SWR2 Wort zum Tag

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14OKT2023
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Als Jugendlicher habe ich wunderbare Tage im Freibad verbracht. Doch eine Situation hat sich bei mir ins Gedächtnis eingebrannt. Da hat mein Freund Sergio versucht, mir vor allen Leuten die Badehose herunter zu ziehen. Für ihn wohl ein Spaß unter Freunden. Auch wenn es Sergio nicht recht gelungen ist, wäre ich vor Scham fast im Boden versunken.
Die meisten werden sich an Situationen aus der Kindheit erinnern, in denen sie sich geschämt haben. Manchmal schämen wir uns schon für Kleinigkeiten wie einen Versprecher oder einen Pickel im Gesicht.
Scham ist ein Thema, über das ich nie gern gesprochen oder nachgedacht habe. Bis ich Stephan Marks getroffen habe. Er ist Sozialwissenschaftler und bildet seit vielen Jahren Menschen zum Thema Scham fort. Für ihn ist Scham ein Gefühl, über das wir viel zu selten reden. Dabei richten wir vieles in unserem Leben darauf aus, uns nicht schämen zu müssen.
Stephan Marks unterscheidet zwischen gesunder Scham und pathologischer Scham. Es geht um das Maß, das wir ertragen können. Es gibt Situationen, da zeigt uns die Scham, dass wir eine Grenze oder eine Regel verletzt haben. Zum Beispiel: Im Zug besetzt ein junger Mann zwei Sitze und verteilt überall seinen Kram. Da fordert ihn der Zugbegleiter auf, Platz für andere zu machen. Wenn er sich nun schämt, hat er im besten Fall etwas gelernt und achtet in Zukunft darauf.
Problematisch wird es, wenn die Scham nicht mehr aufhört. Wenn zum Beispiel ein Kind dauerhaft ausgeschlossen und ausgelacht wird. Wenn die Scham pathologisch wird, dann nimmt sie uns die Würde. Wer sich ständig schämt, verliert irgendwann sein Selbstwertgefühl. Dann ist Scham sogar ein echtes Gesundheitsrisiko.
Stephan Marks hat mir die Augen dafür geöffnet, wo überall die Scham unser Zusammenleben prägt. Ich meine, es ist gut, offen über dieses Thema zu sprechen. Dabei geht es nicht darum, dass niemand sich mehr schämen muss. Die Scham darf aber nicht zu groß werden und den Menschen erdrücken. Stattdessen kann ich die Scham wie einen Kompass nutzen. Durch ihn erkenne ich, wie ich die eigenen Grenzen und die Grenzen der anderen schützen kann. Dann kann die Scham helfen, dass alle ein Teil der Gemeinschaft bleiben.

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