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SWR4 Abendgedanken BW

Da geht er nun zur Schule, der Hannes, der jüngste Enkel von Erwin und Erika. Der Weg zur Schule führt am Haus der Großeltern vorbei. Nein, kurz reinschauen kann er heute nicht, er will doch nicht zu spät kommen. Mittags dann vielleicht.
Ganz ernst geht er mit seinem großen Schulranzen weiter.
„Ich weiß noch gut, wie das bei mir war, damals", sagt Erika, „vor 60 Jahren. Liebe Zeit, was hat sich nicht alles geändert seither."
„Die Ranzen waren viel kleiner", sagt Erwin. „Schiefertafel, Griffel, Läppchen. Mehr hat man am Anfang doch gar nicht gebraucht."
„Und das Pausenbrot", sagt Erika. „Das war wichtig. Etwas von daheim. Brot mit Margarine und ein bisschen Zucker drauf. Und die größte Sorge war, dass die Tafel sauber war am Morgen. Und die Griffel ganz geblieben sind."

„Ja", sagt Erwin, „und heute? Heute können sie mit dem Computer umgehen, bevor sie in die Schule kommen."
„Nicht alle", sagt Erika.
„Aber viele", sagt Erwin. „Und übers Fernsehen kriegen sie Dinge mit, für die sie doch wirklich noch zu klein sind. In was für eine Welt wachsen sie hinein?"
„Glaubst du", sagt Erika, „dass das früher auch so war? Dass unsere Großeltern sich Gedanken gemacht haben über uns?"
„Ich weiß nicht", sagt Erwin. „So kurz nach dem Krieg...? Die haben andere Sorgen gehabt damals. Wie es überhaupt weiter geht. Aber eins ist auf jeden Fall heute anders. Früher haben die Alten den Jungen was beigebracht. Ich hab viel bei meinem Großvater gelernt. Und heute - da zeigen mir meine Enkel, wie das geht mit dem Computer und dem Internet und den neuen Kameras."
„Glaubst du, die können von uns nichts mehr lernen?", fragt Erika. „Über das Leben wissen wir beide ja nun wirklich einiges. Glaubst du, dass das sich alles so sehr geändert hat? Da müssten wir doch unseren Enkeln etwas beibringen können."
„Liebe Frau", sagt Erwin, „hast du dir von deiner Großmutter Lebensweisheiten anhören wollen? Was war das denn, was die uns damals beibringen wollten? Dass man immer bescheiden sein soll und zufrieden mit dem, was man hat, solche Sachen. Hast du das damals hören wollen?"
„Nein", sagt Erika, „natürlich nicht. Trotzdem. Manches bleibt richtig. Dass man nicht allein ist auf der Welt. Dass man Rücksicht nehmen muss auf die anderen. Und dass es einem gut tut, wenn man eine Aufgabe hat. Das zum Beispiel."
„Oh je", sagt Erwin, „du willst das deinen Enkeln aber nicht predigen? Wenn sie es an uns und ihren Eltern nicht sehen, dann nützt alles Reden nichts."
„Ja", sagt Erika, „man muss sie wohl ziehen lassen. Und darauf vertrauen, dass der liebe Gott auch noch da ist. Aber wenn ich den kleinen Kerl so sehe mit seinem großen Ranzen..."

