SWR4 Abendgedanken BW

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Da geht er, der kleine Mann! Und so ein großer Schulranzen! Erika schaut hinter ihm her. Jetzt ist er auch in der Schule, der Hannes, der jüngste von ihren Enkeln.
Er hat sich so darauf gefreut. Endlich groß sein, endlich wie die anderen in die Schule gehen! Erika hat ihn ein Stückchen auf dem Weg begleitet, den Rest geht er allein.
Ach Hannes, denkt Erika. Genieß' es noch ein bisschen, das klein sein. Wenn du wüsstest, was alles auf dich zukommt. Ach, ich wünsche dir so sehr, dass deine Schulzeit glücklich wird. Aber - kann es das überhaupt noch geben, eine glückliche Schulzeit?, denkt sie, und erschrickt. Erschrickt über die eigenen Gedanken.
Was ist denn los, dass man sich das kaum noch vorstellen kann?
Schule, denkt Erika, das bedeutet, dass der Ernst des Lebens anfängt.
Ab jetzt muss der Hannes lernen, pünktlich zu sein, er muss seine Hausaufgaben machen, auch wenn er lieber spielen würde. Er muss sich in der neuen Klasse zurechtfinden. Er bekommt einen Stundenplan und irgendwann auch Noten.
Und die Noten bringt er dann nach Hause und er zeigt sie auch uns Großeltern. Und da wird uns dann bescheinigt, was für ein Kind er ist, der Hannes. Ach nein, denkt Erika, darauf falle ich nicht mehr rein. Klar, Noten sind schon wichtig, aber so viel sagen sie nicht aus. Wenn ich dran denke, wie das war mit der Lena, als sie in Mathematik nichts mehr kapiert hat. Im normalen Leben hat sie rechnen können, wenn es nötig war. Mit Geld kann sie umgehen, oder etwas aufteilen unter den Geschwistern, alles kein Problem, aber wenn es dann auf dem Papier sein musste, war's ihr auf einmal fremd. Und dann ist sie bockig geworden und hat sich verweigert. Sie ist doch nicht dumm, sie ist geschickt mit den Händen, musikalisch ist sie sehr, und ihre Aufsätze waren immer witzig. Aber das Zeugnis - eine Katastrophe! Das hat ihr am Ende die ganze Schulzeit verdorben. Nein, denkt Erika, Noten sagen längst nicht alles über einen Menschen.
Der Hannes hat sich nicht mehr nach ihr umgedreht, andere Kinder sind dazu gekommen, und Erika sieht von weitem, wie er jetzt mit ihnen ins Schulhaus hineingeht.
Wenn ihm nur die Freude am Lernen nicht genommen wird, denkt sie.
Eigentlich ist es doch eine Freude, das Lernen. Und mit anderen Kindern zusammen sein, das ist doch auch schön, eigentlich.
Ach Hannes, was soll ich dir wünschen?
Dass du dir die Freude nicht nehmen lässt, das wünsch ich dir. Dass du Freunde findest und genug Zeit zum Spielen hast. Und dass deine Lehrerin Humor hat. Und gute Nerven.
Lieber Gott, denkt sie, ich wünsch' meinem Kleinen so sehr, dass er glücklich wird in der Schule.

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