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Ein Brauch in meiner Heimatregion hat mir die Augen geöffnet. Jedes Jahr am Abend von Christi Himmelfahrt findet in Weingarten bei Ravensburg eine Lichterprozession statt. Alle sind auf den Beinen, und jeder hat eine Kerze mit einem farbigen Windschutz dabei. Wenn es dunkel wird, sieht man die einzelnen Menschen gar nicht mehr, nur noch gelbe, rote und bläuliche Lichter. Die Prozession zieht zu einem Hügel. Und am Hang verteilen sich die Leute unter Buchen und Kastanien. Alle schauen hinauf zur Spitze des Hügels. Dort ist ein großer Bildstock, auf dessen Dach ein Kreuz aus Lichtern steht. Im Bildstock selbst sieht man eine Kreuzigungsgruppe mit Jesus, Maria und Johannes in Lebensgröße. Dieses Bild hat mich als kleiner Junge im Kindergartenalter schon tief beeindruckt.
Das Besondere daran ist für mich der Zeitpunkt: Ich sehe die Szene nicht wie üblich zur Passionszeit, sondern an Christi Himmelfahrt, also in der Osterzeit. Mit der Überzeugung also, dass Jesus auferstanden ist. Die Erzählungen, dass Jesus lebt und mit seinen Freunden in Beziehung bleibt, verändern den Blick auf seinen Tod entscheidend. Ich blicke auf den Gekreuzigten und sehe den Auferstandenen. Das wird an diesem Abend sichtbar, wenn dieses Kreuz und die vielen Lichter der Menschen zeigen, dass das Licht stärker ist als das Dunkel. Und die Natur spiegelt, dass das Leben nach dem Winter neu erwacht und in voller Blüte steht: Die Kastanienbäume richten ihre Blüten wie Kerzen in den Himmel und die Luft ist voll vom Geruch nach Flieder. Auch die Natur bestärkt mich da in meinem Glauben, dass das Leben stärker ist als der Tod.
Schon als Kind habe ich das als ein tiefes Gefühl gespürt. Es hat mir eine Zuversicht gegeben, dass alles gut wird, weil ich geborgen bin, und weil Gottes Liebe stärker ist als der Tod und alles, was das Leben bedroht. Dieses Grundgefühl ist für mich eine Basis für meinen Glauben geworden. Ich habe das alles erst viel später verstanden und durchdenken können. Aber heute als Erwachsener erinnere mich an lauen Maiabenden gerne an diese Grundlegung meines Glaubens. Ich baue darauf, dass Auferstehung möglich ist.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37630Nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien haben Journalisten ein Foto veröffentlicht, das mich kaum loslässt: Es zeigt einen Mann in Warnweste: Mesut Hancer. Er sitzt auf den Trümmerteilen seines Hauses und hält die Hand seiner Tochter. Sie ist tot. Nur ihre Hand schaut aus den Trümmerteilen hervor, ihr Körper ist noch darunter begraben. Ihr Vater sitzt bei ihr, hält ihre Hand und lässt sie nicht mehr los.
Zum einen wird das Leid deutlich, und es zeigt, wie ohnmächtig Menschen sich fühlen, wenn so etwas passiert. Und es zeigt auch, wie unfassbar groß die Liebe von Eltern sein kann.
Ich fühle etwas von der Trauer mit, die diese Eltern haben. Und ich weiß, dass sich das bei diesem Erdbeben zig-fach ereignet hat, was ich hier nur an einem Beispiel sehe. Wenn mir das schon so unter die Haut geht, dann ahne ich, dass ich gefühlsmäßig und in meiner Vorstellung gar nicht erfassen kann, was bei dieser Katastrophe an Leid geschehen ist. Dennoch verbindet es mich mit diesen Menschen, die ich gar nicht persönlich kenne. Sie leben in ihrem Land und ihrer Kultur so ganz anders als ich hier in Süddeutschland. Aber das haben wir als Menschen gemeinsam: Überall auf der Welt lieben Eltern ihre Kinder, sie wollen sie schützen und wünschen ihnen nur das Beste.
Als Christ finde ich dieses Leid unerträglich. Und ich frage mich, wie Gott so etwas zulassen kann, und wo er ist, wenn Menschen so etwas zustößt. Dazu gibt es natürlich viele theologische Antworten. Aber keine ist dem Leid angemessen. Und es wäre in meinen Augen auch eigenartig, wenn es dazu eine passende Antwort gäbe.