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SWR4 Abendgedanken BW

Erikas jüngster Enkel ist in die Schule gekommen. Bei der Schulanfangsfeier sind auch die Großeltern eingeladen und da geht Erika natürlich mit.
Der Hannes ist ein stolzer Erstklässler und Erika freut sich mit ihm, klar tut sie das, aber manchmal ist ihr ein bisschen wehmütig zumute. Dass die Zeit so schnell vergeht!
Als der Rektor eine Rede hält, lässt Erika ihre Gedanken schweifen. Lieber Gott, denkt sie, beschütz' unsern Bub, ich will es ja in deine Hand legen, dass es gut wird in der Schule, aber Sorgen mach ich mir trotzdem. Der Hannes ist noch so begeistert, und es wäre doch schade, wenn er enttäuscht würde. Da sind so viele andere Kinder, und die Lehrerin kann ja nicht alle im Blick behalten und auf jedes eingehen.
Wie sie so nachdenkt, halb für sich, halb im Gespräch mit Gott, fällt ihr ein kleiner Junge auf, der schräg vor ihr sitzt, das heißt, sie wird vor allem aufmerksam auf die Großmutter des Jungen, die ist auch mitgekommen. Eine ältere Frau in einem langen Mantel, mit einem eng gebundenen Kopftuch, eine Türkin offenbar. Und ihr Gesicht - das verrät viel Sorge, auch ein bisschen Stolz, aber vor allem Sorge.
Auf einmal spürt Erika, wie es dieser Frau geht. Sie macht sich die gleichen Gedanken um ihren Enkel wie ich, denkt Erika, sie will, dass er Freunde findet, dass die Lehrerin ihn mag und dass er gute Noten bekommt. Wenn ich mir schon Sorgen mache um den Hannes, wie geht es dann dieser Großmutter? Sie spricht wahrscheinlich kaum Deutsch. Wie muss das sein, wenn man so ganz fremd ist in einem Land? Wenn man dem Kind nicht schnell mal bei den Hausaufgaben helfen kann? Wenn man vieles nicht versteht, was hier so üblich ist? Und merkt, wie das Kind einem fremd wird, schon allein durch die andere Sprache? Das geht mir ja auch manchmal so mit meinen Enkeln, denkt sie, aber doch erst, wenn sie größer werden.
Ob sie auch für ihren Enkel betet, die türkische Großmutter? Ganz bestimmt tut sie das. Erika schaut sich um. So viele Familien, und für jede ist ihr Kind das Wichtigste. Auf einmal kommt ihr das merkwürdig vor. Ich hab immer nur an meinen Hannes gedacht, geht ihr durch den Kopf. Und die anderen Kinder, was ist mit denen? Sollte ich nicht auch für die anderen beten? Die Eltern und wir Großeltern, wir denken schon an unser Kind zuerst, aber der liebe Gott..., der hat doch viel Platz in seinem Herzen, das erzähl ich doch selber dem Hannes immer.
Lieber Gott, denkt sie, behalt' du doch die Kinder hier im Blick, und vor allem die, die es von Anfang an schwerer haben.
Und sie nimmt sich vor, dass sie die türkische Frau mal anspricht, so von Oma zu Oma müsste das doch gehen.

