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30MAI2024
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Fronleichnam
Grenzen überwinden

 

Heute mit Pfarrer Thomas Steiger von der Katholischen Kirche. Guten Morgen!
Es gibt kaum einen Feiertag, der mehr katholisch ist wie Fronleichnam. Aber nur, wenn es ums Äußerliche geht. Da sind Kommunionkinder in weißen Kleidern, Fahnen, eine feierliche Liturgie und das auch noch in der Öffentlichkeit. Allerdings, der Inhalt des Festes, der ist gar nicht so katholisch. Es geht im Kern darum, was ich als Mensch wirklich brauche, um gut leben zu können, dass mich eben nicht satt macht, was ich besitze, dass es aufs Teilen ankommt und ich so nackt, wie ich auf die Welt kam, am Ende wieder sein werde, wenn ich sterbe.

Darüber spreche ich heute in SWRKulturZum Feiertag mit Andrée Gerland. Er ist weder katholisch noch Christ, sondern Humanist. So bezeichnet er seine Einstellung zur Welt. Und er ist beruflich Geschäftsführer der Humanisten Baden-Württembergs. Herr Gerland, danke, dass Sie sich Zeit nehmen für dieses Gespräch heute Morgen. Aber vielleicht erklären Sie uns erst mal, was überhaupt ein Humanist ist und was einen Humanisten auszeichnet.

 

Andrée Gerland: Sehr gerne und vielen Dank für die Einladung, lieber Herr Steiger. Tatsächlich bezeichnet die Formel Humanist sehr Vieles. Subsumiert unter anderem sowohl den Atheisten als auch den Agnostiker, den Freidenker als auch den Freireligiösen. Es gibt verschiedene Traditionen, die zum Humanismus geführt haben, und die Humanisten zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie auch diesen moralischen Boden haben, den sie gerne veräußern. Das heißt also eine Moral, die sich gründet auf die Menschlichkeit, das menschliche Dasein, Toleranz, Gewaltfreiheit und Gewissensfreiheit.

 

Thomas Steiger: Da haben Sie ja schon ein bisschen was dazu gesagt, was ein Humanisten von einem Christen unterscheidet. Aber auf die Frage, wie das mit Gott ist, sind sie dabei noch nicht gekommen. Wollen Sie da auch noch ein bisschen was dazu sagen, wie Sie dazu stehen?

 

Gerland: Ja, gerne. Also tatsächlich sind die meisten Humanisten Atheisten auch. Das kommt aus dem Freireligiösen und daher speist sich auch die atheistische Überzeugung der meisten Humanisten. Es ist jedoch so, dass auch unter den Humanisten nicht unbedingt nur Leute wären, die sich zum Religiösen oder zur spirituellen Sphäre definieren. Also da gibt es auch ein weites Spektrum, beispielsweise von Leuten, die auch sagen, sie wissen nicht, was nach dem Tod kommt, nach dem Sterben und die das auch so positioniert haben möchten. Aber der Großteil tatsächlich speist sich aus den Atheisten.

 

Steiger: Vor einem halben Jahr ungefähr haben Sie ganz direkt mit mir Kontakt aufgenommen. Wie kam das eigentlich dazu?

 

Gerland: Ja, ganz genau. Es kam dazu, dass wir das Anliegen hatten - und wir haben es tatsächlich immer noch -  dass wir in Kirche-im-SWR ein Stück weit mehr präsent sein wollten. Und da haben wir nach einer geeigneten Ansprechperson gesucht. Und wir haben uns ja auch sofort über Hospizarbeit und Trauerarbeit gut unterhalten können.

 

Steiger: Also ich kann mir natürlich unter Humanismus was vorstellen. Einer, der menschlich ist, der andere freundlich und mit Respekt behandelt. Das würde ich auf der zwischenmenschlichen Ebene so für mich auch in Anspruch nehmen und es zudem auch für eine Einstellung halten, von der ich denke, dass sie ganz gut zu meiner christlichen Haltung passt. Deshalb ging es in unserem Gespräch auch eigentlich gar nicht so sehr darum, dass wir uns voneinander abgegrenzt haben, sondern am Ende sogar darum, wie wir besser an einem Strang ziehen können als Humanisten und als Menschen, die an Gott glauben. Es gibt nämlich durchaus Themen, die uns beide gemeinsam sehr beschäftigen. Wo sehen Sie, Herr Gerland, denn solche gemeinsamen Interessen von Ihnen und mir? Wir können das ruhig auch persönlich nehmen.

 

Gerland: Ja, gerne. Also tatsächlich ist es so, dass wir erst mal viele Gemeinsamkeiten in der Ausübung von Riten haben. Auch wir haben eine Namensfeier komplementär zur Taufe. Wir haben eine Jugendfeier komplementär zu Kommunion oder Konfirmation eben bei den Protestanten und wir haben auch eine Trauerfeier, eben dann in einem nichtreligiösen und undogmatischem Sinne. Tatsächlich ist es so, das muss ich hier sagen, weil wir uns in Tübingen befinden, finde ich es wichtig, dass man auch immer wieder auf das Paradigma der Ähnlichkeit zurückkommt und nicht immer nur auf das Paradigma der Differenz, dass man sagt: es gibt Vieles, was uns eint, vieles, was uns tatsächlich auch nicht unterscheidet. Und wir sollten unseren Fokus nicht immer darauf stellen, was die Differenz ausmacht, sondern was uns als Ähnlichkeiten auch ausmacht, als Menschen und als Gemeinschaft. Und da sind wir schon bei einem Schlagwort: die Gemeinschaft, dass wir uns darum bemühen, ein Gemeinwohl einer Zivilgesellschaft zu dienen, dass wir da auch uns auf den Menschen fokussieren. Und das machen wir zwar mit unterschiedlichen Möglichkeiten, zum Beispiel bei der Hospizarbeit und der Trauerarbeit. Aber wir haben das gleiche Ansinnen, nämlich den Menschen zu unterstützen, den Menschen irgendwo zu dienen, auch mit einer Formel auf die Menschen zuzugehen, die stark von Liebe geprägt ist.

 

Steiger: Da sind wir in Tübingen in der Tat natürlich an einem guten Ort, wo das Weltethos-Institut hier platziert ist, das ja im Grunde auch eine ähnliche Stoßrichtung und Denkrichtung verfolgt, was jetzt Zusammenarbeit angeht. Haben Sie auch eine Idee oder schon eine Vorstellung davon, wie so eine Zusammenarbeit konkreter werden könnte, praktischer werden könnte?

 

Gerland: Ja, also ich stelle mir zum Beispiel etwas vor. Es gibt ja durchaus Bewegungen, auch politische Bewegungen. Das muss man auch konkret sehen und benennen, die eher den Hass in den Vordergrund stellen. Und da geht es darum, dass die Zivilgesellschaft und das unabhängig von einer konfessionellen Verortung, dass sie Flagge zeigt für das, was sie für wichtig hält und darunter, was sie auch steht. Beispielsweise in Stuttgart gibt es das Projekt „Stuttgart Hand in Hand“. Da setzen wir uns für Menschenrechte, Demokratie und Europa ein, jetzt gerade auch vor der Wahl am 9. Juni. Und wir werden am 2. Juni am Marienplatz verschiedene Chöre, aber auch die Zivilgesellschaft ansprechen, dafür zu singen. Und ich finde, das ist eine schöne Gelegenheit. Da geht es nämlich nicht darum, welcher Konfession man angehört, sondern es geht darum, dass man Flagge für die Humanitas, für die Menschlichkeit, für Menschenrechte und Demokratie zeigt und etwas ablehnt, was wir tatsächlich tagtäglich, mit dem wir uns tagtäglich konfrontieren müssen, nämlich den Hass, dass wir das Gegenkonzept vertreten.

 

Steiger: Unbedingt. Ich bin in der Hinsicht auch sehr froh, dass die katholischen Bischöfe auf der Bundesebene sich sehr klar gegen rechtsradikale und rechtsextreme Positionen abgegrenzt haben und dadurch natürlich auch ein Zeichen setzen wollen für Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, der ja in verschiedener Hinsicht bedroht ist. Das gilt sowohl für die größere politische Ebene wie auch für das menschliche Miteinander in den sozialen Medien oder im kleineren gesellschaftlichen Raum. Die Kirchen haben in Stuttgart, natürlich in Tübingen genauso, große Chöre, und ich könnte mir vorstellen, dass sie dabei offene Türen einrennen, wenn sie bei denen nachfragen.

 

Gerland: Ja.

 

Steiger:  Weil Sie vorhin das Stichwort Hospizarbeit auch angesprochen haben. Also Menschen zu begleiten in ihrem Sterbeprozess auf den Tod zu, dass es dann natürlich schon einen fundamentalen Unterschied gibt. Also Sie legen - und das würde ich für uns hoffentlich auch in Anspruch nehmen für unsere Hospizarbeit in den Kirchen - einen großen Wert darauf, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Aber für uns gibt es natürlich trotzdem darüber hinaus die Dimension, dass es ein Leben nach dem Tod gibt, dass einer über uns steht, auf den wir durch den Tod zugehen, was unsere Möglichkeiten des Handelns im Sterbeprozess etwas einschränkt. Wie beeinflusst es denn Ihre Einstellung zum Sterben und zum Tod, dass Sie nicht davon ausgehen, dass es einen Gott gibt?

 

Gerland: Ja, mit der aktuellen Gesetzesnovelle, die sich auch um beispielsweise selbstbestimmtes Sterben handelt, da zeigt sich unsere Positionierung sehr deutlich, indem wir sagen: wir gehen auf den Menschen zu. Und da es bei uns eben diesen dogmatischen Bau nicht gibt, ist es für uns sehr wichtig zu sehen, was denn für den Menschen tatsächlich dem entgegenkommt. Beispielsweise hatte ich vor einigen Monaten ein Telefonat mit einem über 90-jährigen Herrn, der mich darum bat, ob ich ihm Pentobarbital verschaffen könne und ich ihm gesagt habe Das kann ich nicht, das ist auch nicht legal. Und …

 

Steiger: … Ein Medikament, das zum Sterben führt.

 

Gerland: Ganz genau richtig und möglichst schmerzfrei. Er hat mir dann seine Situation erläutert, eben Einsamkeit, hohes Alter, Gebrechlichkeit und keine Freunde mehr. Und er meinte dann als Konklusion, er hätte da weniger Rechte als ein Hund. Und das ist traurig, mit anzusehen. Aber tatsächlich, wenn wir solche Bedürfnisse, nach allen Abwägungen, das ist keine leichtfertige, das ist wahrscheinlich die schwierigste Abwägung überhaupt. Wenn so eine Entscheidung da steht, dann müsste man Möglichkeiten finden, dem entgegenzukommen und zu sagen: Ja, wir wollen auch Wege suchen, wo ein Leiden verhindert wird.

 

Steiger: Also die Frage, wie wir Menschen im Sterben begleiten, wird ja ein bisschen so schematisch unterschieden zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Das trifft den Punkt meiner Meinung nach nicht immer ganz gut. Wird ja auch in der Theologie, auch in den Kirchen kontrovers diskutiert. Das ist auch gut. Man versucht da schon eine Differenzierung reinzubringen in diese doch schwierige Entscheidungen. Das ist ja für die Ärzte, für die Angehörigen, für die Hospizmenschen, für alle, die Sterbende begleiten, eine schwierige Frage. Für uns als Christen gibt es natürlich diese letzte Reserve, dass der Mensch sein Leben nicht aus eigener Hand hat und auch zuletzt nicht selber in der Hand hat. Aber ich war selber schon beim Sterben von Menschen dabei, von Angehörigen, auch von anderen Menschen und weiß auch, wie sehr manche Menschen sich nach dem Tod sehnen. Ob sie dann sagen, dass sie hoffen, in die Ewigkeit einzugehen oder ob sie sagen, dass ihre Seele eben entschwindet, das ist dann wahrscheinlich manchmal gar nicht die entscheidende Frage. Ich bin froh, dass wir uns vor einem halben Jahr begegnet sind, Herr Gerland, und uns in der Zwischenzeit ein bisschen kennengelernt haben. Da ist sicher noch Manches ausbaufähig, auch was unsere Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Punkte angeht. Wir bleiben dran. Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch heute Morgen und wünsche Ihnen und den Hörerinnen und Hörern am Radio jetzt noch einen guten Tag.

 

Thomas Steiger aus Tübingen von der Katholischen Kirche.

 

Gerland: Vielen Dank, Herr Steiger.

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20MAI2024
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Ein Geist der Verständigung – auch das ist der Heilige Geist, dessen Kommen wir als Christinnen und Christen an Pfingsten feiern. Von einem Sprachenwunder erzählt die Pfingstgeschichte in der Bibel – Menschen unterschiedlicher Muttersprache konnten einander plötzlich verstehen. Wo ist dieser Geist der Verständigung heute zu erfahren – in Kirche und Gesellschaft?

