SWR4 Abendgedanken

04JUL2024
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Mein Bruder ist Förster und sieht den Wald mit ganz anderen Augen als ich. Wenn ich im Wald bin, höre ich die Vögel zwitschern, sehe wie das Licht durch die Baumkronen bricht und finde das einfach idyllisch. Doch mein Bruder sieht überall um sich herum Entscheidungen, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte zurückliegen. Denn im Wald ist vieles gestaltet und ganz bewusst gelenkt worden. So haben die Vor- und Vorvorgänger meines Bruders einmal entschieden, welche Baumarten es geben soll oder wo im Bestand etwas gefällt wurde, damit bestimmte Pflanzen besser wachsen konnten. Mein Bruder weiß haargenau: Im Wald dauert es oft viele Jahrzehnte, bis man sieht, ob eine Entscheidung weise und richtig war oder ob sie in die falsche Richtung geführt hat.

Ich bin beeindruckt, dass auch mein Bruder solche Entscheidungen trifft, von denen er wahrscheinlich selbst nicht mehr erleben wird, ob der Plan dahinter einmal aufgeht oder nicht. Zwei Dinge helfen ihm dabei: Er macht sich ein gründliches Bild der Lage, bevor er dann sorgfältig nach bestem Wissen und Gewissen entscheidet. Und außerdem vertraut er darauf, dass seine Kollegen vor ihm das damals auch so gemacht haben. Und dass seine Förster-Nachfolger einmal verstehen werden, welches Ziel er mit seiner Arbeit im Wald hatte. Und dass sie das in guter Weise weiterführen oder anpassen, wenn etwas Unvorhergesehenes dazwischen kommt.

Von der Art, wie mein Bruder im Wald Entscheidungen trifft, kann ich viel lernen, zum Beispiel für die Kindererziehung: Auch hier tut es gut, wenn Erwachsene sorgfältig entscheiden, weitsichtig sind und viel Geduld mitbringen. Denn es dauert oft Jahrzehnte, bis man sieht, wie sich entwickelt, was man gesät hat. Und wenn die Kinder später groß sind, will ich ihnen vertrauen und sie loslassen können. Vertrauen, dass meine Kinder später als Erwachsene selbst überlegt handeln und ihr Leben gelingen wird. Da kann es gut sein, dass ich vielleicht nicht verstehe, warum sie etwas tun. Aber ich kann darauf zählen, dass sie dafür gute Gründe haben und dass sie aus der Situation das Beste machen wollen.

Das wünsche ich mir: Dass ich es ab und zu schaffe, in Ruhe und sorgfältig zu entscheiden und dass ich dann auch mit Vertrauen in Richtung Zukunft loslasse. So wie mein Bruder als Förster im Wald.

Benjamin Vogel aus Freiburg von der katholischen Kirche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40216
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