Ich will mir Gott nicht als einen Schöpfer vorstellen, dem hier eine grobe Panne passiert ist, oder als einen, der das Schicksal noch drehen könnte, weil er alles kann. Wenn er nur wollte. Für mich ist Gott eher wie dieser Vater, wie Mesut Hancer, der ohnmächtig mitleidet, wenn wir Menschen Schicksalsschläge aushalten müssen. Ich denke, so hat er auch mit Jesus gelitten, als er verzweifelt gestorben ist. Und so leidet er auch mit mir, wenn ich ohnmächtig einer Krankheit ausgesetzt bin, und mit allen, bei denen das Leben so hart zuschlägt.
Aber seine Stärke und Macht liegt in dieser Liebe, die uns nie verlässt und uns immer hält. Auch wenn ich falle, werde ich von ihm gehalten. Wenn ein menschlicher Vater das kann, wird Gott das auch einlösen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37629Wenn ich das Vaterunser bete, bleibe ich jedes Mal bei dem Satz hängen „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“. Mir fällt da gerne die Situation ein, wie Jesus vor seiner Verhaftung und seinem Tod so gebetet hat. Er sieht die Katastrophe kommen und unterwirft sich Gottes Willen. Und wenn ich das Vaterunser bete, stelle ich mir an dieser Stelle auch immer die Frage, ob ich mich damit auch den Katastrophen beugen muss, die noch vor mir liegen. Das würde mich verwundern, denn Krankheiten, Krieg und Klimakatastrophe – ich weiß nicht, ob ich mich da fügen will. Oder sogar kann. Wenn ich so denke, will ich Gott widersprechen. Aber mich stört an dieser Vorstellung, dass ich damit Gott als einen sehe, der schlimme Ereignisse verursacht und sie mir und uns allen zumutet. Dabei gibt es gar keinen Grund, warum er das sollte.
Ein Gott, der Unheil schickt, den Menschen misstraut und sie testet und prüft, entspricht auch nicht dem, was Jesus geglaubt hat. Und von Jesus stammt ja dieses Gebet mit dem Satz: „Dein Wille geschehe“.
Jesus sieht in Gott eine väterliche und mütterliche Gestalt, die sich um das Wohl des Menschen sorgt und alles daransetzt, dass es den Menschen und allen Geschöpfen dieser Welt gut geht. Er verkündet einen Gott, der uns unbedingt unsere Fehler verzeihen will und uns immer wieder und wieder eine Chance gibt, bessere Menschen zu werden. Jesus ist davon überzeugt, dass Gott die Welt schon von Anfang an gut gemacht hat und sie letzten Endes auch zum Guten führen wird. Er testet die Menschen nicht mit Katastrophen. Da wäre er ja ein Sadist. Im Gegenteil, Jesus glaubt, dass Gott trotz all dieser schlimmen Ereignisse alles zum Guten führen kann.
Wenn ich im Vaterunser bete, „Dein Wille geschehe“, will ich umdenken. Ich sage Gott damit, dass ich ihm vertrauen möchte. Und selbst wenn schlimme Ereignisse mich treffen, will ich mich auf ihn verlassen und darauf, dass sein Wille letztlich geschieht: Der Wille, dass alles gut wird.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37628Schon im Mittelalter gab es Segnungsfeiern für homosexuelle Paare! Das weiß man, weil der französische Philosoph Michel de Montaigne das in seinem Reisetagebuch notiert. Als er im 16. Jahrhundert nach Rom reist, berichtet er von einem Kloster, in dem die Mönche sich untereinander verheiraten. Für Michel de Montaigne ein Skandal! Aber scheinbar war das dort einmal üblich und nicht nur dort.
Es ist nicht ganz sicher, was Michel de Montaigne da genau beobachtet hat. Aber vieles spricht dafür, dass er ein Ritual gesehen hat, das auf Deutsch „Verbrüderung“ heißt. Im 20. Jh. hat John Boswell, Professor im amerikanischen Yale, die Quellen dazu studiert und viele Belege für so ein Ritual gefunden, alte christliche Dokumente. Sie beschreiben einen Gottesdienst, bei dem zwei Männer sich in der Kirche vor dem Priester „verbrüdern“: Sie tauschen Ringe und versprechen sich, dass sie in Liebe zusammenhalten. Dabei halten sie sich gegenseitig an den Händen. Der Priester legt seine Stola um ihre Hände und macht so deutlich, dass sie verbunden sind. Dann führt er sie dreimal um den Altar. Die Gemeinde singt dazu Psalm 133, in dem es heißt: „Seht, wie köstlich es ist, wenn Brüder in Eintracht zusammen sind“. Danach segnet der Priester die beiden.