Darüber spreche ich mit Achnasia Manganang – sie stammt aus Indonesien und ist Theologin und Kirchengemeinderätin in der Kirchengemeinde in Stuttgart-Botnang – und mit Stephan Mühlich, er ist Pfarrer in Botnang. Frau Manganang, Herr Mühlich – könnte man sagen, dass bei Ihnen in Botnang jede Woche Pfingsten ist?

 

Mühlich: Naja, jede Woche Pfingsten, das klingt etwas enthusiastisch, würde ich sagen. Wenn Pfingsten allerdings bedeutet, sich herausfordern zu lassen davon, dass jeder Mensch für jeden Menschen ein Fremder ist mit einer eigenen Muttersprache, die ich gerne lernen will besser zu verstehen, und dass wir zugleich durch Christus alle zu Geschwistern geworden sind in der einen Welt, dann kann tatsächlich jede Woche Pfingsten sein.

Rittberger-Klas: Auch in Botnang – sehen Sie es auch so, Frau Manganang?

Manganang: Ja, in Botnang auch…

Rittberger-Klas: Herr Mühlich, in ihrer Kirchengemeinde scheint es eine besondere Offenheit für internationale Kontakt zu geben – wie ist das entstanden?

Pfarrer sind ja auch Migranten in gewisser Hinsicht. Ich bin zwar in Stuttgart geboren haben eine Frau aus Brandenburg und war als junger Pfarrer zwei Jahre in Italien gewesen in der italienischsprachigen Gemeinde in der Waldenserkirche, das hat mich geprägt. Ich war dann anschließend dreizehn Jahre hier in Württemberg Gemeindepfarrer und neun Jahre im ökumenischen Zentrum auf dem Campus der Universität in Stuttgart-Vaihingen. Und da gibt es ein ökumenisches Haus, also ein gemeinsames evangelisch-katholisches Haus für Studierende, für Hochschulangehörige, und das war immer auch schon ein internationales Haus gewesen. Und Frau Manganang habe ich tatsächlich dort kennengelernt, weil sie mit ihrer indonesischen Gemeinde dort im Ökumenischen Zentrum oft schon gefeiert haben und zu Gast waren. Und dann war sie eine Einheimische, die ich in Botnang wiedergetroffen habe vor fünf Jahren. Und außerdem habe ich dann gesehen in Botnang die Mitarbeiter der Kirchengemeinde, die mir dort begegnet sind: ein iranischer Mesner und Hausmeister, eine Hausmeisterin aus Kasachstan, eine Kantorin aus Russland, eine Instrumentalkreisleiterin aus Japan, eine Organistin aus Südkorea, also ziemlich breit aufgestellt – nicht nur die Indonesier sondern auch die verschiedenen Mitarbeiter, die da einfach dabei sind. Und ich fand immer schon, das sind nicht nur Gastarbeiter für unsere deutsche Gemeinde, sondern das sind welche, die auch mit dazu gehören, und deshalb hat es mir da von Anfang an gut gefallen.

Rittberger-Klas: Eine Kirchengemeinde, in der sich Welten und verschiedene Menschen begegnen… Sie, Frau Manganang, sind in der Botnanger Kirchengemeinde, in der evangelischen Landeskirche engagiert als Kirchengemeinderätin – und treffen sich auch regelmäßig mit anderen Christinnen und Christen aus Indonesien. Sie haben also quasi eine doppelte kirchliche Heimat. Was ist daran spannend, was schätzen Sie daran?

Manganang: Diese doppelte Kirchen-Heimat, also, ja kann man so sagen… Wir bieten das Studenten, die hier studieren, oder allen Indonesiern, die schon lange hier wohnen. Wir wollen dann einfach nur ein Stück Heimat geben, dass wir einmal auf Indonesisch beten, wir singen, wir hören Gottes Wort auf Indonesisch und essen auch unser Essen. Aber am Samstag treffen wir uns, und Sonntag wir gehen dann in die Kirche, wo wir dazugehören, weil bei unseren Mitgliedern sind ja auch ganz viele Denominationen, Evangelische, auch Freikirchen, auch Katholiken. Und dann am Sonntag gehen wir eben in die eigene Kirche hier im Deutschland, wo sie wohnen, damit sie dann gut aktiv und integriert werden. Also, quasi können wir sagen, dass wir eine doppelte kirchliche Heimat hier in Stuttgart haben. Und dann habe ich mich in Botnang richtig engagiert, wo Herr Stefan Mühlich mich dann gefragt als Kirchengemeinderätin. Da bin ich noch mehr integriert.

Mühlich: Ja, das finde ich schon, das gehört eigentlich dazu, dass auch in den Gremien die internationalen Leute vertreten sind. Deswegen hatte ich gleich versucht, das irgendwie hinzubekommen, und dann waren bald die Kirchenwahlen und ich war sehr froh, dass du zugesagt hast und auch, dass es dann bei der Wahl wirklich auch gut geklappt hat. Und das hat auch das Gremium verändert bei uns. Also das ist, finde ich, auch spannend zu sehen, wie auch die Kirchengemeinderäte einer württembergischen Gemeinde sich dadurch verändern.

Rittberger-Klas: Jetzt ist es ja so: Wenn Menschen aus unterschiedlichen Traditionen und Kulturkreisen zusammen leben, feiern und arbeiten, ist immer auch ein Lernprozess. Wo haben Sie voneinander gelernt – und wo gab es vielleicht auch mal Reibungspunkte, wo Sie erstmal gemeinsam ins Laufen kommen mussten?

Mühlich: Also ich finde, es gibt da nichts Besonderes. Ich sag: Das Übliche was es in jeder Familie und Gemeinde gibt, Themen wie Ordnung, Sauberkeit, Zeitvorstellungen… Aber das sind Geschmacksfragen, also das ist eigentlich nichts, was so typisch das Interkulturelle war, sondern das habe ich auch mit Jugendgruppen…

Manganang: Richtig Reibungen, das haben wir nicht, nur dass anders ist, dass es bei uns manchmal sehr laut ist. Und wir sind manchmal nicht richtig strukturiert, spontan. Und manchmal müssen wir dann klarkommen. Und das haben wir dann auch gewusst: Wenn wir deutsche Gäste haben oder einladen, haben wir darauf hingewiesen, dass sie bitte nicht so pünktlich kommen, zum Beispiel.

Rittberger-Klas: Und haben Sie das Gefühl, dass diese besondere geistliche Gemeinschaft, die man auch als Christen hat in der Kirchengemeinde, dass das manchmal auch hilft?

Manganang: Meiner Meinung nach also diese geistliche Verständigung wird wirken, wenn wir dann auch offen dafür sind, dann wirkt er, dieser Heilige Geist der Verständigung. Das sage ich dann immer, wenn neue Studenten zu uns kommen, die noch kein Deutsch sprechen können und die dann nicht zur Kirche gehen wollen, weil sie dann nicht verstehen und so weiter – und dann hab ich gesagt: Nee, da musst du auch hingehen, also Gott wird dann auch zu dir sprechen, mit seinem Heiligen Geist, durch die Musik, alles…

Rittberger-Klas: Durch die Atmosphäre…

Manganang:Ja, also Gott wird dann auch in dein Herzen reinkommen und dann wirst du verstehen.

Mühlich: Und ich denke auch der Heilige Geist funktioniert ja nicht so sehr wie eine Medizin in der Krise, der dann erlebbar ist, wenn wir irgendwie Stress miteinander hatten und dann wird es wieder geheilt oder so. Sondern es ist tatsächlich mehr so das Überraschungselement, dass manchmal Dinge passieren, mit denen man nicht unbedingt gerechnet hat. Und wenn man das zulässt einfach erstmal eine Zeit lang auch so eine Fremdheit auszuhalten und auch was nicht zu verstehen – da gibt es dann auch immer wieder schon Dinge, wo man sagt: Ja, das war jetzt was, wo diese Gemeinschaft auch spürbar geworden ist.

Rittberger-Klas: Der Heilige Geist als Geist der Verständigung – heute am Pfingstmontag wird er in der Stuttgarter Innenstadt auf besondere Weise gefeiert, und zwar mit dem „Tag der weltweiten Kirche“, der vomInternationalen Konvent christlicher Gemeinden in Württemberg gestaltet wird, in dessen Vorstand auch Sie, Frau Manganang, sitzen. Der Tag beginnt mit einem Gottesdienst um 11 Uhr mit der Stuttgarter Stiftskirche, danach wird um die Stiftskirche herum weitergefeiert.

Manganang: Ja, das ist dann der Höhepunkt für unseren internationalen Konvent, dass wir den Pfingstmontagsgottesdienst in der Stiftskirche gestalten können jedes Jahr. Und es werden auch viele verschiedene Sprache auf einmal in diesem Gottesdienst gesprochen und auch gesungen und auch auf viele Themen werden von verschiedenen Gemeinden präsentiert.

Mühlich: Also, ich find‘s immer schön, wenn ich selber auch beim Tag der weltweiten Kirche in der Stiftskirche dabei sein kann, und tatsächlich haben wir in Botnang dieses Jahr Pfingstmontag keinen eigenen Gottesdienst, sondern laden auch dazu ein. Wir haben bisher immer ökumenisch evangelisch-katholisch Gottesdienste gemacht, was auch schön ist, aber in besonderer Weise ist der Tag der weltweiten Kirche nochmal sowas, wo gezeigt wird, wie es eigentlich werden kann, sag ich mal. Und der Konvent der internationalen Gemeinden macht es ein Stück weit vor, weil die sind schon untereinander auch sehr, sehr unterschiedlich – also untereinander sind die mindestens so unterschiedlich wie zwischen den deutschen und den internationalen Gemeinden. Und dass die sich die Mühe machen, so einen Gottesdienst zusammen zu gestalten, zusammen an einem Thema zu arbeiten, die Fremdheit auszuhalten und dann trotzdem wieder zu zeigen: wir sind miteinander christliche Gemeinde – das ist ein ziemliches Vorbild auch für die deutschen Gemeinden.

Rittberger-Klas: Frau Manganang, Herr Mühlich, ich danke Ihnen für das Gespräch – und den Hörerinnen und Hörern wünsche ich einen geistreichen Pfingstmontag. Pfarrerin Karoline Rittberger-Klas, Tübingen, Evangelische Kirche.

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09MAI2024
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Am Fest Christi Himmelfahrt geht der Blick nach oben. Er folgt dem Blick von ein paar Jüngern Jesu, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben zwei Handvoll Männer und Frauen, die in den Himmel starren. Auf allen Bildern ist der an diesem Tag von strahlendem Blau.   

Szenenwechsel, Perspektivwechsel: Der Russe Juri Gagarin ist der erste Mensch, der in umgekehrter Richtung vom Himmel auf die Erde geblickt hat. Am 12. April 1961 hat er an Bord seiner Raumkapsel "Wostok 1" in 108 Minuten die Erde einmal umrundet. Den Anblick beschreibt er als überwältigend: "Ich sah zum ersten Mal die Kugelgestalt der Erde. Der Anblick des Horizonts war einzigartig. Ein zartblauer Film, der den Globus umgibt. Darüber nur der pechschwarze Himmel, mit den klar sichtbaren Sternen und einer Sonne, die dutzendmal heller scheint als auf der Erde". Tief berührt ist Gagarin von diesem Erlebnis. Leider ist sein ehrfürchtiges Staunen in Vergessenheit geraten. Geblieben ist nur ein berühmt-berüchtigter Spruch, den ein westlicher Journalist ihm in den Mund gelegt hat. Ob Gagarin dort oben Gott gesehen habe, wollte der wissen. Aber was soll man darauf schon antworten? Nein, natürlich nicht.

Dass Gott oben im Himmel wohnt, diese Vorstellung gibt es in vielen Religionen. Für Christinnen und Christen ist sie im Gebet Jesu präsent, das mit diesen Worten beginnt: „Vater unser im Himmel …“  Sie hängt mit alten Weltbildern zusammen und der Vorstellung, dass sich die Welt wie ein Haus aus übereinander geschichteten Stockwerken aufbaut. Und sie hängt zusammen mit der Unsichtbarkeit Gottes, mit seiner Transzendenz. Die Zehn Gebote verbieten mit deutlichen Worten, sich ein Bild von Gott zu machen. Keins aus Holz oder Stein, noch nicht einmal eins aus Gold und auch keins in Gedanken. Denn Gott ist nicht dingfest zu machen, den Menschen nicht verfügbar; er sprengt ihre Vorstellungskraft, ist größer, weiter als all ihre Bilder. „Im Himmel“, das heißt dann auch so viel wie „überall und nirgends.“ Gott ist Luft für mich in einem doppelten Sinn: entweder ich erlebe ihn als lebensnotwendig oder er ist mir gleichgültig.

