SWR2 Wort zum Tag
In einem engen Schacht tief unter der Erde. Die Luft ist feucht und voller Kohlestaub. Laute Maschinen und ständige Lebensgefahr. Vor rund 150 Jahren hat Joseph als Bergmann in einer schlesischen Kohlemine gearbeitet. Berufsbezeichnung: Oberhauer.
Abends auf dem Sofa hat mir meine Oma früher von ihren Großeltern Thekla und Joseph erzählt. Joseph aus der Kohlemine. Seine Ehefrau Thekla war jedes Mal erleichtert, wenn er unbeschadet von einer Schicht nach Hause kam. Nicht nur, weil sie ihn geliebt hat. Sondern auch weil er mit seinem Lohn eine Familie mit sieben Kindern ernähren musste. Joseph hat immer einen Vogel im Käfig mit in die Mine genommen. Wenn der Vogel von der Stange gekippt ist, wussten alle: Nichts wie raus hier. Denn wenn Gas austritt, kommt es schnell zu tödlichen Unfällen.
Vier Generationen liegen zwischen mir und dem Leben von Joseph und Thekla. Mein Leben kommt mir bedeutend einfacher vor: Urlaub in Italien, ein Handy in der Tasche und volle Regale im Supermarkt. Joseph könnte wohl kaum glauben, wie stark sich alles gewandelt hat. Damals hatte man ein Klohäuschen im Garten. Heute hat jede Wohnung einen Wasseranschluss. Scheinbare Selbstverständlichkeiten, die damals der pure Luxus waren. Darum hatte Joseph auch noch keine Dusche: Seine Frau Thekla hat ihn nach jeder Schicht ordentlich abgeschrubbt. In einem großen Waschzuber. Der Kohlestaub saß in Kleidern und Haaren, einfach überall. Danach war Joseph ein neuer Mensch und konnte sich seine Pfeife anstecken.
Meine Oma hat mir viel aus unserer Familiengeschichte erzählt hat. Wie damals die Familie bei aller Armut zusammengehalten hat. Wenn es zu essen gab, war jeder froh um seine Portion. Wenn gebetet wurde, wusste jeder, wofür er bittet.
Ich will die Schicksale von damals weder verklären noch bemitleiden. Wer weiß, wie Thekla und Joseph auf unser Leben blicken würden. Vielleicht würden sie tatsächlich am meisten über die Toilette und die Dusche in meiner Wohnung staunen. Für mich relativiert der Gedanke an ihre Zeit viele Probleme, über die ich heute oft klage. Damals waren die meisten Menschen damit ausgelastet zu überleben. Heute kann ich streiten über Politik und Kirche, kann reisen, lesen und ins Konzert gehen. Viel mehr Freiheiten, viel mehr Möglichkeiten. Ich meine: Es lohnt sich auf das Gute zu sehen, was sich seitdem entwickelt hat. Denn das kann uns helfen, zuversichtlich in die Zukunft blicken.
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