John Boswell belegt diese Segnungsfeier in mehreren Textversionen aus Ägypten und Rom seit dem 11. Jahrhundert. Die Kirchenoberen haben das Ritual erst viel später verboten. Heute wird es noch von manchen abgetan, als sei das ein Ritual unter Handwerkern gewesen, eine so genannte „Zunftbrüderschaft“. Dabei ist es doch einer Eheschließung sehr ähnlich. Für John Boswell, der selbst homosexuell war, ist klar, dass es hier um eine Möglichkeit geht, wie Menschen im Mittelalter als Christen homosexuell leben konnten.
Wenn das wirklich stimmt, dann hätte die Segnung von homosexuellen Menschen eine mehr als jahrhundertelange Tradition. Und Tradition ist in der katholischen Kirche ein starkes Argument.
Wenn aber nur John Boswells Wunsch der Vater des Gedankens wäre, so wäre es doch gut gewünscht. Und es wäre an der Zeit, so einen Segen einzuführen. In meinen Augen gibt es keinen Grund, warum die Liebe von Menschen nicht gesegnet werden sollte. Wie die Autoren der Bibel sagen: Wo die Liebe ist, da ist Gott.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37627Vor Kurzem hat meine Mutter etwas aufgeregt aus Norddeutschland angerufen. In der Zeitung hatte sie gelesen, dass die Kirche, in der ich als Jugendliche gewesen bin, verkauft und künftig anders genutzt werden soll. Als Begegnungs- oder Kulturzentrum oder etwas in der Art. Umwidmung nennt man das, wenn eine Gemeinde sich von einem Kirchengebäude trennt. Am Telefon habe ich erst einmal geschluckt. Viele schöne Erinnerungen habe ich an diesen Ort: Fröhliche Feste, lebendige Gottesdienste, Menschen, die füreinander dagewesen sind. Diese Kirche war für mich als Jugendliche ein Ort, um über Gott und die Welt zu diskutieren: Ich habe Trost erfahren, als ein lieber Mensch gestorben ist, wurde aufgefangen. Dazu haben wir gelernt, wie Bierbänke aufgestellt werden und dass ein Chor nur auftreten kann, wenn man zusammen probt.
Es tut mir weh, dass es diesen Ort, diese Kirche, nicht mehr geben soll. Aber, ich gebe zu, dass ich beinah 30 Jahre nicht mehr dort gewesen bin. Von den Veränderungen dort habe ich wenig mitbekommen. Die Kirche dort hat sich die Entscheidung sicher nicht leicht gemacht. Aber, ich verstehe es: zwei andere Kirchen sind gleich um die Ecke, die Kosten für alle Gebäude kann sie mit immer weniger Mitgliedern auf Dauer nicht mehr bezahlen. Veränderungen gehören zum Leben dazu. Manche sind ein Fortschritt, über die ich einfach nur froh bin, zum Beispiel wenn ich an den Besuch beim Zahnarzt denke.
Andere Veränderungen tun mir weh: Ich war gerne in dieser Kirche. Es waren richtig gute Zeiten. Heute sieht es am selben Ort mit einem realistischen Blick leider anders aus. Im Kopf kann ich das alles nachvollziehen und weiß, dass die Entscheidung dort richtig ist, im Bauch fühlt es sich noch anders an. Aber, wie es weiter geht, wie und wo ich meinen Glauben heute lebe, das liegt doch an mir. Ich habe in meiner Kirchengemeinde damals eine Menge mitbekommen, dafür bin ich dankbar. Solche besonderen Orte muss es auch heute geben, davon bin ich überzeugt. Orte, an denen der Glauben zeitgemäß gelebt wird. Diese Kirche meiner Jugend gibt es nicht mehr. Jedoch eine im Hier und Jetzt - und diese möchte ich dort, wo ich jetzt lebe, mitgestalten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37556„Meine Koffer sind gepackt“ hat vor kurzem ein älterer Freund zu mir am Telefon gesagt. „Wenn es so weit ist, ich bin bereit zu gehen!“ Etwas flapsig habe ich ihm geantwortet „Gut! Ich finde jedoch, dass deine Koffer noch eine Zeitlang in der Ecke stehen können.“ „Schauen wir mal“ war seine Antwort und er hat gelacht.