 

Nun haben die Weltbilder sich geändert. Die Erde ist vom Zentrum der Welt zu einem Planeten degradiert worden, der um eine von Milliarden Sonnen kreist. Und der Himmel hat sich ausgedehnt in die unendlichen Weiten des Kosmos. Im 20. Jahrhundert ist der Mensch plötzlich in der Lage, den bisher Gott allein vorbehaltenen Blick aus dem Universum auf den Planeten Erde zu werfen. Für die einen hat der wissenschaftliche Fortschritt damit die Idee einer schöpferischen Gotteskraft überflüssig gemacht. Für andere hat er das gläubige Staunen vertieft und Gott nur umso größer und anbetungswürdiger erscheinen lassen. Der Priester und Dichter Ernesto Cardenal aus Nicaragua dichtet im Duktus der biblischen Psalmen: „Lobt den Herrn des Kosmos. Das Weltall ist sein Heiligtum. Mit einem Radius von hunderttausend Millionen Lichtjahren. Lobt ihn, den Herrn der Sterne und der interstellaren Räume. Lobt ihn, den Herrn der Milchstraßen und der Räume zwischen den Milchstraßen.“ Dieses Gebet ist 60 Jahre alt.  

Aber auch in einem fast 3000 Jahre alten Gebet finden sich schon ähnliche Gedanken. Der König Salomo hat es gesprochen bei der Einweihung des ersten Jerusalemer Tempels. Denn nachdem die Menschen sicher wohnen im Land, soll endlich auch ihr Gott sesshaft werden, der bisher mit ihnen ein Nomadenleben geführt hat: beweglich wie ein Feuerschein, wie eine Wolkensäule. Nun hat Salomo diesem Gott ein Haus gebaut. Am Tag der Tempelweihe fasst er seinen Dank in wohlfeile Worte und bittet Gott um seinen Segen. Aber mitten in der festlichen Zeremonie beschleichen ihn plötzlich leise Zweifel. Und er spricht sie aus und formuliert sie als Frage: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ Dass Gott im Himmel wohnt, heißt nicht, dass er dort oben auf einer Wolke thront. Selbst der unendlich weite Himmel ist ihm als Wohnung zu klein.

Und obwohl Menschen um diese Grundeinsicht wissen, haben alle Religionen ihren Göttern Tempel errichtet. Die jüdische Tradition spricht vorsichtig und mit großer Ehrfurcht von der Schechina, der Anwohnung Gottes auf Erden. Ein Tempel nicht als Wohnung, aber als ein Ort zum Andocken des Göttlichen, ein Altar als Schemel seiner Füße. Nicht Gott braucht ein Haus auf Erden, aber als glaubender Mensch brauche ich neben dem unendlichen auch den begrenzten Raum. Denn im Unendlichen würde ich mich verlieren. Es war schon eine gute salomonische Idee, diesen Tempel zu bauen, und in seinem Gefolge viele Kirchen und Gotteshäuser.

Aber dann kam Gott selbst noch auf eine viel bessere Idee. Er beschloss, sich selbst eine Wohnung zu suchen auf Erden. Und er fand sie in keinem noch so schönen Gebäude, an keiner noch so heiligen Stätte, sondern in einem Menschen. In Jesus Christus kam er zur Welt. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“, schreibt Johannes am Anfang seines Evangeliums. Mit Jesus kommt der Himmel zur Welt. Und plötzlich hat Gott nicht nur eine Wohnung, eine erste Adresse auf Erden, er hat ein Gesicht, er hat Hände und Füße. Und wer immer Gott sucht, braucht sich nicht mehr in den Weiten des Kosmos zu verlieren, sondern kann diesem Menschen ins Gesicht schauen, seine Worte hören, dem nachfolgen, der Gottes Geschichte in letzter Konsequenz gelebt hat. Was für ein einzigartiges, göttliches Experiment!

Heute schließt sich dieser Kreis, der mit der Inkarnation, mit der Menschwerdung Gottes in dem Kind Jesus an Weihnachten begonnen hat. An Christi Himmelfahrt feiern wir, dass dieser Jesus wieder in den Himmel zurückgekehrt ist, von wo er am Anfang seiner Geschichte gekommen ist. Es ist die Krönung des Ganzen, die Krönung dieses genialen Einfalls Gottes, sich freiwillig zu begrenzen, sich zu entäußern, um ein menschliches Leben zu führen und dabei von der Geburt bis zum Tod nichts auszulassen. Aber es ist wie nach einer langen Reise: Auch wenn ich am Ende wieder in den eigenen vier Wänden angekommen bin, bin ich doch eine andere geworden. Und wenn Jesus an Himmelfahrt wieder in Gottes Unendlichkeit zurückkehrt, aus der er gekommen ist, dann löscht das seine Biografie nicht einfach aus. Dann hat Gott selbst sich verändert. Er ist jetzt ein anderer geworden. Menschlicher, verletzlicher. Ein Gott nicht nur mit Zukunft, sondern ein Gott mit einer Vergangenheit.

Es ist ein schöner Brauch, an Christi Himmelfahrt Gottesdienste draußen unter freiem Himmel zu feiern. Denn da kann der Blick nach oben gehen. Und dem Blick von ein paar Freunden Jesu folgen, die sich nach dem Bericht des Evangelisten Lukas einige Wochen nach dem ersten Osterfest in der Nähe von Jerusalem ein letztes Mal mit dem auferstandenen Jesus getroffen haben. „Und es geschah, als Jesus sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Mehr ist damals nicht passiert. Ein einziger Satz reicht aus, um das Geschehen zu umreißen. Ein Wimpernschlag nur, und weg war er. Zurück bleiben wir Menschen, die aufrecht unter Gottes Himmel stehen. Und hoffentlich ist er auch heute von strahlendem Blau.   

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01APR2024
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Helga Schubert und Christopher Hoffmann copyrigt: Christopher Hoffmann

Christopher Hoffmann spricht mit Schriftstellerin Helga Schubert

Christopher Hoffmann:

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Meine Gesprächspartnerin heute am Osterfest ist die Schriftstellerin Helga Schubert. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg 1940 in Berlin geboren. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freiberufliche Schriftstellerin in der DDR und 2020 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihre Erzählung „Vom Aufstehen“* hat für mich auch ganz viel mit dem Osterfest zu tun. Und deswegen meine erste Frage, Frau Schubert, Sie sind evangelische Christin – was feiern Sie heute am Fest der Auferstehung, an Ostern?                                                          

Helga Schubert:

Ich feiere, dass der ganze Verrat vorbei ist – das ist für mich ein Lebensthema und das Ostern für mich das Symbol ist, dass es weitergeht. Und dass also jede im weitesten Sinne böse Absicht anderen Menschen gegenüber aufgelöst ist durch Ostern. Es ist ein Sieg im weitesten Sinne des Guten und der Hoffnung.

Christopher Hoffmann:

In dem Erzählband „Vom Aufstehen“, da haben Sie auch eine Erzählung mit dem Titel: „Meine Ostergeschichte“. Und da schreiben Sie: „Heute weiß ich. In dieser einen Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe. Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert. Dass man verraten werden kann. Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg. An diese Hoffnung will ich erinnert werden. Einmal im Jahr.“** Was meinen Sie damit?  

Helga Schubert:

Die Ostergeschichte birgt alles - birgt alles an menschlicher Versuchung und an menschlicher Anständigkeit und an Schuld und wie man mit Schuld umgeht, alles. Da kann man auch wirklich das ganze Jahr darüber nachdenken. Ist für mich wirklich die allerwichtigste Geschichte der Bibel. Weil ich auch so viel darüber nachgedacht habe, finde ich auch so viele Beispiele im wirklichen Leben. Also das hat sich gegenseitig beeinflusst.

Christopher Hoffmann:

Sie haben auch eben gesagt: Verrat ist ein Lebensthema bei Ihnen – und Sie schreiben auch: „Dass man verraten werden kann.“ Wie würden Sie das biografisch verorten? Warum ist Ihnen das so ein wichtiges Thema?

Helga Schubert:

Also ich habe selbst erlebt, dass man also wirklich von dem allernächsten Menschen, das ist in diesem Fall meine Mutter gewesen, nicht richtig angenommen wurde. Ich wurde immer verglichen mit verhassten Personen, also zum Beispiel mit ihrer Schwiegermutter, wie ich ihr nun ähnele. Und sie hat mich immer bekämpft. Und ich hab auch das Gefühl gehabt sie hat mich verraten. Also zum Beispiel als ich mich aus der ersten Ehe scheiden wollte, da gab es wirklich Gründe – da hat sie tatsächlich an den Richter geschrieben, an den Familienrichter. Der hat mich hinbestellt in sein Arbeitszimmer, das hat er noch nie erlebt – sie hat gesagt sie sollen mir nicht glauben: In Wirklichkeit wäre ich glücklich verheiratet und sie soll die Ehe nicht scheiden. Und dieser Richter, der hat gesagt:  So was hat er noch nie in seinem Leben gehabt.

 Christopher Hoffmann:

Wie war das für Sie als Christin in der DDR?

Helga Schubert:

Ich bin ja Jahrgang 1940. Als ich eingeschult wurde, gab es noch richtigen Religionsunterricht in der Schule. Also ich hab noch Zeugnisse richtig vom Religionsunterricht in der Schule. Das war natürlich später überhaupt nicht mehr möglich. Als Christin war es so, dass man erst mal innerhalb der Klasse natürlich mit den Freundinnen befreundet war, mit denen man dann in den Kindergottesdienst ging, das war erst mal das Erste. Und das war für mich eine vollkommen andere Geisteshandlung als die, die in der Schule gepredigt wurde mit Diktatur der Arbeiterklasse und so. Hier ging es immer um Versöhnung und Frieden und so weiter. Vor allem dieser Segen am Ende des Gottesdienstes, das war für mich also das alles vergeben wird und dass einem nicht jemand immerzu was übel nimmt und dass man nicht immerzu mit einer schweigenden Mutter konfrontiert ist, die einem das oder das übel nimmt, die tagelang mit einem nicht gesprochen hat.

 Christopher Hoffmann:

Was bedeutet Ihnen ihr Glaube an Gott?

Helga Schubert:

Ich glaube an eine konstruktive Kraft, die hier waltet. Und die unermesslich ist und unerforschlich in ihrer Allmacht auch und in ihrer Dauer. Und das ist etwas, was ich spüre. Und ich weiß, dass ich dazugehöre und das gibt mir sehr viel Geborgenheit und alle anderen, die das nicht wahrhaben wollen, gehören ja auch dazu. Bloß bei mir, denk ich immer, kommt dann noch von da aus auch Wärme, weil ich daran glaube. Und ich will auch gar niemand jetzt missionieren. Das ist etwas, was wahrscheinlich ein Diktaturschaden bei mir ist, aus der DDR: Dass ich eben nichts Pathetisches, niemand überreden will. Dann kann man es wirklich bloß durch eigenes Beispiel machen.

Christopher Hoffmann:

Das tun Sie ja, Sie leben es ja. Frau Schubert, Sie haben das Buch „Der heutige Tag – ein Stundenbuch der Liebe“*** geschrieben. Sie pflegen Ihren Ehemann 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Ein Leben zwischen Büchern und Blasenkatheter-zwischen Prosa und Palliativmedizin…

Helga Schubert:

…ist ganz schön reich. Ist ein reiches Leben. Es kommt ja auch der Pflegedienst- also 24 Stunden minus zweimal zwanzig Minuten. Als ich das Buch schrieb, hab ich es noch allein gemacht , und morgens kam er nur aber jetzt kommt der Pflegedienst zweimal am Tag. Ich freu mich auf die Schwestern und den Pfleger, weil die so die Außensicht bringen und weil die relativieren können, weil sie mir auch Mut machen und weil das normale Leben plötzlich da sitzt und ich versuche  immer die irgendwie zu einem Kaffee noch zu überreden-die haben natürlich sehr wenig Zeit. Ich hab mich gestern bei einer Schwester bedankt-ich sagte: ich finde Sie sehr nett. „Ja, Sie sind ja auch nett“, sagte sie da. Das hat mich gefreut.

Christopher Hoffmann:

Ich finde Sie beschreiben eindrücklich wie schwierig es ist jemand für die Pflege auch zu finden. Und vielleicht können Sie uns da auch noch mal schildern, was unternehmen Sie da alles, oder was würden Sie sich wünschen vielmehr auch, dass Pflege einen anderen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat-aufgrund Ihrer Erfahrung.