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SWR4 Abendgedanken BW

Da geht er, der kleine Mann! Und so ein großer Schulranzen! Erika schaut hinter ihm her. Jetzt ist er auch in der Schule, der Hannes, der jüngste von ihren Enkeln.
Er hat sich so darauf gefreut. Endlich groß sein, endlich wie die anderen in die Schule gehen! Erika hat ihn ein Stückchen auf dem Weg begleitet, den Rest geht er allein.
Ach Hannes, denkt Erika. Genieß' es noch ein bisschen, das klein sein. Wenn du wüsstest, was alles auf dich zukommt. Ach, ich wünsche dir so sehr, dass deine Schulzeit glücklich wird. Aber - kann es das überhaupt noch geben, eine glückliche Schulzeit?, denkt sie, und erschrickt. Erschrickt über die eigenen Gedanken.
Was ist denn los, dass man sich das kaum noch vorstellen kann?
Schule, denkt Erika, das bedeutet, dass der Ernst des Lebens anfängt.
Ab jetzt muss der Hannes lernen, pünktlich zu sein, er muss seine Hausaufgaben machen, auch wenn er lieber spielen würde. Er muss sich in der neuen Klasse zurechtfinden. Er bekommt einen Stundenplan und irgendwann auch Noten.
Und die Noten bringt er dann nach Hause und er zeigt sie auch uns Großeltern. Und da wird uns dann bescheinigt, was für ein Kind er ist, der Hannes. Ach nein, denkt Erika, darauf falle ich nicht mehr rein. Klar, Noten sind schon wichtig, aber so viel sagen sie nicht aus. Wenn ich dran denke, wie das war mit der Lena, als sie in Mathematik nichts mehr kapiert hat. Im normalen Leben hat sie rechnen können, wenn es nötig war. Mit Geld kann sie umgehen, oder etwas aufteilen unter den Geschwistern, alles kein Problem, aber wenn es dann auf dem Papier sein musste, war's ihr auf einmal fremd. Und dann ist sie bockig geworden und hat sich verweigert. Sie ist doch nicht dumm, sie ist geschickt mit den Händen, musikalisch ist sie sehr, und ihre Aufsätze waren immer witzig. Aber das Zeugnis - eine Katastrophe! Das hat ihr am Ende die ganze Schulzeit verdorben. Nein, denkt Erika, Noten sagen längst nicht alles über einen Menschen.
Der Hannes hat sich nicht mehr nach ihr umgedreht, andere Kinder sind dazu gekommen, und Erika sieht von weitem, wie er jetzt mit ihnen ins Schulhaus hineingeht.
Wenn ihm nur die Freude am Lernen nicht genommen wird, denkt sie.
Eigentlich ist es doch eine Freude, das Lernen. Und mit anderen Kindern zusammen sein, das ist doch auch schön, eigentlich.
Ach Hannes, was soll ich dir wünschen?
Dass du dir die Freude nicht nehmen lässt, das wünsch ich dir. Dass du Freunde findest und genug Zeit zum Spielen hast. Und dass deine Lehrerin Humor hat. Und gute Nerven.
Lieber Gott, denkt sie, ich wünsch' meinem Kleinen so sehr, dass er glücklich wird in der Schule.

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SWR4 Abendgedanken BW

„Sollen wir eigentlich die Tiefkühltruhe immer noch laufen lassen?", fragt Erika beim Abendessen.
„Wieso, du tust da doch immer die Himbeeren rein und das Eis und wenn du Kuchen übrig hast?" Erwin ist richtig erschrocken. „Es ist doch schön, dass immer was da ist, wenn die Kinder vorbeikommen."
„Ja, aber so oft kommen die auch nicht, und für uns zwei lohnt es sich eigentlich nicht mehr. Was wir brauchen, kann ich auch so kaufen."
„Ja, wenn du meinst." Erwin weiß nicht so recht, was das auf einmal soll.
Erika ohne ihre Tiefkühltruhe - das kann er sich gar nicht vorstellen.
Und plötzlich begreift er es. Sie will sich darauf einstellen, dass sie nicht mehr für alle sorgen muss. Sie will ihre Kreise enger ziehen.
Alle kennen Erika nur als die tüchtige, die alles selber macht, stolz ist auf das Gemüse aus dem Garten, den selbst gezogenen Salat, das eigene Obst.

