im Buch heißt es: „Wer die Freiheit aus dieser Stille in sich entdeckt, der muss nicht mehr kämpfen, der muss nicht mehr lieben, dem zaubert das Nichts ein Lächeln aufs Antlitz. Dasselbe, das wir von manchen Verstorbenen kennen. Erlöst vom Dasein. Dieses Lächeln kann man schon im Leben haben, wenn man nur die Hinweise sieht.“

Keine leichte Kost, keine Wohlfühlspiritualität. Gott schweigt, und Esther Maria Magnis erkennt gerade darin seine Bedeutung. Sie sagt: Gott ist nicht nur lieb, er hat einen Schrecken. So wie in dieser Welt viel Schmerz und Tod ist. Gott ist davon nicht getrennt, sondern darin verstrickt.

Dieses Buch hat mich immer wieder irritiert und sprachlos gemacht. Esther Maria Magnis ist für mich ein Beispiel dafür, wie jemand ohne Sicherheitsseil nach Gott sucht. Gott verstehe ich jetzt nicht besser. Aber ich denke neu über ihn nach.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39515
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

03JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Endlich haben wir mal wieder ein Freundschaftsspiel organisiert. Unsere Fußballgruppe gegen die Mannschaft vom Nachbardorf. Alte Herren Landwasser gegen Alte Herren Hochdorf. Ungefähr 20 Leute haben sich das Spiel angeschaut. Am Schluss haben wir 6 zu 3 verloren.

Wir hätten es wissen können. Denn Hochdorf hat viele gute Spieler. Die Chancen auf einen Sieg waren minimal. Obwohl ich wusste, dass wir verlieren werden, bin ich gern hingefahren. Denn in Würde zu verlieren ist auch was wert.

Viel zu oft bilde ich mir nämlich ein, es geht im Leben nur ums Gewinnen. Erfolg im Beruf, genug Geld auf dem Konto und am besten noch ein schöner Sommerurlaub. So kann ich versuchen, es im Leben zu etwas zu bringen. Und auch für mich sind diese Dinge angenehm. Wenn ich aber vom Ende her denke, werde ich eines Tages alles verlieren: Meine Gesundheit, meinen Besitz, mein Leben. Der Tod lässt nicht mit sich verhandeln.

Für mich ist unser Fußballspiel eine Lehrstunde gewesen. Ich stehe auf, ich hänge mich voll rein und gehe lächelnd vom Platz, obwohl ich verloren habe. Diese Haltung will ich beibehalten. Ich teile diese Erfahrung auch mit berühmten Philosophen, die ähnlich gedacht haben. Zum Beispiel Albert Camus, dessen Existentialismus ich sehr schätze. Oder ich könnte es religiös deuten: Als Christ glaube ich an den Sohn Gottes, der am Kreuz gestorben ist. Ein Gott, der stirbt und scheinbar alles verliert.

Doch es geht auch ohne diese großen Gedanken. Am Freitag werde ich wieder meine Fußballschuhe aus dem Schrank holen. Werde über den Platz laufen und mich am Spiel freuen. Vielleicht kann ich noch 5 oder 10 Jahre mithalten. Irgendwann wird es nicht mehr gehen. Dann wird der Arzt den Kopf schütteln und mir empfehlen, lieber Spazieren zu gehen. Aber davor fürchte ich mich nicht. Denn ich will weiter üben, ein guter Verlierer zu sein. Ein Verlierer, der vom Platz geht, den anderen noch mal die Hände schüttelt und dankbar ist, dabei gewesen zu sein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39004
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

02JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

In den Nachrichten prasseln jeden Tag viele Bilder von Krieg und Elend auf uns ein. Ich möchte Ihnen heute Morgen ganz bewusst ein friedliches Bild anbieten. Es sieht so aus: Eine Frau sitzt auf einem Felsen am Meer und hat die Augen geschlossen. Sie atmet ruhig und strahlt Frieden aus. Es geht ein leichter Wind, darum hat die Frau einen langen Schal umgeworfen. Sanfte Wellen schaukeln über das Meer, ein paar Möwen ziehen vorbei. Alles ist in ein sanftes Licht getaucht. Die Frau in diesem Bild scheint aufgehoben und geborgen.

