SWR2 Zum Feiertag
Alexander Foitzik spricht mit Prof. Stephan Goertz
Alexander Foitzik:
Mit dem heutigen Fest „Allerheiligen“ gedenkt die katholische Kirche der Gemeinschaft der Heiligen, also all der Männer und Frauen, die - oft auch unbequem und anstößig - Zeugnis von ihrem Glauben gegeben haben, in dem was sie gesagt oder getan haben.
Über das Fest Allerheiligen, seine Botschaft spreche ich heute mit Stephan Goertz. Er ist Professor für Moraltheologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Herr Professor Goertz, gemeinsam mit Ihrer Mitarbeiterin Stephanie Höllinger haben Sie gerade über den heiligen Sebastian ein Buch veröffentlicht. Eine wirklich spannende Geschichte, über die wir reden müssen. Zuerst aber, was bedeutet für Sie dieses Fest „Allerheiligen“ – ist das für sie eher eine schöne Tradition im Kirchenjahr? Oder hat dieses Fest Allerheiligen für Sie einen besonderen aktuellen Bezug, eine besondere Botschaft für uns heute?
Prof. Stephan Goertz:
Es ist zunächst in der Tat ein Fest mit vielen Erinnerungen an meine Kindheit. Im katholischen Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin, war es Familientradition, an diesem Tag die Gräber der verstorbenen Verwandten zu besuchen – da ging es (nach dem Gottesdienst) mit dem Auto von einem Friedhof zum anderen. Das war gewissermaßen Pflichtprogramm.
Gut katholisch, würde ich sagen: Traditionen werden gepflegt – ihr tieferer Sinn liegt verborgen.
Als Theologe denke ich heute: die Verstorbenen, an die wir an ihren Gräbern gedacht haben, und die Heiligen – das sind nicht zwei voneinander getrennte Gruppen. Menschen sind außergewöhnliche Lebewesen – und insofern Heilige. Christlich gesprochen: Gott betrachtet den Menschen als sein Ebenbild und achtet damit dessen Würde. Und so ist jeder Mensch als heilig zu betrachten und zu respektieren.
Alexander Foitzik:
„Sebastian: Märtyrer – Pestheiliger – queere Ikone“ – so lautet der vielsagende Titel Ihres Buches: Sebastian war/ist ein Märtyrer der frühen Kirche Roms. Streng genommen wissen wir historisch nicht allzu viel über ihn. Und doch verehrt ihn später ganz Europa als Seuchenheiligen. Danach gerät er wieder in die zweite Reihe des Heiligen-Kosmos. Herr Professor Goertz, Sie sprechen in Ihrem Buch vieldeutig vom „Überlebenskünstler“ Sebastian. Was zeigt sich in dieser Heiligen-Karriere Sebastians? Aus welchen Erwartungen, Hoffnungen, Bildern heraus schreiben sich solche Heiligen-Geschichten. Was sagt dies jeweils über die Rolle der Heiligen, zwischen Himmel und Erde?
Prof. Stephan Goertz:
Wir haben es im Buch so bezeichnet: aus dem Sebastian der Geschichte wird der Sebastian des Glaubens. Am Anfang steht ein historisches Ereignis, auch wenn dieses für uns kaum Konturen hat. Christen und Christinnen werden seit der Antike wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet – man nennt sie Märtyrer. Über die Märtyrer heißt es in der Bibel, dass sie nicht gerichtet werden – sondern bereits bei Gott sind. Die Märtyrer sind Sieger, nicht Besiegte. So werden sie zu den Heiligen, denn heilig sein, das ist in der religiösen Vorstellungswelt eine Eigenschaft, die auf einer göttlichen Erwählung, einer besonderen Nähe zu Gott beruht. Sie sind bei Gott. Das ist der entscheidende Gedanke. Und wenn sie bei Gott sind, dann können sie dort Fürsprache halten – dann können sie unsere Anliegen vor Gott tragen. Sie sind also Mittlerfiguren; zwischen Gott und den Menschen, zwischen Himmel und Erde. Heilige sind hybride Wesen: tot und lebendig zugleich, im Himmel und auf Erden präsent.