Aber in der letzten Zeit hat sie einsehen müssen, dass ihre Sorge für die anderen nicht mehr so gefragt war. Die Kinder essen gar keine Marmelade. Von den eingemachten Zwetschgen hat sie ein paar Gläser wegtun müssen. Und wenn sie sich Sorgen macht über die Enkel, zum Beispiel dass Lena mehr lernen sollte, da hat die Schwiegertochter ihr zu verstehen gegeben, dass sie das gar nichts angeht. Dass Lena das selber kapieren muss.
Das hat ihr in der letzten Zeit zu schaffen gemacht. Wenn die Sorgen so ins Leere laufen...
Und jetzt versucht sie auf ihre Art, an das Problem ranzugehen. Aber ob das so gut ist?
„Wie ist das mit dem Fisch, den du immer einfrierst?"
„Kann ich frisch kaufen."
„Und das Eis?"
„Das passt in den Kühlschrank oben rein."
„Und das Gemüse aus dem Garten?"
„Das macht allmählich sowieso zu viel Arbeit, das können wir auch kaufen. Ist bestimmt nicht teurer, wenn man alles rechnet."
„Und die Beeren? Willst du die auch aufgeben?"
Sie sagt erst mal nichts. Erwin denkt: Jetzt hab ich sie.
„Ach", sagt sie dann, „ja, um die Beeren wär's schade. Dieses Gefühl - die ersten Erdbeeren holen, wenn sie schon ein bisschen warm sind von der Morgensonne..., oder auf der Veranda sitzen und die Johannisbeeren abzupfen. Und im Winter hat man dann noch was vom Sommer. Ach, ich glaube, ich lasse es noch eine Weile mit der Tiefkühltruhe. Wir beide sind doch auch noch da... Klingt das blöd, wenn ich sage, der liebe Gott sorgt sich doch auch noch um uns, auch wenn wir alt werden?"
„Nein", sagt er, „das klingt nicht blöd. Das gefällt mir sogar sehr gut. Das gefällt mir viel besser, als wenn du sagst: Für uns zwei lohnt es sich doch nicht.
„Ja", sagt sie, „wir beide, wir sind auch noch wichtig. Zufrieden?"

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SWR4 Abendgedanken BW

„Was ist, willst du nicht den vorderen Teil auch noch lesen?" Erwin und Erika sitzen beim Tee. Sie lesen dabei immer die Zeitung. Er zuerst den überregionalen Teil, sie fängt bei den Todesanzeigen an, liest dann die lokalen Nachrichten, und dann wird getauscht.
„Ach, lass mal", sagt sie, „heute nicht."
„Ja", sagt er, „das Wichtigste hören wir ja gleich in den Nachrichten."
„Ich bin dann mal in der Küche", sagt sie und steht auf.
Jetzt merkt er, dass etwas nicht stimmt. Der gewohnte Ablauf wäre andersrum: erst Nachrichten, dann Küche.
„Was ist mit dir los?"; fragt er.
„Was hab ich davon, wenn ich weiß, was wieder alles passiert ist", sagt Erika. „Die Welt draußen geht auch weiter, ohne dass ich alles mitbekomme."
Erwin wundert sich. Sonst hat sie zu allem, was sie gelesen hat, ihren Kommentar abgegeben. Lang wird sie das nicht durchhalten, denkt er, dazu ist sie zu neugierig. Oder ist es was Ernstes?
„Manchmal denke ich, ich bin nicht daheim hier auf der Welt", sagt Erika.
Oho, denkt Erwin, das hört sich nach was Ernstem an, und sagt erst mal nichts.
„Früher hab ich immer gedacht", sagt sie, „meine Familie, das ist mein Zuhause, das ist der Ort, wo ich sicher bin. Aber jetzt sind die Kinder aus dem Haus, und wir beide - wir leben ja auch nicht ewig. Und jetzt wird mir das immer mehr bewusst, dass wir..., dass wir fremd sind in dieser Welt. Im Grund sind wir fremd... Ach, ich kann einfach diese Bilder von den ölverschmierten Vögeln nicht mehr sehen. Und von den Erdbeben - diese Welt ist kein wirkliches Zuhause für Mensch und Tier. Solange wir gebraucht werden, denken wir nicht groß darüber nach, aber jetzt..."
Was sagt man dazu, denkt Erwin.
„Ich denke immer öfter daran, ob es wohl noch etwas anderes gibt", sagt sie." Etwas, das hinter unsrer Welt noch da ist oder darüber oder darunter."
„Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand", sagt Erwin, „oder wie hat das diese Bischöfin gesagt, die bei Rot über die Ampel...?"
„Ja", sagt Erika, „aber die ist noch jung. Da sagt man das leichter. Fallen, das klingt für mich nicht sehr beruhigend. Das macht mir eher Angst. Ich hab mal einen Spruch gelernt, der steht in der Bibel: ‚Wir haben hier keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir'. Daran will ich mich festhalten. Das hier ist nicht alles. Es muss noch mehr geben. Und da wird es keine Katastrophen geben und kein Elend und keine Angst mehr, und Gott, der ist nicht mehr weit weg, der ist dann ganz nah. Das steht in der Bibel, und daran will ich glauben. So, und jetzt gib mir mal den Rest von der Zeitung.