Ich habe Ihnen dieses Bild geschildert, weil mir solche Bilder oft fehlen. Im Fernsehen und in der Zeitung sehe ich oft das Gegenteil: Bilder von Krieg und Zerstörung. Bilder, die mich eine Menge Kraft kosten, weil sie so schrecklich sind. Im Krieg denken alle nur schwarz oder weiß: Wir sind gut, die anderen sind böse. Die anderen sind schuldig und müssen sterben. Es wird verneint, dass der andere überhaupt Rechte hat und leben darf.

Oft werden Kriege so erklärt, dass hier Muslime gegen Juden kämpfen oder Christen gegen Andersgläubige. Ob in Israel, Äthiopien oder im Sudan. Mich schmerzt das jedes Mal. Denn wie kann das sein, wenn die Religionen einen Gott verkünden sollen, der mit seiner Liebe alles umfängt? Das Ziel der Religionen kann nur lauten, die Menschen in dieser Liebe wachsen zu lassen. Mit Waffengewalt verkehre ich diesen Auftrag ins Gegenteil.

Mein Glaube an Gott sagt mir: Nicht die Gegensätze, sondern das Gemeinsame zählt. Es wird nicht verurteilt und gerichtet. Allen gilt der Segen Gottes. Alle sollen leben und haben dieselben Rechte. Gott ist die Quelle des Lebens, aus der alles hervorgeht.

Ich weiß nicht, was das neue Jahr mit sich bringt. Konflikte und Kriege wird es weiter geben. Da werde ich weiterhin viele Bilder von Hass und Zerstörung sehen. Hoffentlich finden wir aber auch diese anderen Bilder in unserem Herzen. Bilder des Friedens und der Seelenruhe. Aus denen wir Kraft schöpfen, um der Welt zu zeigen: Wir können auch anders. Wir können auch Frieden

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39003
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

01JAN2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

„Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt.“ So heißt es in einem alten Schlager, den ich als Kind oft auf Schallplatte gehört habe. Ich durfte dann sogar den Film sehen, aus dem dieses Lied stammt. Er heißt „Die Drei von der Tankstelle“. Darin geht es um drei gute Freunde, die sich gegenseitig versichern: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist der größte Schatz, den's gibt.“

Ich habe also früh gelernt, wie wichtig Freunde fürs Leben sind und es bald selbst erfahren. Ob in der Schule, im Studium oder im Beruf: Mit einer guten Freundin oder einem guten Freund an der Seite habe ich mich immer viel leichter getan. Gerade in ungewohnten Situationen war und bin ich immer sehr froh, jemanden dabei zu haben, dem ich vertraue und auf den ich mich verlassen kann.

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat mehrere Bücher zum Thema Freundschaft geschrieben. Für ihn ist klar: Glücklicher ist, wer Freunde hat. Freundschaften zu pflegen sei aber anspruchsvoller geworden, sagt Schmid. Denn frühere Generationen seien in ein Netzwerk von Freundschaften hineingeboren worden. Zum Beispiel auf dem Dorf: Da hat es in der Nachbarschaft viele Verwandte und Freunde gegeben, die junge Menschen von klein auf kennen gelernt haben. Und weil viele ihr ganzes Leben an diesem Ort verbracht haben, haben sie ihre Freunde immer um sich herumgehabt.

Heute sind wir viel mobiler: Ein neuer Job, eine andere Stadt, alles ist in Bewegung. Meine Freunde aus der Schulzeit leben in Kanada, in der Schweiz und in ganz Deutschland verteilt. Klar, ich versuche den Kontakt zu halten. Aber wenn wir uns ein-, zweimal im Jahr sehen, kann ich schon froh sein. Und kurze Nachrichten übers Handy können es nicht ersetzen, sich persönlich zu begegnen.

Der Philosoph Schmid sagt: Weil sich so viel verändert hat, müssen wir neu lernen Freundschaften zu führen. Den Gedanken finde ich tröstlich: Statt mir selbst vorzuwerfen, Freunde zu vernachlässigen, erkenne ich, wie schwer es heute für alle geworden ist.