Helga Schubert:

Das ist wirklich ein eigenes Thema. Das ist ein riesengroßes Thema in Bezug auf die Überalterung der Gesellschaft in der wir leben und in Bezug auf den den Zerfall der Kleinfamilien-die Großfamilien sind sowieso zerfallen. Der Pflegeberuf muss mehr anerkannt werden, muss besser bezahlt werden.

 Christopher Hoffmann:

Sie haben ja den Untertitel gewählt: „Ein Stundenbuch der Liebe“ - möchten Sie damit auch ausdrücken auch Pflege, auch gelebte Nächstenliebe kann Gebet sein?

Helga Schubert:

Ja, Ja!

 

 Christopher Hoffmann:

Das Stundenbuch ist ja in der katholischen Kirche ein Gebetbuch mit den Tagzeitengebeten.

Helga Schubert:

Ja, ich hab das dann in dem Moment erst als Untertitel genommen, weil mich meine sehr intelligente katholische Lektorin im DTV beruhigte, sie hat gesagt: Stundenbuch  bedeutet nicht, dass die Mönche jede Stunde beteten, sondern dass es bloß zu bestimmten Zeiten war es dann vorgeschrieben zu beten, also muss ich auch nicht mir für jede Stunde etwas ausdenken für jede Stunde, was in dem Buch passiert. Denn dann-es sollte durchaus auch was Religiöses sein in diesem Buch, denn ich habe ja auch ein Motto genommen aus Matthäus: „Darum sorge nicht für den morgigen Tag. Denn der morgende Tag wird für das seine sorgen. Es ist genug, dass der heutige Tag seine eigene Plage habe.“ (Mt 6,34). Also das ist durchaus ein Hoffnungssatz und durchaus ganz diesem Stundenbuch geschuldet. Das ist formal angelehnt, bloß nicht so schön illustriert, wie die Mönche es im Mittelalter machten.

 Christopher Hoffmann:

Aber ich finde das ganze Buch atmet ja genau diese Zuversicht und diese in aller ohne Pathos geschilderten Sachlichkeit der Pflegesituation, atmet es Hoffnung und atmet es diese Grundzuversicht: Da ist noch jemand der diesen Weg mit mir geht.

Helga Schubert:

Ja, und es geht auch weiter. Auch wenn der Weg, also diese Wegstrecke zu Ende wäre, also so.                                    

Christopher Hoffmann:

Da fällt mir jetzt sofort eine Stelle ein: „Dies ist unsere nächste Lebensaufgabe. Annehmen, Kreatürlich Leben, Wärme auf der Haut. Verlass mich nicht.“*** Wunderbar. Ganz stark, finde ich. Mit ganz wenig Worten alles gesagt!

Helga Schubert:

Eine Passionsgeschichte, die in diesem Fall hoffentlich gut ausgeht, kann ich nur hoffen.

Christopher Hoffmann:

Sie unterhalten sich ja auch mit Ihrem Mann darüber was kommen könnte-auch was nach dem Tod kommen könnte und schreiben: „Er möchte dass ich in der Sonne neben ihm sitze. Beim lieben Gott will er ein gutes Wort für mich einlegen, gleich am Eingang sitzen bleiben, bis ich nachkomme und sagen: Da ist sie.“****

Helga Schubert:

Ja. Haben wir heute früh auch wieder drüber gesprochen. Es geht darum sein eigenes Leben zu relativieren, sein eigenes Leben einzubetten in einen Sinn, in eine Liebe und eine Geborgenheit.

 Christopher Hoffmann:

Ganz ganz herzlichen Dank, Frau Schubert, für das Gespräch. Das war die Sendung SWR2 Zum Feiertag. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Ostermontag. Christopher Hoffmann, Koblenz, von der katholischen Kirche.

Literatur:

*Helga Schubert: Vom Aufstehen, in Helga Schubert: Vom Aufstegen, Ungekürzte Ausgabe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S. 213-233.

** Helga Schubert: Meine Ostergeschichte in, Helga Schubert: Vom Aufstehen, Ungekürzte Ausgabe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S.54

***Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S. 188.

****Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe, dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München, S. 10.

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29MRZ2024
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Jan-Heiner Tück Copyright by Joseph Krpelan.

Der Karfreitag erinnert an das grausame Ende des Jesus von Nazareth. Die biblischen Evangelien berichten ausführlich darüber, wie er zum Tod verurteilt und gekreuzigt worden ist. Was wie das tragische Scheitern eines charismatischen Menschen aussieht, wird in der Auseinandersetzung zur Keimzelle eines neuen Denkens über Gott. Der Apostel Paulus entdeckt im Kreuzgeschehen sogar den Ursprung tragfähiger Gottesbeziehungen. Von einem Folterinstrument des Römischen Reiches wird das Kreuz zum zentralen Heils- und Lebenszeichen des Christentums.

Mit Jan-Heiner Tück habe ich Ende der 1980-Jahre in Tübingen Griechisch gelernt, um die Texte des Neuen Testaments im Original lesen und verstehen zu können. Heute ist er Professor für Dogmatik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Und er hat ein Buch geschrieben mit dem schlichten Titel „Crux“. Darin geht es um das Kreuz. Das Kreuz in seiner Vielfalt als religiöses Heils- und Lebenszeichen. Und es geht um die Crux, um die Schwierigkeiten, die Christen und andere Zeitgenossen mit diesem Symbol heute haben.   

Wir stehen in einem Übergang von christlich homogenen Gesellschaften zu religiös pluralen Gesellschaften. Und auch der Anteil, derer, die bekennend bekenntnislos sind, steigt deutlich an. Das heißt, wir können nicht mehr selbstverständlich voraussetzen, dass alle die Symbolik des Kreuzes anerkennen. Der zweite Punkt ist jetzt die religiöse Sensibilität, die wir im Dialog mit anderen Religionen auch an den Tag legen müssen. Wir haben gelernt, uns mit den Augen der anderen zu sehen. Für Juden ist das Kreuz ein belastetes Symbol. Auch bei Muslimen setzt das Kreuz quasi die Erinnerung an die Kreuzzüge frei. 

Dass das Rektorat seiner eigenen Wiener Universität vor ein paar Jahren allerdings verfügt hat, alle noch vorhandenen Kreuze dort von den Wänden abzuhängen und selbst aus den Hörsälen der Theologischen Fakultät entfernen zu lassen, hat Jan-Heiner Tück dann aber doch schockiert:    

Das Rektorat ist quasi die Spitze einer weltanschaulich neutralen, also staatlichen Einrichtung. Aber solange die Universität sich im Fächerkanon bekennende Theologien leistet -und ich darf daran erinnern, dass die Universitäten in Europa überhaupt erst durch die Gründungsfakultäten der Theologie entstanden sind - hat es doch guten Sinn, dass diese bekenntnisgebundenen Theologien ihrerseits die Räumlichkeiten, in denen sie aktiv sind, auch markieren. Also kurz: Im Rektoratserlass liegt eine Drift hin zur Stärkung der negativen Religionsfreiheit zulasten der positiven Religionsfreiheit, und sie läuft letztlich auf eine Privilegierung der Religionslosen hinaus.

Der Vorstoß des Rektorats hat schließlich den äußeren Anstoß zur Veröffentlichung seines Buches und zu einer neuen kritischen Auseinandersetzung mit dem Kreuz und seiner Wirkungsgeschichte gegeben. „Gegen die weiße Wand“ nennt Jan-Heiner Tück seinen Versuch, die Sichtbarkeit gelebter Religion im öffentlichen Raum zu stärken, ohne die gebotene Sensibilität für Anders- und Nichtgläubige dabei außer Acht zu lassen. Ausgerechnet ein agnostischer Philosoph ist ihm dabei überraschend zu Hilfe gekommen:

Es gab in Lateinamerika um die Jahrhundertwende einen Vorstoß einer liberalen Regierung, aus den Spitälern die Kreuze zu entfernen, weil das nicht mehr zeitgemäß sei. Und damals hat sich ein agnostischer Philosoph, der sich selbst nicht als bekennend christlich verstanden hat, zu Wort gemeldet und gesagt: Liebe Leute, was macht ihr da? Das Kreuz ist doch immerhin das Symbol der Caritas, der Compassio, also des Mitleidens, des Dienstes für die Kranken, für die Notleidenden. Das wollt ihr abhängen? Seid ihr verrückt? Und ich denke, das könnten wir auch werbend in einer zunehmend säkularen Gesellschaft sagen, die ja doch für die sozialen Dienste, die die Kirchen in der Gesellschaft leisten, meistens sich doch auch Anerkennung bewahrt haben.

Kritik am Kreuz kommt aber nicht nur von Seiten einer säkularen und multireligiösen Gesellschaft, sondern auch aus den eigenen Reihen. Denn auch viele Christinnen und Christen haben ihre liebe Not mit diesem Zeichen. Das Kreuz provoziert. Es zeigt einen unschuldig Leidenden. Es zeigt einen Gefolterten. Es zeigt einen Sterbenden, der nach Gott schreit und zwingt zur Auseinandersetzung mit Themen, die schwer erträglich sind. Was bedeutet das Kreuz dem Christenmenschen Jan-Heiner Tück?  

Das Kreuz ist für mich Ausdruck der bis ans Äußerste gehenden Form der Liebe Gottes zu uns. Seine Bereitschaft, an die Seite der Opfer von Unrecht und Gewalt zu treten und hier seine Solidarität zu bekunden und zugleich ein Zeichen, das die Bereitschaft Gottes anzeigt, den schuldig Gewordenen bis in die Dunkelheit der Selbstzentrierung nachzugehen, um ihn dort rettend noch zu erreichen.

Im Kreuz stellt Gott sich also solidarisch und mitleidend auf die Seite der Opfer von Gewalt. Gleichzeitig signalisiert es Gottes Bereitschaft, noch die schlimmsten Verbrecher zu begnadigen. Wenn ich das höre, fallen mir die Debatten um sexualisierte Gewalt in den Kirchen ein. Ich denke an die vielen Betroffenen, die endlich zu Wort kommen und auch gehört werden. Und ich frage mich: Kann das gut gehen? In diesem Zusammenhang einen Gott zu bezeugen, der für Täter und für Betroffene gleichermaßen einsteht?    

Wenn man jetzt auf zerrüttete Täter-Opfer-Konstellation schaut, dann bietet das Kreuz natürlich nicht einfach simple Lösungen an. Aber es zeigt doch im Sinne der Einladung Wege aus ausweglosen Situationen an. Insofern einerseits die Entwürdigten hier eine Würdigung finden und sie nicht quasi in der Rivalität um Anerkennung erst darum kämpfen müssen, gewürdigt zu werden. Und auf der anderen Seite werden die Täter nicht fixiert auf die Untaten, die sie begangen haben, sondern die Person des Täters ist mehr als die Summe ihrer Untaten. Das heißt nicht, dass man jetzt quasi den Opfern aufdiktieren wollte: Bitte verzeiht doch euren Peinigern und Übeltätern und seht in ihnen mehr als das, was sie verbrochen haben, aber vielleicht doch den Horizont offen zu halten, dass es da eine Möglichkeit geben könnte, dass das Unmögliche doch Wirklichkeit wird, dass nämlich auch den monströsesten Tätern irgendwann im Lichte des Geistes Jesu Christi begegnet werden kann.

Der Apostel Paulus hat das Kreuz einmal als einen Skandal bezeichnet. Und das wird es wohl auch weiterhin bleiben: Das Symbol einer unmöglichen Möglichkeit, die Unvorstellbares zu denken, zu glauben wagt: Versöhnung. Heilung. Das ist anstößig. Es könnte aber auch, so Jan-Heiner Tück, ein positiver Anstoß sein.

Es gibt die Marginalisierten, es gibt die Verwundeten, die Ausgestoßenen, die unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit sind. Das ist ein erster Anstoß. Ein zweiter ist: das Kreuz ist ein Spiegel unserer Verfehlungen, unserer Schuld, die wir auch gerne verdrängen. Wir sind Meister, Meisterin in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, die immer darauf hinausläuft, es andere gewesen sein zu lassen. Und das dritte ist, denke ich: das Kreuz ruft auf zu einer Kultur der Vergebung, den anderen nicht zu fixieren auf die Fehler, die er begangen hat, sondern ihm neue Spielräume zu eröffnen; über die Verfehlungen, die er begangen hat, hinauszugehen und sich als ein anderer zu erweisen. Und viertens ist das Kreuz natürlich das Symbol der Erlösung, der Rettung mit einem österlichen Fluchtpunkt: der Gekreuzigte lebt! Das feiern wir an Ostern. Es gibt eine Perspektive über Welt und Geschichte hinaus, nämlich die Perspektive der rettenden Verwandlung und Vollendung.