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SWR4 Abendgedanken BW

„Du, das könnte dich interessieren", sagt Erwin und schiebt Erika die Zeitung hin. „Die wollen einen Friedwald einrichten, zwischen Hohenentringen und dem Sportplatz."
„Ach", sagt Erika. „Da oben?" Die Gegend kennt sie gut, das ist im Wald zwischen Tübingen und Herrenberg.
„Ja", sagt er, „genau da, wo wir so gern spazieren gehen."
„Ich weiß nicht", sagt Erika, „wie ich das finde."
„Du redest doch immer davon, dass du das gut findest", sagt Erwin. „Sich in einem Friedwald begraben lassen."
„Ja", sagt sie, „man macht dann den anderen keine Arbeit mehr."
„Ach", sagt er, „vielleicht wollen die andern sich ein bisschen Arbeit machen mit deinem Grab, weil du ihnen wichtig warst."
„Das sollen sie mir vorher zeigen", sagt Erika. „Nein, den Friedwald find ich ganz schön. So mitten in der Natur begraben sein... Aber andererseits - wenn ich mir vorstelle, ich geh da oben spazieren und ganz in der Nähe liegen irgendwo ein paar Menschen, die mir vertraut waren, einfach so im Wald... Es ist ja nur die Asche, aber trotzdem. Man wird dann mitten in der Natur darauf gestoßen..."
„Ja, dass alles Leben ein Ende hat", sagt Erwin, „auch meins und deins. Das stört mich nicht, da kann man ruhig mal drüber nachdenken. Was mich stört, das ist das „Irgendwo". Irgendwo im Wald. Ich finde, zur Zivilisation gehört es, dass man seine Toten ordentlich begräbt und dass das ein Ort ist, wo nicht jeder drüber läuft oder wo die Wildschweine und die Füchse graben. Ich finde es wichtig, dass so ein Ort umfriedet ist. Umfriedet, das ist ein schönes Wort - ein Friedhof ist umfriedet, mit einer Mauer, und man findet dort seinen Frieden, hoffentlich."
„Ach", sagt sie, „den Frieden finden... Das hat ja wohl nichts damit zu tun, wo man mal begraben ist. Also, wenn ich mir vorstelle, dass wir bei Gott geborgen sind und dass wir da unseren Frieden finden, dann ist es doch egal, wo die Überreste sind."
„Ist das wirklich ganz egal?", fragt Erwin. „Meinst du nicht, dass wir uns da überschätzen? Dass diese Dinge nicht doch eine Rolle spielen? Und wenn sie für den Toten nicht mehr wichtig sind, dann doch für die Angehörigen. Um die geht es doch. Dass die einen Platz haben für die Trauer und das Drandenken."
„Das können sie auch im Wald", sagt Erika.
„Und dann gehen sie heim" sagt Erwin, „und haben das Gefühl, sie lassen dich allein zurück dort. Keine schöne Vorstellung, finde ich."
„Also", sagt Erika, „ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich da richtig finde und was nicht. Aber wenn es vor allem um die Angehörigen geht, dann muss man halt mal mit den Kindern darüber reden."