Schon oft habe ich gelesen: Es ist wichtiger einige wenige Freundschaften zu vertiefen, als viele Freunde so halbwegs zu kennen. Weniger ist oft mehr. Wilhelm Schmid geht noch einen Schritt weiter. Für ihn geht es zuerst darum, Freundschaft mit sich selbst zu schließen. „Selbstfreundschaft“ heißt das Zauberwort. Denn wohin mich das Leben auch verschlägt: Mit mir selbst sollte ich gut auskommen, meine Stärken schätzen und gern mit mir unterwegs sein.

Schmid möchte dabei nicht von Selbstliebe sprechen. Bei der Liebe verschwimmen die Grenzen, da stehen die großen Gefühle im Vordergrund. Eine Freundschaft kennt auch die Schwächen des anderen und muss nichts idealisieren. Mit mir selbst Freundschaft zu schließen heißt also: Ich kann auch mal über mich selbst lachen.

Die Gedanken von Schmid will ich mir in diesem Jahr zu Herzen nehmen. Einige Freunde kenne ich seit fast 40 Jahren. Da weiß ich längst um Lebenskrisen und kleine Geheimnisse. Die Freundschaft ist erwachsen geworden. Manchmal muss nicht viel gesagt werden, weil wir einander gut kennen. Wie wäre es, so eine Freundschaft mit mir selbst zu pflegen? Nachsichtig mit den eigenen Marotten und dankbar für die gemeinsamen Jahre. Zugleich neugierig, weil ich noch neue Seiten entdecken kann. Wer mit sich selbst als Freund durchs Leben geht, kann auch anderen leichter ein guter Freund sein.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39002
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

14OKT2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Als Jugendlicher habe ich wunderbare Tage im Freibad verbracht. Doch eine Situation hat sich bei mir ins Gedächtnis eingebrannt. Da hat mein Freund Sergio versucht, mir vor allen Leuten die Badehose herunter zu ziehen. Für ihn wohl ein Spaß unter Freunden. Auch wenn es Sergio nicht recht gelungen ist, wäre ich vor Scham fast im Boden versunken.
Die meisten werden sich an Situationen aus der Kindheit erinnern, in denen sie sich geschämt haben. Manchmal schämen wir uns schon für Kleinigkeiten wie einen Versprecher oder einen Pickel im Gesicht.
Scham ist ein Thema, über das ich nie gern gesprochen oder nachgedacht habe. Bis ich Stephan Marks getroffen habe. Er ist Sozialwissenschaftler und bildet seit vielen Jahren Menschen zum Thema Scham fort. Für ihn ist Scham ein Gefühl, über das wir viel zu selten reden. Dabei richten wir vieles in unserem Leben darauf aus, uns nicht schämen zu müssen.
Stephan Marks unterscheidet zwischen gesunder Scham und pathologischer Scham. Es geht um das Maß, das wir ertragen können. Es gibt Situationen, da zeigt uns die Scham, dass wir eine Grenze oder eine Regel verletzt haben. Zum Beispiel: Im Zug besetzt ein junger Mann zwei Sitze und verteilt überall seinen Kram. Da fordert ihn der Zugbegleiter auf, Platz für andere zu machen. Wenn er sich nun schämt, hat er im besten Fall etwas gelernt und achtet in Zukunft darauf.
Problematisch wird es, wenn die Scham nicht mehr aufhört. Wenn zum Beispiel ein Kind dauerhaft ausgeschlossen und ausgelacht wird. Wenn die Scham pathologisch wird, dann nimmt sie uns die Würde. Wer sich ständig schämt, verliert irgendwann sein Selbstwertgefühl. Dann ist Scham sogar ein echtes Gesundheitsrisiko.
Stephan Marks hat mir die Augen dafür geöffnet, wo überall die Scham unser Zusammenleben prägt. Ich meine, es ist gut, offen über dieses Thema zu sprechen. Dabei geht es nicht darum, dass niemand sich mehr schämen muss. Die Scham darf aber nicht zu groß werden und den Menschen erdrücken. Stattdessen kann ich die Scham wie einen Kompass nutzen. Durch ihn erkenne ich, wie ich die eigenen Grenzen und die Grenzen der anderen schützen kann. Dann kann die Scham helfen, dass alle ein Teil der Gemeinschaft bleiben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38573
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