Das Buch „Crux“ von Jan-Heiner Tück ist im Herder-Verlag erschienen und zur Lektüre empfohlen von Martina Steinbrecher aus Karlsruhe von der evangelischen Kirche.

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25DEZ2023
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Eine Weihnachtskrippe versammelt viele verschiedene Menschen und Tiere. Da ist zunächst einmal das übliche Personal: Maria, Josef, das Jesuskind, Ochs und Esel, Schafe und Kamele. Dann sind da die Hirtinnen und Hirten und die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. In diesem Jahr habe ich noch zwei andere Figuren symbolisch dazu gestellt. Es sind zwei junge Männer aus Eritrea. Sie haben mir in diesem Jahr einen besonderen Weihnachtsmoment geschenkt. Und das kam so:

Ich bin abends nach der Arbeit mit meinem Fahrrad noch zum Supermarkt gefahren und habe eingekauft. Als ich bezahlen will, kann ich meinen Geldbeutel nicht finden, obwohl ich überall suche. Hosentaschen, Manteltaschen, Rucksacktaschen. Nichts. Meine Geldbörse ist wie vom Erdboden verschwunden. Nachdem ich noch zweimal alles abgesucht und sogar den Rucksack ausgeleert habe, wird mir klar: Die Geldbörse ist weg, mit allen Bankkarten, mit Personalausweis, Bargeld und allem Drum und Dran.
„Tief ein- und ausatmen!“, ermahne ich mich selbst. „Sonst flippe ich aus!“

Mehrfach bin ich danach mit dem Fahrrad die Strecke von meinem Büro zum Supermarkt und wieder zurück abgefahren, obwohl es geregnet hat und ich kaum etwas gesehen habe. Aber mein Geldbeutel bleibt verschwunden. Ich versuche mich zu beruhigen: „Es gibt Schlimmeres auf der Welt!“, sage ich mir. Aber der Gedanke tröstet mich nicht. Schließlich entscheide ich mich, erst einmal nach Hause zu fahren und mir einen Kamillentee zu kochen. Einmal durchschnaufen, dann zur Polizei gehen, um den Verlust zu melden. Dann Bankkarten sperren und sich darauf einstellen, dass alles ewig dauern wird, bis ich meine Papiere wieder zusammen habe.

Der Tee zieht noch, als es bei mir an der Tür klingelt. Zwei junge Männer, beide „Person of Color“, also mit dunkler Hautfarbe, grüßen mich freundlich und fragen mich nach meinem Namen. In der Hand halten sie meinen Geldbeutel, den sie irgendwo auf der Straße gefunden haben. Die beiden lachen mich an, und ich hätte sie umarmen können.

Beide erzählen mir stolz, wie sie mit Hilfe meines Personalausweises meine Adresse herausgefunden haben. Für sie sei es eine Ehrensache, extra den Umweg zu mir nach Hause zu machen, um mir den Geldbeutel persönlich zu überreichen. Wir unterhalten uns noch eine Weile. Sie heißen Luam und Jemal und sie kommen aus Eritrea. Von dort sind sie schon vor etlichen Jahren geflohen, da sie aus politischen Gründen verfolgt worden sind. In Deutschland haben sie Sicherheit, Jobs und eine neue Lebensperspektive gefunden. Ich lade sie zu mir auf eine Tasse Tee ein. Aber da winken sie ab. Sie sind schon verplant für den Abend. Ich bedanke mich herzlich, gebe den beiden ein ordentliches Trinkgeld in die Hand, dann ziehen die beiden fröhlich ihrer Wege.

Ich schaue ihnen nach und denke: Luam und Jemal werden auf der Straße vermutlich häufiger von der Polizei kontrolliert als Paul und Ben von nebenan. Und wahrscheinlich hätte auch ich selbst sie eher kritisch beäugt und misstrauisch auf meine Geldbörse aufgepasst. Der Gedanke beschämt mich. Und gleichzeitig - und umso mehr - feiere ich diesen Moment der Freude: Denn diese beiden jungen Männer sind an jenem verregneten Abend für mich definitiv zu meinen persönlichen Weihnachtsboten geworden. Sie haben mich an den Geist von Weihnachten erinnert: An Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit.

Diese Erfahrung zeigt: Jedes Jahr beziehen ganz unterschiedliche Menschen die Weihnachtsbotschaft auf ihr eigenes Leben und werden dadurch selbst zum Teil der Weihnachtsgeschichte. Auf diese Weise kommen zum ursprünglichen Krippenpersonal immer wieder andere Menschen hinzu: Geliebte Menschen, die wichtig sind im Leben und ohne deren Einsatz so ein Weihnachtsfest gar nicht funktionieren würde: Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern nachts auf der Intensivstation. Personal in Bussen und Bahnen, in diakonischen Einrichtungen und Schulen, in der Dienstleistung und in Betrieben. Die Hebamme, die bei der schwangeren Frau ist, wenn sie das Kind gebiert. Sozialarbeitende, die Drogensüchtige oder Wohnungslose unterstützen. Polizei, Feuerwehr und so viele andere, die haupt- oder ehrenamtlich dafür sorgen, dass menschliches Zusammenleben gelingt, und zwar mit Kopf, Herz und Hand.
Und so kommt auch Jesus jedes Jahr in der Heiligen Nacht auf die Welt - mitten hinein ins konkrete Leben.

Damit werden diejenigen, die Weihnachten feiern, zu modernen Hirtinnen und Hirten, die - wie damals - von den Engeln gerufen werden und die Geburt Jesu bezeugen.

In diesem Jahr sind das für mich Luam und Jemal aus Eritrea und für Sie mögen es andere sein, die mit an der Krippe stehen und die Weihnachtsbotschaft in ihr Lebensumfeld bringen. Ihnen allen wird an Weihnachten zugerufen: „Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch große Freude. Gott ist Mensch geworden und bringt Licht und Hoffnung in die Welt!“

Diese Weihnachtsbotschaft wird auch in den vielen Krippen weltweit immer wieder neu dargestellt. Und damit kommt die Weihnachtsgeschichte tatsächlich ganz handfest auf die Marktplätze und in die Wohnzimmer der Menschen. Mit Holzfiguren, Krippe und Stroh, Ochs und Esel und dem Stern über dem Stall.

Die Krippendarstellungen spiegeln dabei ganz selbstverständlich das jeweilige soziale Umfeld, die Region und Kultur. Da wird Jesus zum südafrikanischen, mexikanischen oder koreanischen Baby. Das ist nicht nur Folklore, sondern zeigt eindrücklich und konkret: Gott wird an Weihnachten einer von uns, nimmt menschliche Gestalt an, bekommt menschliche Züge, und die sehen dann halt auch so aus wie die Menschen: ganz verschieden.

Deshalb finde ich die Krippendarstellungen in der Advents- und Weihnachtszeit auch so spannend. Es berührt mich, mit wie viel Liebe diese Krippen geschnitzt, bemalt, aufgestellt und mit Figuren gefüllt werden. Erst sind es nur Ochs und Esel und ein paar Hirten auf dem Feld. Maria und Josef kommen am Heiligen Abend dazu und das Jesuskind wird in der Heiligen Nacht dazugelegt. Danach kommen die Hirten und schließlich am 6. Januar die drei Weisen aus einem fernen Land im Osten. Über allem wacht der Stern und die Tiere, die alles im Blick behalten.

In manchen Städten gibt es ganze Krippenwege durch die Innenstädte. Dort werden in der Adventszeit Krippen von ganz verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern aufgestellt. Ich erinnere mich an eine Krippe, die auf einem Rettungsboot voll mit Geflüchteten auf dem Wasser stand, eine andere Krippe hat mitten auf einer Müllhalde gelegen. Es gibt Krippen in Zelten, in Iglus, in einem Hochhaus oder in einer Garage. Diejenigen, die die Krippen bauen, orientieren sich an ihren eigenen Lebensorten.  

Es sind aber nicht nur die Orte der Krippen, die von alters her an verschiedene Lebensorte in der ganzen Welt versetzt worden sind.

Es sind auch die Hauptfiguren der Geschichte, die dem eigenen Lebensumfeld angepasst werden. Da gibt es Figuren eingepackt in dicke Mäntel und mit Gesichtern von Inuit, also von den Menschen, die im Norden Kanadas leben. Es gibt Figuren mit asiatischen Gesichtszügen, die Saris und Seidentücher tragen. Es gibt Figuren mit Alltagskleidern, die auch ich tragen könnte: Jeans, Pullover, Sportschuhe in einer Wohnung irgendwo in Europa. Und dann gibt es Figuren, deren Haut schwarz ist und die vor afrikanischen Zelten das neugeborene Kind bestaunen und feiern. Und es gibt dunkelhäutige Menschen vor einem Beduinenzelt oder einer einfachen Unterkunft, wie sie auch heute noch in Bethlehem zu finden sind. Die Gesichtszüge sind verschieden. Aber allen steht die Freude über das neu geborene Kind ins Gesicht geschrieben.

„Ja“, sage ich mir, „so kommt die Weihnachtsbotschaft immer wieder neu in die Welt.“ Indem überall auf der Welt der Stern von Bethlehem in die Leben der Menschen hineinleuchtet und von etwas Besonderem erzählt. Von einem einfachen Kind, das geheimnisvoll und wehrlos zu sein scheint und von dem trotzdem ein intensives Licht und eine besondere Kraft ausgeht.

Die Geschichte erzählt von der Zuversicht, dass nicht Militärmacht und Gewalt, sondern ein friedliches und respektvolles Miteinander, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit wichtig sind im Leben. Egal ob die Weihnachtsboten Hirten aus Bethlehem sind oder Luam und Jemal aus Eritrea, egal ob sie aus Nazareth, Bangkok oder Buenos Aires kommen, egal ob sie schwarz sind oder weiß, jung oder alt, männlich, weiblich oder divers, queer oder hetero. Sie alle werden zu Botinnen und Boten dieser wunderbaren Geschichte von dem Kind in der Krippe.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen friedliche und gesegnete Weihnachten!

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01NOV2023
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Alexander Foitzik spricht mit Prof. Stephan Goertz 

Alexander Foitzik:

Mit dem heutigen Fest „Allerheiligen“ gedenkt die katholische Kirche der Gemeinschaft der Heiligen, also all der Männer und Frauen, die  - oft auch unbequem und anstößig - Zeugnis von ihrem Glauben gegeben haben, in dem was sie  gesagt oder getan haben.

Über das Fest Allerheiligen, seine Botschaft spreche ich heute mit Stephan Goertz. Er ist Professor für Moraltheologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Herr Professor Goertz, gemeinsam mit Ihrer Mitarbeiterin Stephanie Höllinger haben Sie gerade über den heiligen Sebastian ein Buch veröffentlicht. Eine wirklich spannende Geschichte, über die wir reden müssen. Zuerst aber, was bedeutet für Sie dieses Fest „Allerheiligen“ – ist das für sie eher eine schöne Tradition im Kirchenjahr? Oder hat dieses Fest Allerheiligen für Sie einen besonderen aktuellen Bezug, eine besondere Botschaft für uns heute?

Prof. Stephan Goertz:

Es ist zunächst in der Tat ein Fest mit vielen Erinnerungen an meine Kindheit. Im katholischen Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin, war es Familientradition, an diesem Tag die Gräber der verstorbenen Verwandten zu besuchen – da ging es (nach dem Gottesdienst) mit dem Auto von einem Friedhof zum anderen. Das war gewissermaßen Pflichtprogramm.

Gut katholisch, würde ich sagen: Traditionen werden gepflegt – ihr tieferer Sinn liegt verborgen.

Als Theologe denke ich heute: die Verstorbenen, an die wir an ihren Gräbern gedacht haben, und die Heiligen – das sind nicht zwei voneinander getrennte Gruppen. Menschen sind außergewöhnliche Lebewesen – und insofern Heilige. Christlich gesprochen: Gott betrachtet den Menschen als sein Ebenbild und achtet damit dessen Würde. Und so ist jeder Mensch als heilig zu betrachten und zu respektieren.

Alexander Foitzik:

„Sebastian: Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone“ – so lautet der vielsagende Titel Ihres Buches: Sebastian war/ist ein Märtyrer der frühen Kirche Roms. Streng genommen wissen wir historisch nicht allzu viel über ihn. Und doch verehrt ihn später ganz Europa als Seuchenheiligen. Danach gerät er wieder in die zweite Reihe des Heiligen-Kosmos. Herr Professor Goertz, Sie sprechen in Ihrem Buch vieldeutig vom „Überlebenskünstler“ Sebastian. Was zeigt sich in dieser Heiligen-Karriere Sebastians? Aus welchen Erwartungen, Hoffnungen, Bildern heraus schreiben sich solche Heiligen-Geschichten. Was sagt dies jeweils über die Rolle der Heiligen, zwischen Himmel und Erde?