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SWR4 Abendgedanken BW

„So viel Honig..."
Erika kommt ins Schwärmen. Sie steht mit Erwin unter einer großen Linde und über ihnen summt es von unzähligen Bienen. „Lindenblütenhonig mag ich gern, der ist so schön cremig. Was glaubst du, wie viele Gläser gibt das in diesem Sommer von diesem Baum?"
„Also, ich denk an was ganz anderes", sagt Erwin. „Ich denke, wie gut es ist, dass es hier so viele Bienen gibt. So viele hab ich schon lang nicht mehr gesehen. Diese Milben, die den Bienenvölkern zu schaffen machen, und dann noch das verregnete Frühjahr... Also, ich freu mich einfach an dem Gesummse und dem Gekrabbel, das müssen ja Hunderte von Bienen sein. Wenn nicht noch mehr."
„Ja", sagt sie, „das ist gut. Viele Bienen - viel Honig."
„Du denkst mal wieder nur an das Nützliche", sagt Erwin. „Hör dir das doch mal an, das ist wie Musik, was da aus dem Baum kommt. Und dieses Gewusel! Und wenn man sich vorstellt, wie die da hingekommen sind. Eine Biene hat den Baum entdeckt und ist zum Stock geflogen und hat's den anderen mitgeteilt, mit ihrem Schwänzeltanz, und jetzt sind alle da, es ist, wie wenn sie ein Fest feiern wollten."
„Ja", sagt Erika, „und dann fliegen sie zurück zu ihrem Bienenstock und der Honig kommt in die Waben."
„Und den klauen die Menschen ihnen dann und speisen sie mit Zuckerwasser ab", sagt Erwin.
Erika ist richtig erschrocken. Was ist jetzt auf einmal los? Dann fällt ihr ein, dass Erwin keinen Honig mag, zu süß, sagt er immer.
„Und wie ist das mit der Milch", fragt sie. „Die gibt die Kuh ja auch nicht für dich, für deinen Kakao am Abend..."
„Ja", sagt er, „ich geb's ja zu, wir Menschen nützen die Natur aus, wir beuten die Tiere aus, wir jagen sie und töten sie sogar. Das ist nun einmal so, es gehört zum Menschsein, wir sind ja im Grund nicht anderes als hoch entwickelte Raubaffen."
„Du vielleicht", sagt Erika.
„Aber", sagt er, „es gibt Augenblicke, wo man sich einfach nur an der Natur freuen soll. Wo man einmal nicht daran denkt, welchen Nutzen hab ich davon, wie hol ich mir, was ich will, wie kann ich am besten Vorräte anlegen, nein, man kann sich doch auch mal nur daran freuen. Und staunen, was es alles gibt und wie wunderbar es ist."
Na ja, wenn man keinen Honig mag, kann man leicht so poetisch daherreden und die praktisch denkenden Leute damit belehren, denkt Erika.
„Wenn man dich so hört", sagt sie, „wundert man sich schon ein bisschen. Ich denk, wir sind nichts als bessere Raubaffen? Aber staunen, das können sie doch wohl nicht, deine Raubaffen, und Gedichte schreiben, das tun sie auch nicht, oder?"