13OKT2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Vor 50 Jahren hat Paul Maar die erste Geschichte vom „Sams“ veröffentlicht. Seitdem gehört „das Sams“ zu den beliebtesten Kinderbüchern im Land. Auch ich habe die Bücher als Kind geliebt. Das Sams ist ein kleines Fantasiewesen mit blauen Punkten im Gesicht. Jeder Punkt steht für einen Wunsch, den das Sams erfüllt.
Früher habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich mir vom Sams alles wünschen würde. Ein neues Fahrrad, einen fliegenden Teppich oder gute Noten in der Schule. Doch in den Geschichten wird auch erzählt, was aus einem Wunsch werden kann, den ich unüberlegt ausspreche. Wünsche ich mir zum Beispiel, dass die Unordnung in meiner Wohnung verschwindet, stehe ich danach vielleicht in leeren Räumen.
Ich sollte mir am besten Wort für Wort überlegen, was ich mir wünsche und was es für Folgen haben könnte. Da gibt es Wünsche, die vor allem mich selbst betreffen: Genug Geld, keine Falten im Gesicht und Erfolg im Beruf. Und da gibt es Wünsche, die gehen über mich hinaus: Das Wohl meiner Familie, eine intakte Natur und Frieden für die Ukraine.
Für mich geht es darum, das richtige Maß zu finden: Wenn ich nur um mich selbst kreise, führt dies selten zum großen Glück. Je mehr ich habe, desto größer werden die Ansprüche, und ich werde immer unzufriedener. Ich kenne aber auch Leute, denen scheint es immer nur um das Wohl anderer zu gehen. Sie opfern sich für andere auf und vergessen dabei ihre eigenen Bedürfnisse.
Am besten erscheinen mir Wünsche, die anderen und mir weiterhelfen. Nach diesen Wünschen suche ich. Zum Beispiel habe ich im letzten Monat an einer Fortbildung teilgenommen. Da lief nicht alles nach Plan, und fast hätte sich unsere Kursgruppe ordentlich verkracht. Gerade noch rechtzeitig habe ich meinen Ärger heruntergeschluckt und mich gefragt: Was wünsche ich der Gruppe? Was kann ich beitragen, damit wir gut zusammenarbeiten können? Mit vereinten Kräften haben wir uns danach wieder zusammengerauft. Darum meine ich: Es lohnt sich, bei den Wünschen über sich hinaus zu denken. Probieren Sie es aus: Wünschen Sie heute den Menschen, die Ihnen begegnen, dass sie einen wunderbaren Tag erleben. Ich bin mir sicher: Der Wunsch wird auf Sie zurückstrahlen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38572
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

12OKT2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich bewundere Menschen, die sich dafür einsetzen, die Welt ein klein bisschen besser zu machen. Die sich auch nicht beirren lassen, wenn andere sie dafür belächeln. So wie das Mädchen in dieser Kurzgeschichte. Da heißt es: Ein Sturm hat an der Küste viele Seesterne an den Strand gespült. Ein Mädchen geht dort spazieren und beginnt die Seesterne einen nach dem anderen wieder ins Meer zurück zu werfen. Ein älteres Ehepaar beobachtet das Mädchen eine Weile und schüttelt dabei den Kopf. „Was soll das denn bringen?“ wollen die beiden von dem Mädchen wissen. „Hier liegen tausende Seesterne herum. Was macht es da für einen Unterschied, dass du dich hier abmühst?“ Das Mädchen blickt auf den Seestern in ihrer Hand und wirft ihn in die Wellen. Dann sagt sie: „Für diesen hier macht es einen Unterschied!“
Ich kann das Ehepaar in dieser Geschichte verstehen, weil es auch mir manchmal so geht: Es gibt so viele Probleme und Katastrophen auf der Welt, da fühle ich mich schnell überfordert. Ich stelle mir auch oft die Frage: Was macht es für einen Unterschied, wenn ich mich abmühe?
Ich wundere mich zum Beispiel über meinen Nachbarn Uli, der bei Fridays for Future demonstriert. Anscheinend glaubt er wirklich, dass das einen Unterschied macht. Da kann er noch tausend Jahre auf die Straße gehen, bis die Menschheit tatsächlich weniger CO2 ausstößt. Darüber hinaus repariert er oft alte Fahrräder, obwohl er mit einem neuen Fahrrad unterm Strich sogar billiger wegkommen würde.
Manchmal erschrecke ich über mich und muss aufpassen, nicht zum Zyniker zu werden. Denn wenn ich einmal auf dieser Spur bin, sage ich bald überall: Das macht doch eh keinen Unterschied. Soll ich mich politisch engagieren? Bringt doch nichts. Soll ich mich für die Kirche, die Umwelt oder meinen Sportverein einsetzen? Nein, die Probleme sind viel zu groß, da mühe ich mich besser gar nicht erst ab.
Deswegen gefällt mir die Geschichte von dem kleinen Mädchen und den Seesternen so gut. Für viele, viele Seesterne kommt jede Rettung zu spät. Doch einzelne gelangen zurück ins Meer und überleben. Für sie macht es einen Unterschied. Ich kann nicht die ganze Welt retten, und vieles wird vergeblich sein. Doch ich will nicht den Glauben daran verlieren, dass es einen Unterschied macht, wenn ich mich einbringe. Und je mehr Menschen mit mir daran glauben, desto mehr können wir bewegen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38571
weiterlesen...