Prof. Stephan Goertz:

Wir haben es im Buch so bezeichnet: aus dem Sebastian der Geschichte wird der Sebastian des Glaubens. Am Anfang steht ein historisches Ereignis, auch wenn dieses für uns kaum Konturen hat. Christen und Christinnen werden seit der Antike wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet – man nennt sie Märtyrer. Über die Märtyrer heißt es in der Bibel, dass sie nicht gerichtet werden – sondern bereits bei Gott sind. Die Märtyrer sind Sieger, nicht Besiegte. So werden sie zu den Heiligen, denn heilig sein, das ist in der religiösen Vorstellungswelt eine Eigenschaft, die auf einer göttlichen Erwählung, einer besonderen Nähe zu Gott beruht. Sie sind bei Gott. Das ist der entscheidende Gedanke. Und wenn sie bei Gott sind, dann können sie dort Fürsprache halten – dann können sie unsere Anliegen vor Gott tragen. Sie sind also Mittlerfiguren; zwischen Gott und den Menschen, zwischen Himmel und Erde. Heilige sind hybride Wesen: tot und lebendig zugleich, im Himmel und auf Erden präsent.

Die Verehrung der Heiligen erzählt von den Hoffnungen der Menschen. Etwa von der Hoffnung, dass es jemanden gibt, der sich bei Gott für mich einsetzt, der wirksam um Hilfe bitten kann, der verlässlich an meiner Seite steht.

So ist es auch bei Sebastian. Sein Aufstieg zum populären Heiligen ist mit einer Szene seines Martyriums verbunden. Als ihn die Kaiser um das Jahr 300 zum Tode verurteilen, weil er sich als hoher Offizier heimlich für die Christen eingesetzt hat, soll er durch Bogenschützen hingerichtet werden. Aber Sebastian überlebt auf wundersame Weise die eigentlich tödlichen Pfeile. So erzählt es seine Legende. Jahrhunderte später erinnern sich Menschen an diese Geschichte.

Sie erinnern sich an ihn in Zeiten der Pest, die Europa im Mittelalter immer wieder heimsucht. Denn Pfeile stehen für die Seuche, die den Menschen trifft, die angeflogen kommt, die Leid und Tod bringt. Wer könnte also besser als Sebastian in der Not um Fürsprache angerufen werden? Er ist von Pfeilen getroffen, wie wir, aber es hat es überlebt! So ist seine Figur eine Figur der Hoffnung.

Alexander Foitzik:

Im 19. Jahrhundert wird schließlich Sebastian quasi zu neuem Leben erweckt: als Identifikationsfigur für Homosexuelle und andere Stigmatisierte, in Kirche und Gesellschaft. Eine für Sie überraschende Entwicklung?

Prof. Stephan Goertz:

Ja in der Tat. Aus dem Sebastian des Glaubens wird Sebastian die Ikone. Sie beginnt vor gut zweihundert Jahren und dauert bis heute an. Wieder spielen die Pfeile die entscheidende Rolle.

In Darstellungen des Martyriums treffen die Pfeile den nackten Körper Sebastians. In der Renaissance und im Barock wird Sebastian zudem immer jünger und schöner. Ihn treffen die Pfeile, aber er wird nicht besiegt; und Schönheit kann heilende Kräfte entfalten, so dachten manche. Dieser schöne, junge Sebastian, der in der Qual Anmut bewahrt, wird zur Identifikationsfigur für schwule Männer. Sie bewundern seine Schönheit und sie erkennen sich in Sebastian wieder: sie sind Opfer von Missachtung und Gewalt, sie werden bestraft für das, was sie sind. Als mit AIDS, wie es verächtlich heißt, eine Schwulen-Pest ausbricht, wird Sebastian zur Protestfigur, die die Stigmatisierung von Homosexuellen anklagt.

Alexander Foitzik:

Wie bleibt Sebastian eigentlich Sebastian, trotz dieses Wandels? Oder umgekehrt gefragt: Was ist so zeitlos attraktiv an dieser „Figur“, dass er so offen ist für zeitbedingte Auslegungen? Und womöglich ist seine Geschichte ja noch nicht auserzählt….

Prof. Stephan Goertz:

Es gibt eine Darstellung Sebastians von dem deutschen Künstler Stephan Balkenhol – seine Skulptur zeigt einen von Pfeilen getroffenen Jedermann in weißem Hemd und schwarzer Hose; Titel des Kunstwerkes: Märtyrer.

Balkenhol schreibt dazu: „Jeder könnte im Prinzip zum Märtyrer werden, wenn er sich angreifbar macht, indem er das Risiko eingeht, sich für seine Überzeugung einzusetzen – mit seiner ganzen Existenz.“ Es kann jede und jeden treffe. Diese menschliche Grunderfahrung verbindet den Sebastian der Antike mit uns heute. Wir Menschen sind sehr verletzliche Wesen – an Körper und Seele. So verwundert es nicht, dass Sebastian kein in der Geschichte verschwundener Heiliger ist. Sondern sehr lebendig. Seht, was Menschen widerfährt – Menschen, die doch in Frieden und Freiheit leben wollen, weil es ihrer Würde entspricht. Die christliche Antwort, die an Sebastian haftet, lautet: die ungerecht Verfolgten und Gemarterten werden von Gott gerettet werden. Der Kern von Hoffnung: Das letzte Wort der Geschichte wird nicht Zerstörung sein.

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08JUN2023
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Bevor ich als evangelische Pfarrerin etwas zum katholischsten aller christlichen Feiertage sage, nämlich zum heutigen Fronleichnamsfest, möchte ich gerne die ehemalige Hamburger Bischöfin und erste Frau in einem Bischofsamt, Maria Jepsen, zitieren. Sie hat aus meiner Sicht sehr schön und treffend formuliert, wie wir Protestanten auf andere Konfessionen blicken. Sie schreibt:   

„Unter den Kindern Gottes sind die Protestanten die Ernsten. Gott hat so viele Kinderscharen. Die Protestanten aber sind die stillen unter ihnen, selten ausgelassen und kaum prächtig gekleidet. Die Belesenen sind sie, die fast nie ohne ihr Buch unterwegs sind; sie sind die, die, wenn die andern lachen oder singen oder springen, sich unter einen Baum setzen und nicht mithüpfen, sondern ihr Buch aufschlagen und darin lesen. Das ist ihr Glück: sich zu freuen an dem, was da geschrieben steht seit alten Zeiten. So fühlen sie sich Gott am nächsten. Unter den Konfessionen sind die Protestanten die Bücherwürmer, die Leseratten. Manchmal aber sehen sie auf die anderen Kinderscharen Gottes, die Sänger, die Tänzer, die Artisten. Dann bewegt sich ihr Herz, als wäre eine kleine unruhige Sehnsucht darin, die herauswill. Und sie wissen nicht recht: was soll das bedeuten? Doch schon neigen sie sich wieder über das Buch und beruhigen aus ihm mit schönen, alten Sätzen die Unruhe. Und tanzen und baden und spielen nicht mit.“

Mir gefällt diese augenzwinkernde Beschreibung, und ich finde mich darin wieder, wie ich mit meiner Bibel unterm Arm kopfschüttelnd auf jedes kirchliche Geschehen blicke, das nicht in diesem Buch seinen Ursprung und seine Quelle hat. Aber auch diese kleine unruhige Sehnsucht nach dem prallen Leben außerhalb von Buchdeckeln ist mir sehr vertraut, und deshalb möchte ich ausgehend von drei persönlichen Erfahrungen sagen, was ich an diesem Fronleichnamsfest schätze:

Zwei katholische Cousinen in meiner ansonsten rein evangelischen Großfamilie waren für mich die Türöffnerinnen in eine ganz andere kirchliche Welt als die, die ich von klein auf kennengelernt habe. Es muss wohl bei der Feier von deren Erstkommunion gewesen sein, als ich zum ersten Mal diesen Gesang gehört habe, der auch heute an vielen Orten gesungen wird: „Tantum ergo sacramentum, veneremur cernui.“  Auf Deutsch: „Sakrament der Liebe Gottes, Leib des Herrn sei hoch verehrt.“  Mit meinen Anfängerlateinkenntnisssen konnte ich längst nicht alles richtig übersetzen, geschweige denn verstehen. Aber gespürt habe ich es ganz genau: Da ging es gar nicht in erster Linie darum, alles zu verstehen oder bis ins Letzte intellektuell zu durchdringen, wie es eine Predigt, das Kernstück des evangelischen Gottesdienstes, versucht. Hier ging es eher darum, ein Geheimnis zu besingen und anzubeten, das Geheimnis der Liebe Gottes. Nicht nur größer als meine Lateinkenntnisse, sondern höher als jede menschliche Vernunft. Und deshalb die Mitte eines immer wiederkehrenden Ritus, einer heiligen Handlung, einer Wandlung, die von der stetigen Wiederholung lebt, weil sie unerschöpflich ist. Diese heilige Handlung besteht darin, dass in jeder katholischen Messfeier ein Stück Brot, meist in Form einer runden, münzgroßen Hostie in den Leib Christi verwandelt wird. Den Gläubigen, die in der anschließenden Eucharistiefeier dieses Brot zu sich nehmen, kommt Gott dadurch beispiellos nahe, ja, man könnte zugespitzt sagen, sie verleiben sich Gottes Gegenwart ein, auf dass sie sich ausbreite in jede Zelle ihres Körpers und Gottes Liebe den ganzen Menschen durchdringt.  

Die Verehrung dieser Hostie, in der sich der Leib Christi auf geheimnisvolle Weise verbirgt und zeigt, steht im Mittelpunkt beim Hochfest des Leibes und Blutes Jesu Christi, wie der heutige Feiertag offiziell heißt. Eingepackt in ein auffälliges und meist kostbares Schaugefäß, eine Monstranz, wird die Hostie an vielen Orten von einem Priester in langen Prozessionen durch die Straßen getragen. Und dabei wird nun meist alles aufgeboten, was zusätzliche Aufmerksamkeit erzeugen kann: Fahnen, ein Baldachin, weihrauchgefäßschwenkende Ministranten, Erstkommunionkinder in ihren weißen Kleidern und blauen Anzügen, Chöre und Blasorchester. Als ich auf meiner ersten Pfarrstelle zum ersten Mal eingeladen war, an einer solchen Fronleichnamsprozession teilzunehmen und bei der Station vor der evangelischen Kirche eine kleine Ansprache zu halten, habe ich wohl verstanden, dass mir eine große Ehre zuteilwurde, mir war aber offen gestanden auch ein bisschen mulmig. In den Worten von Maria Jepsen wollte ich dann doch lieber in einiger Entfernung unterm Baum sitzen als im prächtigen Zug der Artisten mitzuhüpfen. Im Lauf der Jahre und der Prozessionen hat sich das geändert, und wenn mir auch manches fremd geblieben ist, so habe ich doch eines bei diesen Prozessionen ganz deutlich erlebt: Ein starkes und stärkendes Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören und das auch öffentlich zu zeigen. Monstrare und demonstrare: Ich zeige mich und ich bekenne mich zu dem, was mich trägt.   

Eine dritte Erfahrung ist dagegen auch schmerzlich: Im Sommerurlaub in Italien gehen wir sonntags zur Heiligen Messe. Es ist ein Spektakel unter freiem Himmel. Beim Friedensgruß drücken mir alle Umstehenden die Hand, murmeln pace, Friede sei mit dir. Ich kenne ja keinen, es treibt mir die Tränen in die Augen, der Ritus trägt. Da ist es wieder, das Gefühl einer tiefen Verbundenheit über Grenzen hinweg. Wir nehmen auch an der Eucharistiefeier teil, stellen uns mit all den andern in eine lange Schlange, formen die Hände zu einer Schale, empfangen die Hostie, Nahrung für unseren Glauben. Aber bei meinem Sohn, der in der Reihe vor mir steht, damals vielleicht sechs Jahre alt, stockt die Prozession. Der Priester fragt ihn auf Italienisch, ob er denn schon seine Erstkommunion erhalten habe. Si, si, aber ja, antworte ich schnell und lächle verbindlich, eine glatte Lüge, aber es geht weiter. Wieder reichen die Sprachkenntnisse nicht aus, um zu erklären, dass wir ja evangelisch sind und unsere Kinder regelmäßig auch an den Abendmahlsfeiern in unserer Kirche teilnehmen und dort Brot und Saft mit andern teilen. Plötzlich steht mit Macht das Trennende im Raum.

Denn nach der reinen Lehre darf kein katholischer Priester einem nicht katholisch getauften und entsprechend unterwiesenen Menschen die Hostie reichen.