Das Bild vom Koffer, der für die letzte Reise gepackt bereitsteht, ist mir nachgegangen. Es hat mich an die gepackte Tasche vor der Geburt meiner Kinder erinnert. Auch sie signalisierte „Ich bin bereit!“ Bereit zu sein für das Leben oder eben auch den Tod, ist ein Gedanke, der mir gefällt. Leben und Tod sind voneinander nicht zu trennen, das eine geht nicht ohne das andere. Über das Leben sprechen wir oft, wir haben Vorstellungen davon. Aber wer spricht schon über das Ende? Tod und Sterben sind , immer noch Tabuthemen.
Mein Vater hat ein Gespräch darüber verweigert. Das habe ich sehr schade gefunden. Ich hätte zum Beispiel gerne gewusst, wie er sich seine Beerdigungsfeier gewünscht hätte. Ich glaube, mein Vater hatte Angst vor dem Sterben. Darum hat er vielleicht seinen Koffer nicht packen wollen, ihn vor sich versteckt. Wie anders klingt da „Ich bin bereit zu gehen!“ - wie mein Freund es von sich sagen kann.
Gewiss am Ende weiß man nie was kommt, aber so zu leben, dass ich gehen könnte und auf eigene Weise mit mir im Reinen bin, fühlt sich für mich gut an. Meine Familie, meine besten Freunde sollen darum jetzt mitten im Leben wissen, wie wertvoll sie mir sind – hier und da sage oder schreibe ich ihnen das. Oder ich lade sie spontan ein, mit mir das Leben und den Moment zu feiern. Wer weiß schon, was morgen sein wird? Wir können auch über den Tod sprechen: Ich glaube, dass Gott mir mein Leben geschenkt hat. Wenn ich sterbe, denke ich, werde ich nicht in ein Nichts gehen, sondern setze darauf, dass ich auf eigene Weise bei Gott aufgehoben bin. Und ich würde mich freuen, wenn zum Abschied mein Lieblingschoral gesungen wird, denn der gab und gibt mir Kraft im Leben: „Wer nur den lieben Gott lässt walten, und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten, in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott dem Allerhöchsten traut, der hat auf keinen Sand gebaut.“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37555Ich lebe gerne in einer Kleinstadt. Man kennt sich, miteinander gestaltet man das Leben. Die Vereine, der Stadtrat, die Geschäftswelt, die Kirche. Jeder hat irgendwie seinen Platz und seine Aufgabe. Man merkt, wenn jemand fehlt. In den letzten Monaten hat eine Bankfiliale geschlossen. An der Tür wird auf die nächste Filiale verwiesen, die mal eben 30 Kilometer entfernt ist – dazu der Hinweis: „Nutzen Sie gerne unsere Onlinedienste.“ Das kann ich tun, älteren Menschen fällt das schon schwerer. Auch kleine Fachgeschäfte haben in den letzten Monaten geschlossen, Sportvereine suchen händeringend Trainer, die Kirchen Ehrenamtliche. Was ist nur los?
Ich weiß, heute muss sich alles rechnen und jeder hat viel zu tun. Aber: Das Leben kann doch nicht nur im Internet stattfinden. Das Leben, das sind für mich echte Begegnungen. Das Gespräch mit der Bäckerin am Morgen, die Apothekenmitarbeiterin, die beim Lesen meines Rezeptes gleich wusste, dass mir das Medikament nicht guttun würde. Der vom Fußballverein verantwortete Maihock - das alles hat einen hohen Wert, eine eigene Lebensqualität.