SWR2 Wort zum Tag

19JUL2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Es gibt Problembären, Problemrocker und Problempolitiker. Aber gibt es auch Problempäpste? Ich meine: Ja. Für mich ist Papst Pius IX. ein echter Problempapst. Denn bis zu seinem Pontifikat haben Bildung und Wissenschaft in der Kirche eine große Rolle gespielt! Christliche Schulen gibt es auf der ganzen Welt. Klosterbibliotheken, Buchdruck und Universitäten – was haben Christinnen und Christen da über Jahrhunderte alles aufgebaut.

Und dann kommt Papst Pius IX. und macht so vieles kaputt. Auf einem Konzil vor rund 150 Jahren hat er nicht nur festgelegt, dass Päpste ab jetzt unfehlbar sind. Er lehnt sich auch gegen die ganze Moderne auf. Der Fortschritt soll in der Kirche keinen Platz haben. Das hängt der Kirche bis heute an: Das Christentum gilt vielen als engstirnig und ohne Lust auf die Zukunft.

Ich möchte deshalb nochmal an die Bibel erinnern. Ganz am Anfang steht dort: Wir sind alle ein Abbild Gottes.  Nach seinem Bild geschaffen. Doch um Gott noch ähnlicher zu werden, kann ich etwas tun. Ich kann mich weiterbilden, kann ständig dazu lernen. Dabei darf ich alles kritisch hinterfragen. So kann der Mensch immer mehr zu einem „Bild Gottes“ werden. Daher sprechen wir von Bildung.  Ein gebildeter Mensch ist für mich jemand, der nicht nur viel weiß, sondern der auch seine Grenzen kennt. Der nicht anfängt Gott zu spielen, sondern Rücksicht nimmt auf die Natur und Risiken abwägt.

Wahrscheinlich hat die Kirche noch heute das größte Bildungsnetzwerk der Welt – trotz Papst Pius. Auf allen Kontinenten lernen Kinder und Jugendliche in kirchlichen Schulen oder studieren später in kirchlichen Universitäten. Allein der Orden der Jesuiten betreibt rund 40 Universitäten. Weil es darum geht, mehr von der Welt zu verstehen. Weil es dazu den ganzen Menschen braucht, der auch bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.

Wenn ich mich also am Wochenende mit Freunden zum Grillen treffe und sich alle mal wieder über die Kirche aufregen, dann will ich unterscheiden: Papst Pius IX. hat der Kirche einen Bärendienst erwiesen. Da fällt mir vor Wut heute noch die Grillzange aus der Hand. Viele Probleme der Kirche gehen auf ihn zurück. Aber es gibt auch diese andere Seite. Das Christentum ist und bleibt die größte Bildungsbewegung aller Zeiten. Dafür macht sich heute auch Papst Franziskus stark. Weil Bildung uns wachsen lässt – und sie uns Gott ähnlicher macht.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38012
weiterlesen...