Zum Glück habe ich auch viele Priesterkollegen erlebt, die das einfach ignoriert haben, auch dann, wenn sie wussten, dass sie eine evangelische Pfarrerin vor sich haben. Ich danke es ihnen sehr. Was für mich aber noch viel wichtiger ist: Nie, niemals habe ich mich davon abhalten lassen, in katholischen Messen an der Eucharistiefeier teilzunehmen. Denn ich glaube fest daran, dass Christus selbst mich einlädt, niemand sonst, und deshalb lasse ich mich auch von keinem Priester davon abhalten. So wie mir in den evangelischen Gottesdiensten die Feier des Abendmahls lieb und teuer ist, so in der katholischen Messe die Feier der Eucharistie. Hier wie dort erlebe ich, dass Brot und Wein und die Gemeinschaft mit anderen meinem Glauben auf eine Art und Weise Nahrung geben, wie kein Wort es vermag. Ich brauche eben beides: Wort und Sakrament. Brot und Bibel. Denn so steht es in dem Buch, ohne das ich nie unterwegs bin: „In der Nacht, in der er verraten wurde, nahm der Herr Jesus das Brot. Er dankte Gott, brach das Brot in Stücke und sagte: »Das ist mein Leib für euch. Tut das zur Erinnerung an mich!« Ebenso nahm Jesus nach dem Essen den Becher und sagte: »Dieser Becher steht für den neuen Bund, den Gott durch mein Blut mit den Menschen schließt. Tut das zur Erinnerung an mich, sooft ihr aus diesem Becher trinkt.«

Den katholischen Christinnen und Christen bin ich dankbar, dass sie dieses Geheimnis der Liebe Gottes im wahrsten Sinne heute hochhalten. Und ich hoffe mit vielen darauf, dass der Tag kommt, an dem evangelische Pfarrerinnen bei Fronleichnamsprozessionen nicht nur biblische Ansprachen vor ihrem Kirchturm halten, sondern diese biblischen Worte auch ihre Wirkung zeigen: „Kommt, denn es ist alles bereit. Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist.“ Und dann alle Gäste sind an einem Tisch.  

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29MAI2023
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Judy Bailey und Patrick Depuhl Copyright: Darius Ramazani.

Christopher Hoffmann spricht mit den Musikern Judy Bailey und Patrick Depuhl

Christopher Hoffmann:

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Heute am Pfingstmontag spreche ich mit den Musikern Judy Bailey und Patrick Depuhl. Sie Judy, sind in London geboren und in der Karibik, auf Barbados, aufgewachsen. Sie Patrick sind in Duisburg geboren und am Niederrhein groß geworden. Inzwischen sind Sie seit über 25 Jahren verheiratet, haben drei gemeinsame Söhne im Teenageralter und sind um die ganze Welt getourt. Und Sie haben ein wie ich finde sehr inspirierendes Buch geschrieben mit dem Titel „Das Leben ist nicht schwarz-weiss“.* Sie wollen damit gegen das schwarz-weiss Denken ankämpfen und es aufbrechen und deshalb, finde ich, hat dieses Buch auch viel mit dem Pfingstgeist zu tun, der uns ja auch herausfordern will uns immer wieder zu öffnen, unsere vielleicht festgefahrenen Meinungen zu überdenken und offen in die Welt zu schauen. Was feiern Sie heute an Pfingsten, Judy und Patrick?

Judy Bailey:

Es ist möglich für alle Leute, überall, wer auch immer du bist, wenn du möchtest du hast die Möglichkeit eine Begegnung zu haben mit Gott. Und das ist für mich Pfingsten. Ich glaube, dass der Geist möchte mit uns arbeiten. Und durch uns arbeiten. Und weil die Botschaft ziemlich klar ist in der Bibel und weil ich glaube, dass der Geist lebt und relevant ist, ich glaube, dass wir Dinge ändern können.

Patrick Depuhl:

Wenn ich an das erste Pfingsten denke, dann sehe ich da eine Gruppe von Jüngern und Jüngerinnen, die nicht so genau wusste was ihnen geschah, als Gottes Geist ihnen nahekam und ihnen Kraft gab und so ihre Gaben entfaltete und sie zu - im wahrsten Sinne des Wortes - begeisternden Menschen machte, die andere auch ansteckten mit dieser Kraft Gottes. Und Leute hatten so den Eindruck für einen Moment Gott ist mir nah auch durch diese Menschen. Und ich glaube das feiere ich Pfingsten, dass Gott immer noch nah kommen kann auf ganz überraschende, ungewöhnliche Arten und tatsächlich uns durch andere Menschen begeistert.

Die Texte aus dem Buch „Das Leben ist nicht schwarz-weiss“ haben finde ich eine ganz klare Botschaft: Vor Gott haben alle Menschen die gleiche Würde – unabhängig von Hautfarbe, von Herkunft oder Nation. Das ist für mich auch eine Pfingstbotschaft, denn in der Lesung zum heutigen Pfingstmontag, da sagt Petrus in der Apostelgeschichte: „Jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist.“ (Apg 10,34-35) Warum ist Ihnen diese Botschaft so wichtig?

Patrick Depuhl:

Ich glaub tatsächlich, dass ist so dieser Blick Gottes. Und manchmal sehen wir uns und denken, mir ist Gott vielleicht ein bisschen näher, weil ich so und so bin. Das ist eigentlich schön, dass du diesen Vers ausgesucht hast, dass Petrus das an so einem Tag auch erkennt: Moment, ich hab´s gar nicht gemerkt, ich hab immer so auf mich geachtet! Und ich merk: Ne, jeder von uns kann beten: „Unser Vater im Himmel“, das ist immer so ganz unmittelbar: mit einem Gespräch, mit einem Gebet bin ich wirklich an Gottes Ohr, an Gottes Herz. Das ist für mich voll die Pfingstbotschaft, dass Gott uns so nah ist und uns den Wert zuschreibt, weil wir haben die Tendenz zu sagen: Oh, du hast ne Behinderung,  oh, du hast nicht die richtige Hautfarbe, vielleicht mag Gott dich nicht so gerne, oder andersrum.

In dem Buch werden Sie auch sehr persönlich und begeben sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu ihren Vorfahren. Nehmen Sie uns mal mit auf diese Reise in die Vergangenheit, Judy…

Judy Bailey:

Es war mir immer sehr bewusst, dass mein Hintergrund -obwohl ich auf Barbados aufgewachsen bin - nicht auf Barbados angefangen hat. Wenn ich darüber nachdenke: Meine Geschichte, dass Europäer nach Afrika gegangen sind, Westafrika. Leute wurden versklavt, Leute wurden einfach „gekauft“ und mit genommen nach Barbados, um da Plantagen aufzubauen und Leute wurden schrecklich behandelt. Leute, die versklavt haben, haben einfach die Namen von die „Besitzer“ gegeben- also unsere Namen sind einfach verschwunden. Und das ist für mich sehr wichtig geworden in diesem Buch, in dieser Zeit, das wirklich ein bisschen nachzuforschen.

Patrick Depuhl:

Ich glaub auch als wir dann uns die Geschichte noch mal angeguckt haben auf Barbados: erstens haben viele die Überfahrt gar nicht überlebt, die sind einfach ins Meer geschmissen worden, wenn sie krank waren, oder wenn sie gestorben sind, weil die Verhältnisse so krass waren auf diesen Schiffen. Wenn sie es geschafft haben, haben Sie in Barbados durchschnittlich zwei bis drei Jahre überlebt, also es war wirklich so wie eine Maschine: ich gebrauch die kurz… Allein auf Barbados leben heute 287.000 Leute ungefähr- aber es sind 400.000 Sklaven auf die Insel gebracht worden, also mehr als Menschen da leben sind dahin gebracht worden und einfach so verbraucht worden als seien es keine Menschen.

In der Lesung, die an den Gottesdiensten heute zu Pfingsten zu hören ist, da schreibt Paulus im 1. Korintherbrief: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie, und alle wurden in dem einen Geist getränkt.“ Wenn Sie diesen Vers hören Judy, Ihre Vorfahren wurden aus Westafrika nach Barbados versklavt, wurden gedemütigt, gequält, manchmal sogar umgebracht wegen ihrer Hautfarbe. Was bedeutet Ihnen dieser Vers?

Judy Bailey:

Wenn ich diesen Vers höre, heißt das für mich: Wir sind gescheitert. Weil das ist nicht, was die Vergangenheit zeigt und leider teilweise auch heute nicht. Das ist für mich eine sehr klare Botschaft und Erinnerung, dass wenn besonders wir als Kirche, wenn wir sagen und wenn wir als Christen leben möchten, dann müssen wir das ganz ernst nehmen und Liebe zeigen. Wenn unser Glaube basiert ist auf Liebe, dann muss das wirklich in der Tat zu sehen, nicht nur mit Worte, aber in der Tat zu sehen und spürbar sein.

Patrick, Sie sind Nachfahre eines Mannes, der in einem so genannten „Lebensborn“-Heim der SS auf die Welt kam. Ihr Vater Michael war damit eines von rund 10.000 Kindern, die innerhalb von 10 Jahren bis 1945 in Häusern zur Welt kamen, die der Naziverbrecher Heinrich Himmler hatte bauen lassen, damit dort mehr „arische“ Kinder zur Welt kommen…

Patrick Depuhl:

Ja tatsächlich waren es etwa 10.000 Kinder, die in deutschen Heimen zur Welt gekommen sind. Es gab noch einige mehr über Europa verteilt, vor allem in Norwegen war das Stichwort: „Aufnordung der deutschen Rasse.“ Also mein Vater kam in einem Heim in der Nähe Bremens zur Welt und für uns war das dann relativ krass zu sehen: Sein Leben wurde als „wertes“ Leben beschrieben und das Leben vieler Sklaven und Schwarzen als „unwertes“ Leben. Hätten wir damals die Familie gehabt, die wir jetzt haben, mit drei Kindern, auch noch Kinder die heißen Levy, Noah, Jakob, jüdische Namen, die nicht „arisch“ sind -das wäre alles lebensgefährlich gewesen. Ich weiß noch, als ich der Expertin dieses Lebensborn-Heims, wo er geboren wurde, einen Brief schrieb: „Das haben wir Himmler ziemlich versaut“- […] Hey wären wir schwarz und weiss wären unsere Kinder grau, das sind sie nicht! Gott ist ein wunderbarer, bunter, lebendiger Gott und das müssen wir als Geschenk nehmen und eben nicht diese ganzen Trennungen und Teilungen und Einteilungen und Schubladen. Wo sein Geist uns zusammenbringt, da werden wir wirklich Menschen.

Ihr wählt für eure Konzerte immer wieder auch ganz besondere Orte und Anlässe, ihr habt zum Beispiel in einem Kinderhospiz gespielt, eine sterbende Frau in ihren letzten Stunden begleitet, ihr die Hand gehalten und ein Lied gesungen, weil sie sich das gewünscht hat. Ihr habt in Flüchtlingsunterkünften, bei Obdachlosen und sogar in Gefängnissen gesungen. Warum macht ihr das?

Patrick Depuhl:

Über die Jahre war es echt ein großes Vorrecht Konzerte in ganz vielen Ländern an ganz vielen Orten zu machen- und irgendwann hat man glaube ich auch die Idee zu sagen: Können wir nicht auch Konzerte da machen, wo man sie nicht erwartet? Das war schon in der Straßenbahn, aber eben auch an traurigen Orten, im Hospiz. Und dann schrieb später der Leiter des Hospizes: Ihr habt so viel Lebensfreude gebracht – wir dachten so wow! Wir haben in einer Friedhofskapelle gespielt. Oder einfach auf dem Bahnhof. Es war die Osternacht und ich weiß noch es haben Obdachlose in der ersten Reihe getanzt – und das sind schon ganz besondere Erinnerungen. Oder Gefängnisse haben Sie gerade angesprochen: in der Justizvollzugsanstalt Essen war das, da gab es einen Männerchor und der hat so mit Inbrunst gesungen, das war nicht nur vierstimmig, das war – ich weiss nicht - 23-stimmig, genau so viele wie das waren, aber es war so ansteckend: Und ich weiss noch diese eine Zeile: „Wie ist Versöhnung? So ist Versöhnung-wie ein Schlüssel im Gefängnis!“ Und ich dachte: Boah, das gibt diesem Lied noch mal eine ganz andere Kraft, einen ganz anderen Raum!

Zum Schluss: Sie strahlen trotz dieser zum Teil auch wirklich heftigen Lebenserfahrungen und beeindruckenden, manchmal vielleicht  auch -ich würde sagen - belastenden biographischen Stationen eine Leichtigkeit und Lebensfreude aus, die wirklich ansteckend ist. Wo kommt das her?