Gut, hier und da knirscht es einmal, weil man sich eben kennt oder man eine lange Geschichte miteinander hat – aber man weiß sich doch verbunden und wird vor allem aufgefangen, wenn das Leben einmal schwer ist. In der Bibel heißt es an einer Stelle „Suchet der Stadt Bestes (…) und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s euch auch wohl!“ – Der Gedanke gefällt mir und daran möchte ich festhalten. Das Beste einer Stadt oder auch eines Dorfes miteinander zu suchen und zu gestalten, ja, für die Menschen um mich herum zu beten und auch ganz praktisch etwas für die Gemeinschaft tun. Dazu gehört dann, dass ich die lokalen Geschäfte unterstütze, mich hier und da in eine Helfer- oder Kuchenliste eintrage und fünf Euro mehr bezahle als im Internet. Aber, da bin ich mir sicher, die zahlen sich auf ganze andere Weise ganz anders aus: Mit Nähe, mit Vertrautheit und Gemeinschaft. Allesamt Werte, die unbezahlbar sind.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37554Am Wochenende feiern wir ein großes Fest. Unsere Tochter feiert ihre Konfirmation. Oma und Opa werden anreisen, die Paten, der Neffe mit seiner Freundin, gute Freunde, ehemalige Nachbarn. Kurzum Menschen, die unserer Tochter wichtig sind. Wir alle freuen uns riesig darauf.
Dabei muss ich aufpassen, dass der Vorbereitungsstress meine Vorfreude nicht auffrisst: Gästebetten beziehen, das Essen planen, Staubsaugen - Fenster putzen. Die Liste ist lang - zu lang. Wir werden nicht alles schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Unsere Tochter selbst geht die Vorbereitungen anders an. Am Wochenende hat sie das Fotoalbum ihrer ersten Lebensmonate hervorgeholt. Miteinander haben wir das Album durchblättert: Haben gestaunt, wie klein sie damals gewesen ist. Ihr Start in das Leben ist alles andere als einfach gewesen: Ein paar Wochen Intensivstation zu Beginn. Dann endlich die Fahrt nach Hause. Diese Tage haben uns geprägt. Als Eltern zu erleben, wie kostbar das Leben ist – wie wenig man selbst in der Hand hat. Ich erinnere mich, wie wohltuend die Unterstützung der Krankenschwestern gewesen ist, wie der junge Oberarzt sich gekümmert hat. Die Klinikseelsorgerin hatte ein offenes Ohr für unsere Sorgen, hat unsere Tochter gesegnet, ein paar Monate später dann getauft. Auf einem Foto sind Familie und Freunde zusammen am Taufstein in der Kirche und freuen sich, dass alles gut verlaufen ist.
In ein paar Tagen werden die Menschen von dem Foto unsere Tochter wieder in die Kirche begleiten. Wir sind Gott dankbar, dass er uns unsere Tochter geschenkt hat. Die Konfirmanden haben vor Kurzem im Gottesdienst berichtet, warum ihnen der Glaube wichtig ist. Ich staune, was sie gesagt haben: Viele schätzen die Gemeinschaft in der Kirche, dass die Menschen hier festhalten am Frieden und um Gerechtigkeit ringen. Gerade jetzt, in der Ukrainekrise, ist ihnen das wichtig, dazu die Bewahrung der Schöpfung. Und unsere Tochter? Sie hat gesagt, dass sie an Gott glaubt, weil er sie zu Beginn ihres Lebens beschützt hat. Darum auch ihre Gelassenheit bei den Vorbereitungen: „Jetzt, bei der Konfirmation, will ich mich bei Gott bedanken und mit Euch allen feiern. Ob die Fenster zu Hause geputzt sind, ist doch völlig egal, Mama!“
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37553Ich genieße es, jetzt hinauszugehen und die ersten Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren. Die Äste der Bäume, die vor ein paar Tagen noch kahl im Wind standen, sind nun voll von frischem Grün. Überall blüht es: weiß, rosa, gelb. Ich liebe das Leben!
Diese unglaubliche Kraft, die da in Gottes Schöpfung steckt. Wie Neues aus scheinbar Totem aufbricht. Bunt, lebendig, farbig – statt grau. In der Bibel steht: „Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ (Jes 43,18)
Ja, manchmal erkenne ich das Neue nicht. Manchmal verharre ich im Alten, bleibe stecken in dem was ist und finde mich damit ab.
Die Bilder aus dem Ukrainekrieg, die seit über einem Jahr täglich kommen - Sie färben meine Stimmung grau, und im Laufe der Zeit ist mir die Hoffnung abhandengekommen, dass sich etwas zum Guten wenden könnte. Ich merke, es ist ein Krieg, bei dem es wieder einmal allein um Machtinteressen geht. Das Leiden der Bevölkerung auf beiden Seiten wird sich tief in das Gedächtnis der Menschen eingraben.
