SWR4 Abendgedanken BW

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„So viel Honig..."
Erika kommt ins Schwärmen. Sie steht mit Erwin unter einer großen Linde und über ihnen summt es von unzähligen Bienen. „Lindenblütenhonig mag ich gern, der ist so schön cremig. Was glaubst du, wie viele Gläser gibt das in diesem Sommer von diesem Baum?"
„Also, ich denk an was ganz anderes", sagt Erwin. „Ich denke, wie gut es ist, dass es hier so viele Bienen gibt. So viele hab ich schon lang nicht mehr gesehen. Diese Milben, die den Bienenvölkern zu schaffen machen, und dann noch das verregnete Frühjahr... Also, ich freu mich einfach an dem Gesummse und dem Gekrabbel, das müssen ja Hunderte von Bienen sein. Wenn nicht noch mehr."
„Ja", sagt sie, „das ist gut. Viele Bienen - viel Honig."
„Du denkst mal wieder nur an das Nützliche", sagt Erwin. „Hör dir das doch mal an, das ist wie Musik, was da aus dem Baum kommt. Und dieses Gewusel! Und wenn man sich vorstellt, wie die da hingekommen sind. Eine Biene hat den Baum entdeckt und ist zum Stock geflogen und hat's den anderen mitgeteilt, mit ihrem Schwänzeltanz, und jetzt sind alle da, es ist, wie wenn sie ein Fest feiern wollten."
„Ja", sagt Erika, „und dann fliegen sie zurück zu ihrem Bienenstock und der Honig kommt in die Waben."
„Und den klauen die Menschen ihnen dann und speisen sie mit Zuckerwasser ab", sagt Erwin.
Erika ist richtig erschrocken. Was ist jetzt auf einmal los? Dann fällt ihr ein, dass Erwin keinen Honig mag, zu süß, sagt er immer.
„Und wie ist das mit der Milch", fragt sie. „Die gibt die Kuh ja auch nicht für dich, für deinen Kakao am Abend..."
„Ja", sagt er, „ich geb's ja zu, wir Menschen nützen die Natur aus, wir beuten die Tiere aus, wir jagen sie und töten sie sogar. Das ist nun einmal so, es gehört zum Menschsein, wir sind ja im Grund nicht anderes als hoch entwickelte Raubaffen."
„Du vielleicht", sagt Erika.
„Aber", sagt er, „es gibt Augenblicke, wo man sich einfach nur an der Natur freuen soll. Wo man einmal nicht daran denkt, welchen Nutzen hab ich davon, wie hol ich mir, was ich will, wie kann ich am besten Vorräte anlegen, nein, man kann sich doch auch mal nur daran freuen. Und staunen, was es alles gibt und wie wunderbar es ist."
Na ja, wenn man keinen Honig mag, kann man leicht so poetisch daherreden und die praktisch denkenden Leute damit belehren, denkt Erika.
„Wenn man dich so hört", sagt sie, „wundert man sich schon ein bisschen. Ich denk, wir sind nichts als bessere Raubaffen? Aber staunen, das können sie doch wohl nicht, deine Raubaffen, und Gedichte schreiben, das tun sie auch nicht, oder?"

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