Judy Bailey :

Ich glaube es kommt von diesem Durchleben von schweren Sachen mit Gott mittendrin und das Wissen, dass Gott da ist und dass es weitergeht und diese Hoffnung ist irgendwie in mein Herz gepflanzt.

Vielen, vielen Dank für das Gespräch.

Sehr, sehr gerne.

*Patrick Depuhl und Judy Bailey: Das Leben ist nicht schwarz-weiß. Geschichten von Wurzeln, Welt und Heimat, adeo Verlag Asslar, 2021, Seite 190.

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18MAI2023
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Professor Heino Falke Copyright: Boris Breuer.

Christopher Hoffmann spricht mit Prof. Heino Falcke

Ich bin Christopher Hoffmann von der katholischen Kirche. Mein Gesprächspartner heute am Fest Christi Himmelfahrt ist der Astrophysiker Heino Falcke. Weltweit bekannt wurde er als er mit seinem Team 2019 das so genannte Schwarze Loch fotografiert hat und dieses Bild milliardenfach um den Globus ging. Der 56-Jährige Wissenschaftler ist eine Koryphäe der Astrophysik, lehrt und forscht an der Universität Nimwegen in den Niederlanden und er ist gläubiger Christ. Und deshalb scheint er mir prädestiniert als Gesprächspartner heute am Fest Christi Himmelfahrt. Im Englischen gibt es ja zwei Begriffe- also einmal „sky“ für den astrophysikalischen Himmel und „heaven“ für den religiösen Himmel. Im Deutschen haben wir nur diesen einen Begriff - „Himmel“ - und das führt auch am Fest Christi Himmelfahrt immer wieder zur Verwirrung. Herr Professor Falcke, von welchem Himmel ist denn da heute die Rede?

Professor Heino Falcke:

Bei der Himmelfahrt geht es natürlich um den religiösen Himmel. Aber ich glaube, dass der astronomische Himmel, den wir bewundern von der Erde aus da auch ein Symbol für ist. Weil wenn man sich mal nachts hinlegt und hat die Chance in einer dunklen, klaren Nacht mal nach oben zu schauen, dann erfährt man das, was viele Generationen seit tausenden von Jahren eben erfahren haben, die merken: Da ist etwas Größeres, etwas was weiter ist. Was auch Fragen an uns stellt. Und deswegen steht auch dieser astronomische Himmel so ein bisschen Symbol glaube ich für den religiösen Himmel, der weiter ist, der transzendenter ist, der uns herausfordert auch über unsere eigenen Grenzen hinaus zu denken und zu glauben und zu hoffen. 

Eine Frage die Sie sich ja vor vielen Jahrzehnten schon gestellt haben ist: Kann man Schwarze Löcher fotografieren? Kann man die abbilden? Und 2019 wurden Sie dann mit Ihrem Team bekannt, als Sie das geschafft haben. Können Sie uns zunächst erklären: Was ist ein schwarzes Loch überhaupt?

Ja, ein schwarzes Loch ist unfasslich viel Materie zusammengepresst in kleinstem Raum. Schwarze Löcher repräsentieren die perfekte Dunkelheit, das Ende von Raum und Zeit. Und wir können schwarze Löcher selber nicht sehen, weil sie ja keine Information von sich geben, aber wir können sehen was fehlt: das fehlende Licht, wir sehen den Schatten schwarzer Löcher und das ist das, was wir damals abgebildet haben, den Schatten eines schwarzen Lochs.                    

Kann man das in ein Bild fassen? Sie haben glaube ich mal Weltraumfriedhof das in einem Buch auch genannt?                                                                                               

Ja, Schwarze Löcher sind tatsächlich ein Weltraumfriedhof, weil wenn große Sterne sterben dann bleibt am Ende nur dieses kleine schwarze Loch. Und Schwarze Löcher können immer nur wachsen, weil alles immer nur reinfallen kann, sie können verschmelzen, sie werden größer und größer, es ist eigentlich das absolute Endstadium von allem.

Wenn ich Ihnen zuhöre: das klingt durchaus auch bedrohlich, also da könnte man vielleicht auch fragen: Hat das Leben dann überhaupt einen Sinn, wenn sowieso irgendwann alles von einem Schwarzen Loch aufgesaugt wird? Aber Sie halten erstaunlicherweise dagegen und haben in einem Interview einmal gesagt: „Ich vertraue darauf, dass das was ich mache Sinn hat. Woher kommt ihr Vertrauen?                                       

Ja, das ist tatsächlich so ein Urvertrauen, ein Urglaube der da ist. Wir lernen ja, dass unser Leben endlich ist. Wir werden geboren, wir werden wieder sterben. Wir werden nichts mitnehmen von dem, was wir hier auf der Erde schaffen. Und auch das ganze Universum ist entstanden und wird wieder vergehen, nichts bleibt am Ende. Und doch sind wir glaube ich eingebettet in eine größere Wirklichkeit, in eine größere Hoffnung. Wir kommen von einem Schöpfer, in meinem Glauben von einem Schöpfer und gehen wieder zu einem Schöpfer. Und da bin ich zu Hause. Und da empfinde ich auch den Sinn meines Lebens, der sich nicht darauf beschränkt, was ich hier auf der Erde tue. Das ist meine Aufgabe vielleicht, aber nicht mein Sinn alleine. 

Sie haben gemeinsam mit dem Spiegelredakteur Jörg Römer ein Buch über Astrophysik geschrieben. Es heißt: „Licht im Dunkeln“*. Sie sind Naturwissenschaftler und Sie sind gläubiger Christ – wie geht das für Sie zusammen?

Am Ende lerne ich in der Physik, dass ich nicht alles wissen kann. Ich kann nicht alles vorausberechnen, ich kann mein Leben auch nicht machen. Ich bin am Ende immer auf dieses Vertrauen angewiesen. Und ich kann daran verzweifeln und mich ärgern oder ich kann einfach sagen: Nein, ich bin in guten Händen. Und das ist eine Grundentscheidung, die ich irgendwann treffen muss. Und die hängt nicht davon ab, was ich mache, was ich tue. Und es hängt auch nicht davon ab, was die Kirche sagt oder nicht sagt, sondern es hängt davon ab, dass ich am Ende ein JA sage zu diesem Schöpfer und sage: JA, ich bin geliebt. Ich habe hier einen Platz auf dieser Erde. Und ich darf das auch genießen und annehmen und bewundern und bestaunen, was da ist auf dieser Welt. Wenn ich durchfrage: Wo kommt das alles her? Wie funktioniert das? Komme ich eigentlich immer auf die Frage nach dem Anfang, nach dem Ursprung. Ja, dann komme ich vielleicht zum Urknall-aber wo kommt der Urknall her? Gab es da ein Multiversum davor? Ok, dann gab es ein Multiversum davor, aber wo kommt das dann wieder her? Wo kommen die Regeln her aus denen alles entstanden ist? Und diese Grundfragen, die kann die Naturwissenschaft einfach nicht beantworten. Die muss ich füllen mit meinem Glauben, mit meinen Überzeugungen, die ich habe. Und ohne Glaube, glaube ich, kommen wir nicht weiter. Oder wir müssen aufhören zu fragen.

Ein sehr tröstliches Wort, eine Zusage, enthält das Matthäusevangelium zum Fest Christi Himmelfahrt. Da sagt Jesus Christus: „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20). Was bedeutet Ihnen das?                                                                        

Es ist tatsächlich dieser nahe Gott. Wir hatten am Anfang diesen Schöpfergott, der ist sehr weit weg. Das ist ein philosophischer Gott. Und in Christus haben wir eigentlich eine Gotteserfahrung, die sehr persönlich ist. Und zu wissen: dieser Gott, der eigentlich so weit weg ist, der ist in Menschen und in Christus mir nahe, mein ganzes Leben lang, von Anfang bis ans Ende und eben darüber hinaus, das ist glaube ich ein sehr tiefer wichtiger Glaube der Christen.

Das meinen Sie auch damit, wenn Sie sagen: „Gott ist für mich nicht etwas, sondern jemand?!“

Für mich ist Gott eben nicht nur etwas, sondern jemand, der mich wahrnimmt und dem ich was erzählen kann und von dem ich auch irgendwas erwarten kann in dem Gespräch, was ein Gebet ist zum Beispiel.

Für mich bedeutet diese Zusage Jesu auch: Wir sind nicht allein, obwohl Jesus uns vorausgeht und weggeht von dieser Welt, bleibt er irgendwie auch bei uns. Wie verstehen Sie das-wie bleibt Jesus uns nahe?

Ja, das ist ein sehr guter Punkt. Es ist so die Spannung in der wir leben grundsätzlich auch als Menschen. Wir können diese Welt gestalten, wir können unsere eigenen Entscheidungen treffen und die können gut und die können schlecht sein. Und wir sind keine Marionetten Gottes, die genau das machen müssen. Wir sind auch keine Steine - ein Stein zum Beispiel ist ja eine Marionette der Naturgesetze, der rollt sozusagen den Fluss runter oder den Berg runter und der hat keine eigene Entscheidungsmöglichkeiten. Wir als Menschen und das unterscheidet uns von fast aller anderen Materie in diesem Universum-wir können Entscheidungen treffen, wir können darüber nachdenken, was ist gut und was ist böse, was ist richtig und was ist falsch. Und genauso sind wir in der Spannung: Da ist Gott vielleicht da. Aber er ist auch weit weg.  Er lässt uns allein und doch suchen wir Gott wieder - also wir sind immer in dieser Spannung und wir haben nie die Sicherheit, wie Marionetten völlig festgebunden zu sein an einen Gott, aber wir sind auch nicht völlig losgelöst, zumindest das ist unser Glaube.

In der Apostelgeschichte fragen zwei Männer in weißen Gewändern die Jünger nach der Himmelfahrt Jesu: „Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“ (Apg 1,11) Und das ist für uns ja auch heute noch eine Aufforderung, dass wir nach Jesu Himmelfahrt nicht nur wartend auf ein Jenseits diese Welt vernachlässigen sollen, sondern es gibt eine Sendung Jesu: Gestaltet diese Welt, bringt euch ein. Was ist Ihrer Meinung nach ein ganz aktueller Auftrag für uns als Christen, für alle Menschen guten Willens, wenn Sie auf diese Welt schauen?

Also ich glaube wir werden inspiriert durch den Himmel-das ist ganz entscheidend, ich glaub für Christen, dass sie inspiriert sind, aber dass sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und ihren Nächsten im Blick haben. Das ist unser Auftrag: Auf den Nächsten zu schauen. Wir leben in einer Gesellschaft, die immer mehr auf sich schaut, die auf den einzelnen schaut. Ich glaub wir müssen als Christen auf die Gemeinschaft schauen, wir müssen die Hoffnung leben, weil wir haben große Herausforderungen mit Klima, mit auch dem Zusammenleben, mit Populisten in dieser Welt. Gesellschaft fällt auseinander und ich glaub, dass Christen da ein verbindender Kitt sein können.

Es gibt einen wunderbaren Psalm im Alten Testament, Psalm 8, ich mag ihn sehr und er wirft eine urmenschliche Frage auf, die Menschen seit Jahrtausenden stellen. Darin heißt es: „Seh ich den Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Stern, die du befestigt- was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8, 4-5) Ich würde diese Frage auch Ihnen gerne stellen, Herr Professor Falcke: Was ist der Mensch?             

Der Mensch ist rein physikalisch gesehen eine Ansammlung von Materie, von Naturgesetzen, von Strom, von Chemie, aber er ist was ganz Besonderes, weil er kann Geschichten erzählen, er kann lieben, er kann geliebt werden von dem Schöpfer, der das alles irgendwie zustande gebracht hat mit diesen vielen Naturgesetzen und diesen vielen Sternen und Galaxien und all das was wir hier tun, das ist schon was ganz Besonderes. Das kann kein Stern. Das kann kein Mondgestein, das kann kein Schwarzes Loch. Wir können glauben, hoffen, lieben.

Immer wieder kommen Sie auf drei Dinge: Glaube, Liebe, Hoffnung. Warum sind Ihnen diese drei so wichtig?                

Weil sie nicht verfügbar sind. Und weil sie uns glaube ich auch auszeichnen als Menschen. Glaube, Liebe, Hoffnung ist das, was die Welt besser machen kann. Das klappt nicht immer-ich glaub nicht immer ich lieb nicht immer, und manchmal bin ich auch hoffnungslos, aber sich immer wieder daran festzuhalten, das ist das Höchste.

Herr Professor Falcke, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

Gerne.

* Heino Falcke mit Jörg Römer: Licht im Dunkeln. Schwarze Löcher, das Universum und wir. Die illustrierte Ausgabe, Klett-Cotta, Stuttgart 2021.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37680
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