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SWR4 Abendgedanken BW

„Ach, zum Kuckuck!“, ruft Erwin. Wieder ist der Bohrer abgerutscht. Erika hat endlich das Vogelhäuschen aus der Gartenecke geholt, und bevor sie es in den Keller räumt, will er schnell das Dach erneuern.
„Die Zugvögel sind doch schon lang da“, sagt Erika, „und alle haben gebrütet, manche schon zweimal. Aber den Kuckuck hab ich erst einmal gehört dieses Jahr.“
„Den wirst du bald gar nicht mehr hören“, sagt Erwin. „In der Zeitung stand, der Kuckuck hat große Probleme.“
„Aber er macht es sich doch leicht“, sagt Erika, „legt seine Eier einfach in fremde Nester und muss sich um nichts mehr kümmern.“
„Und genau das ist sein Verhängnis“, sagt Erwin. „Wegen der Klimaveränderung kommen die anderen Vögel früher, aber der Kuckuck nicht, und wenn er dann kommt, sind die anderen schon beim Brüten, und er kann seine Eier nicht mehr heimlich in fremde Nester legen.“
„Ach“, sagt Erika, „und was geschieht dann mit ihm?“
„Tja“, sagt Erwin, „das wird man sehen, ob er überlebt. Gib mir doch mal die Feile.“
„Ausgerechnet der Kuckuck“, sagt Erika. „Wenn er ruft, ist es immer etwas Besonderes. Und die Kuckucksuhren, da freut man sich doch auch, wenn man mal wieder eine sieht.“
„Die können von mir aus gern aussterben“, sagt Erwin und nagelt das Dach fest.
„Aber der Kuckuck“, sagt Erika, „kennst du einen anderen Vogel, über den es so viele Lieder gibt? Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald…, Auf einem Baum ein Kuckuck saß…, Der Kuckuck und der Esel... Aber wie er das macht mit seinen Eiern, das ist schon schrecklich, ich hab das mal gesehen, im Film, wie ein junger Kuckuck die anderen Vogelkinder aus dem Nest drückt. Furchtbar. Und trotzdem freut man sich, wenn man ihn hört.“
„Ja“, sagt Erwin, „der Kuckuck. Vielleicht erkennen wir etwas von uns in ihm wieder.“ „Jetzt übertreibst du aber“, sagt Erika.
„Wieso?“, sagt Erwin, „Der Kuckuck ist schlau, er ist richtig raffiniert, und er lebt auf Kosten von anderen, das sagst du selber. Aber er wird aussterben, wenn er sich nicht umstellt.“
„Aber kann er das, sich umstellen?“, fragt Erika.
„Das wird man sehen“, sagt Erwin. „Ich frag mich, ob wir Menschen das können, uns umstellen. Zur Zeit sieht es doch so aus, als ob wir unsere eigenen Lebensgrundlagen kaputt machen.“
„Aber der Kuckuck weiß doch nicht, was er anders machen soll“, sagt Erika. „Er weiß doch gar nicht, wie das geht, ein Nest bauen und Junge großziehen.“
„Das ist der Unterschied“, sagt Erwin. „Wir Menschen, wir könnten’s eigentlich wissen, was wir anders machen müssten.“

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SWR4 Abendgedanken BW

„Glaubst du, dass Gott sich von Menschen beeindrucken lässt?", fragt Erwin.
„Wie - beeindrucken?", fragt Erika zurück.

„Na ja", sagt er, „wenn zum Beispiel viele Menschen um etwas beten - glaubst du, dass das eher in Erfüllung geht, als wenn ich allein bete, ich allein in meinem stillen Kämmerlein, in aller Bescheidenheit? Oder wenn jemand betet, der darin viel Übung hat, also einer, den der liebe Gott besser kennt als mich zum Beispiel? Glaubst du, dass diese Gebete dann eher erhört werden?"

Einen Moment ist Erika ratlos. Eigentlich ist das doch gar keine Frage, will sie sagen, selbstverständlich macht Gott keine Unterschiede, und es ist auch nicht so, dass er die einen besser kennt als die anderen, was ist das überhaupt für eine seltsame Vorstellung. Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die alles besonders gut wissen und sich womöglich noch etwas einbilden auf ihr gutes Verhältnis zu Gott. So ähnlich steht es doch in der Bibel. Und beim Beten gibt es auch keine Unterschiede. Profibeter werden bestimmt nicht eher angehört als Amateure.

Das wäre wohl die richtige Antwort, denkt sie, aber etwas lässt sie zögern. Glaube ich das selber eigentlich, was ich mir da vorsage?, überlegt sie. Dass vor Gott alle gleich sind? Dass er mich genauso lieb hat wie die ganz Frommen? Glaube ich das?

„Ich weiß es nicht", sagt sie dann. „Eigentlich denke ich, dass Gott keine Unterschiede macht, dass er jedem gleich gut zuhört."

„Aber?", fragt Erwin.
„Na ja", sagt Erika, „es kann schon mal sein, dass ich nicht beten mag, weil ich denke, Gott hört mich sowieso nicht. Weil ich nicht wichtig genug bin. Und wenn ich von Leuten höre, die regelmäßíg zusammenkommen und für jemanden beten, also für einen Kranken zum Beispiel, dann denke ich schon, dass diese Gebete vielleicht doch mächtiger sind als meine."