Darum hat mir eine Aktion der Kirche in den vergangenen Wochen gefallen. Sie hieß „Hoffnung säen“ – Samenkörner für blaue Kornblumen und gelbe Sonnenblumen wurden verschenkt, als Zeichen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Ein Zeichen, dafür, dass man an dem Gedanken des Friedens und der Gerechtigkeit festhält – auch wenn alles so hoffnungslos und festgefahren scheint. Diese unendlichen Diskussionen während Menschen leiden, Familien um ihre Angehörigen bangen, die an der Front sind oder ihre Heimat verlassen, um in Frieden leben zu können, tun mir weh. Ich habe die Samen ausgesät. Noch ist nichts zu sehen. So ist das oft, wenn man mit etwas Neuem beginnt. Es braucht Geduld und Beharrlichkeit, am Anfang ist wenig zu erkennen. Auf den ersten Blick ist vielleicht sogar weniger da als zuvor. Aber Veränderungen sind im Leben, gerade auch im Alltag möglich. Darum und dafür bete ich – immer wieder. Ich möchte festhalten an der Sehnsucht nach Frieden und Gottes Gerechtigkeit. Denn ich liebe das Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37552Kim Howard ist Künstlerin. Sie hat lange in Hamburg gearbeitet. Dort hat sie Geld verdient, indem sie Särge bemalt hat. Inzwischen ist Kim Howard ausgewandert, aber ein Mal im Jahr kommt sie zurück, um ihrem ausgefallenen Beruf weiter nachzugehen. Erstaunlich, vor allem wenn man bedenkt, dass ihre Kunstwerke immer unter der Erde oder im Krematorium landen.
Kim macht das nichts aus. Für sie steht das Arbeiten im Vordergrund, die Zeitspanne, in der das Kunstwerk entsteht. Und dass sie sich mit den trauernden Angehörigen austauscht – das motiviert sie.
Kim lässt die Angehörigen auch gerne selbst zum Pinsel greifen. Für viele ist das wohltuend, weil sie sich um so vieles kümmern müssen, dass kaum Zeit zum Nachdenken bleibt. Kim sagt: „Viele Verwandte fühlen sich erleichtert, wenn wir gemeinsam den Sarg gestalten. Und für mich ist es ein schönes Gefühl, ihnen dabei zu helfen.“ Die Hinterbliebenen bekommen ein anderes Verhältnis zum Sarg. Sie bauen Distanz ab, fassen ihn an, arbeiten mit ihm. Und manche entdecken nach der Arbeit Farbspuren an ihren Händen, das ist wie eine kleine Erinnerung.
Christian Hillermann ist Bestatter und arbeitet mit Kim zusammen. Er sagt: „Wenn jemand stirbt sind die Betroffenen oft in einer Ausnahmesituation. Da ist es gut, wenn Energie raus darf. Das geht, indem man weint und klagt, aber auch wenn man kreativ tätig wird.“
Die Motive, die gemalt werden, sind ganz unterschiedlich. Manchmal kommt einfach nur die Lieblingsfarbe des Verstorbenen auf den Sarg oder die Namen der Hinterbliebenen. Für einen begeisterten Schwimmer hat Kim den Sarg mit Wassermotiven verziert. Einer Trauernden war das Bild in der Küche ihrer Mutter besonders wichtig. Eine Kopie davon hat Kim auf den Sarg gemalt. Kim sagt: „Am Anfang steht immer die Frage: Was verbindet mich mit dem toten Menschen?“ Allein diese Frage kann schon so heilsam sein.
Ich finde es gut, den Abschied so intensiv wie möglich zu gestalten: kreativ sein, erzählen, erinnern. So kann es besser gelingen, den Verlust zu verarbeiten. Mich tröstet auch die Hoffnung, dass mich mit den Toten noch mehr verbindet als nur das Fotoalbum oder schöne Erinnerungen. Manchmal spüre ich ganz deutlich, dass sie da sind, und dass ich sie wiedersehen werde. Und dieser Gedanke hat für mich eine Leichtigkeit. Ein bisschen wie die bunten Särge von Kim Howard.
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