Die Verehrung der Heiligen erzählt von den Hoffnungen der Menschen. Etwa von der Hoffnung, dass es jemanden gibt, der sich bei Gott für mich einsetzt, der wirksam um Hilfe bitten kann, der verlässlich an meiner Seite steht.
So ist es auch bei Sebastian. Sein Aufstieg zum populären Heiligen ist mit einer Szene seines Martyriums verbunden. Als ihn die Kaiser um das Jahr 300 zum Tode verurteilen, weil er sich als hoher Offizier heimlich für die Christen eingesetzt hat, soll er durch Bogenschützen hingerichtet werden. Aber Sebastian überlebt auf wundersame Weise die eigentlich tödlichen Pfeile. So erzählt es seine Legende. Jahrhunderte später erinnern sich Menschen an diese Geschichte.
Sie erinnern sich an ihn in Zeiten der Pest, die Europa im Mittelalter immer wieder heimsucht. Denn Pfeile stehen für die Seuche, die den Menschen trifft, die angeflogen kommt, die Leid und Tod bringt. Wer könnte also besser als Sebastian in der Not um Fürsprache angerufen werden? Er ist von Pfeilen getroffen, wie wir, aber es hat es überlebt! So ist seine Figur eine Figur der Hoffnung.
Alexander Foitzik:
Im 19. Jahrhundert wird schließlich Sebastian quasi zu neuem Leben erweckt: als Identifikationsfigur für Homosexuelle und andere Stigmatisierte, in Kirche und Gesellschaft. Eine für Sie überraschende Entwicklung?
Prof. Stephan Goertz:
Ja in der Tat. Aus dem Sebastian des Glaubens wird Sebastian die Ikone. Sie beginnt vor gut zweihundert Jahren und dauert bis heute an. Wieder spielen die Pfeile die entscheidende Rolle.
In Darstellungen des Martyriums treffen die Pfeile den nackten Körper Sebastians. In der Renaissance und im Barock wird Sebastian zudem immer jünger und schöner. Ihn treffen die Pfeile, aber er wird nicht besiegt; und Schönheit kann heilende Kräfte entfalten, so dachten manche. Dieser schöne, junge Sebastian, der in der Qual Anmut bewahrt, wird zur Identifikationsfigur für schwule Männer. Sie bewundern seine Schönheit und sie erkennen sich in Sebastian wieder: sie sind Opfer von Missachtung und Gewalt, sie werden bestraft für das, was sie sind. Als mit AIDS, wie es verächtlich heißt, eine Schwulen-Pest ausbricht, wird Sebastian zur Protestfigur, die die Stigmatisierung von Homosexuellen anklagt.
Alexander Foitzik:
Wie bleibt Sebastian eigentlich Sebastian, trotz dieses Wandels? Oder umgekehrt gefragt: Was ist so zeitlos attraktiv an dieser „Figur“, dass er so offen ist für zeitbedingte Auslegungen? Und womöglich ist seine Geschichte ja noch nicht auserzählt….
Prof. Stephan Goertz:
Es gibt eine Darstellung Sebastians von dem deutschen Künstler Stephan Balkenhol – seine Skulptur zeigt einen von Pfeilen getroffenen Jedermann in weißem Hemd und schwarzer Hose; Titel des Kunstwerkes: Märtyrer.
Balkenhol schreibt dazu: „Jeder könnte im Prinzip zum Märtyrer werden, wenn er sich angreifbar macht, indem er das Risiko eingeht, sich für seine Überzeugung einzusetzen – mit seiner ganzen Existenz.“ Es kann jede und jeden treffe. Diese menschliche Grunderfahrung verbindet den Sebastian der Antike mit uns heute. Wir Menschen sind sehr verletzliche Wesen – an Körper und Seele. So verwundert es nicht, dass Sebastian kein in der Geschichte verschwundener Heiliger ist. Sondern sehr lebendig. Seht, was Menschen widerfährt – Menschen, die doch in Frieden und Freiheit leben wollen, weil es ihrer Würde entspricht. Die christliche Antwort, die an Sebastian haftet, lautet: die ungerecht Verfolgten und Gemarterten werden von Gott gerettet werden. Der Kern von Hoffnung: Das letzte Wort der Geschichte wird nicht Zerstörung sein.
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