„Ja, was denn nun?", sagt Erwin. „Macht er Unterschiede oder macht er sie nicht?"

„Er macht keine Unterschiede", sagt sie, „vor Gott sind wir alle gleich, aber das ist nicht so leicht zu glauben. Wir Menschen, wir lassen uns beeindrucken von manchen Sachen. Und dann denken wir, Gott wär' auch so. Ich glaube, das ist die richtige Antwort auf deine Frage. Obwohl - wenn ich weiter drüber nachdenke - ich glaube doch, dass er sich beeindrucken lässt. Nicht davon, wie viel Übung einer hat im Beten oder wie fromm er ist, aber - ich glaube, wenn Gott merkt, dass es uns richtig ernst ist und dass wir ihm zutrauen, dass er helfen kann, das hat schon eine Wirkung bei ihm."

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SWR4 Abendgedanken BW

„Also, ich weiß nicht", sagt Erwin, „ich finde das übertrieben."
Er ist mit Erika beim Einkaufen, und offenbar hat es sich jetzt wirklich überall eingebürgert, dieses: Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Die Kassiererin in der Drogerie sagt es, die Frau beim Metzger, der Kellner, bei dem sie ihren Cappuccino bezahlen.
„So schön kann mein Tag gar nicht werden, wie die es mir dauernd wünschen," brummt Erwin.
„Wieso, was stört dich dran", fragt Erika, „das ist doch nett. Mich muntert das immer ein bisschen auf, wenn jemand freundlich ist zu mir, und dann versuche ich es auch zu sein, so freundlich und aufmerksam."

„Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass die das wirklich so meinen", sagt Erwin, „das kommt doch ganz automatisch: ‚Sechs Euro 80, sammeln Sie Rabattpunkte? Nein? 20 Cent zurück, Wiedersehen, schönen Tag noch...' Als nächstes wünschen sie einen ganz wunderschönen Tag  Also mir geht das nur noch auf die Nerven."

„Meine Güte", sagt Erika, „also manchmal hab ich das Gefühl, du suchst wirklich nach den Sachen, die dir auf die Nerven gehen können. Ein bisschen Freundlichkeit ist doch nicht schlecht zwischen den Menschen, aber du musst immer alles runterziehen, also das geht mir auf die Nerven."

„Mich stört doch nur", sagt Erwin, „dass das nicht echt ist, das ist antrainiert, die müssen das machen, wahrscheinlich kontrolliert das ab und zu mal einer, und das ganze ist sowieso nur dafür gut, dass die Kunden lieber kommen und mehr kaufen. Auf diese Art von Freundlichkeit kann ich verzichten."

„Ich glaube", sagt Erika, „dass so was auch von außen nach innen geht."
„Bitte was?"
„Also wenn ich außen freundlich bin, dann wandert das nach innen und dann fühl ich mich innen auch freundlicher."

„Das sind ja merkwürdige Vorstellungen", sagt Erwin. „Wenn Freundlichkeit nicht von innen kommt, ist sie nicht echt, sondern falsches Getue: Nur was wirklich von Herzen kommt, das ist echt, und keine Kassiererin kann alle ihre Kunden von Herzen gern haben, also soll sie auch nicht so tun müssen als ob."

„Du kannst mich mal gern haben", sagt Erika. „Deine schlechte Laune verdirbt mir die Stimmung. Das kommt davon, wenn man meint, man könnte auf so was wie Höflichkeit und Freundlichkeit verzichten."

„Und du bist immer freundlich und höflich?", sagt Erwin.
Sie bleiben stehen und fangen an zu lachen.
„Na, wenigstens wissen wir beide immer, wie der andere es meint", sagt Erika.
„Und wenn ich freundlich bin, dann kommt es von Herzen", sagt Erwin und nimmt sie in den Arm.
„Und trotzdem meine ich", sagt sie, „dass man es auch ein bisschen üben könnte."

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