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Zum zweiten Mal hintereinander richtet ein Küstenland den Tag der deutschen Einheit aus. Im letzten Jahr Hamburg. In diesem Mecklenburg-Vorpommern. Und das spiegelt sich auch in den Mottos. Horizonte öffnen, hieß es letztes Jahr. Vereint Segel setzen in diesem. Das passt gut zusammen, finde ich.
Wenn ich etwa am Strand der Nordsee sitze und aufs Meer hinausschaue, dann kann ich ihn sehen. Weit draußen. Den Horizont. Da, wo das Meer scheinbar aufhört und der Himmel beginnt, wo sich Erde und Himmel begegnen. Im Urlaub an der See könnte ich manchmal stundenlang nur dasitzen und mir dieses Bild anschauen.
Und natürlich kommt mir Udo Lindenberg in den Sinn. Wenn er davon singt, dass es hinterm Horizont weitergeht. Seine Ballade, fast 40 Jahre alt, ist ein echter Klassiker. Geschrieben hat er sie damals als Hommage an eine enge Freundin, die viel zu früh gestorben ist. Und so eine Freundschaft, die hört nicht einfach so auf, meint der Song. Auch nicht mit dem Tod. Dem ultimativen Horizont jedes irdischen Lebens.
Und ein Horizont, der sich öffnet, kann dann so ein Bild sein für eine Hoffnung, die Menschen haben. So, wie im Song von Udo Lindenberg. Dass es irgendwie weitergeht. Und dass diese Linie, die ich da in weiter Ferne sehen kann, eben nicht das Ende markiert. Auch nicht das Ende des Lebens. Dass es deshalb auch nie gut ist, den Kopf hängen zu lassen, Frust zu schieben und zu sagen: „Es hat doch alles keinen Sinn“.
Die Bibel kennt etliche von solchen Geschichten. Von Menschen, die sich nicht damit zufriedengeben wollten, dass es irgendwie nicht weitergeht. Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, aufgebrochen sind. Allein oder gemeinsam. Oft, ohne zu wissen, was sie erwartet. Aber in der Überzeugung, dass sie auf dem richtigen Weg sind.
Da ist zum Beispiel Abraham. Die heiligen Schriften von Juden, Christen und Muslimen erzählen von ihm. Von Abraham heißt es, dass Gott eines Tages zu ihm spricht und ihm sagt, er solle aufbrechen. Land, Heimat, Verwandtschaft. Alles soll er zurücklassen. Aufbrechen in ein unbekanntes Land, das Gott ihm erst noch zeigen will. Abraham macht sich tatsächlich auf. Lässt alles hinter sich und zieht einfach los. Im Vertrauen darauf, dass die Sache gut ausgehen wird.
Oder da sind die Freunde von Jesus, die sich erstmal im Haus einschließen, nachdem ihr Meister nicht mehr bei ihnen ist. Angst haben sie, wissen nicht, wie es nun weitergehen könnte. Und dann fassen sie plötzlich neuen Mut, machen Fenster und Türen auf und gehen zusammen raus. Vereint in der Hoffnung, dass es weitergeht. Für sie und für die Botschaft Jesu.
34 Jahre jung ist die Deutsche Einheit heute. Im besten Alter eigentlich. An die Bilder kann ich mich noch gut erinnern. Ich selbst war damals 28 und was war das für eine Aufbruchsstimmung? Was für Hoffnungen haben sich da verbunden mit der Zukunft? Nicht nur im Osten war das so. Auch bei ganz vielen Menschen hier im Westen. Sicher, wie immer bei den ganz großen Hoffnungen war manches davon wohl naiv. Manche Wünsche haben der komplizierten Wirklichkeit am Ende schlicht nicht standgehalten. Und dennoch, das ist mein Eindruck, ist ganz viel geschafft worden. Eine riesige gemeinsame Kraftanstrengung. Vereint in der Hoffnung, dass es gelingen kann.
Heute kommt es mir manchmal so vor, als ob viele Menschen zwar den Horizont sehen, aber eher ängstlich dahin blicken. Vielleicht, weil sie Zweifel haben, ob es dahinter wirklich weitergeht oder nicht eher das Ende der Welt lauert. Von wegen „vereint Segel setzen“. Manche Skepsis kann ich sogar verstehen. Weil ich hin und wieder auch dieses Gefühl habe, dass die vielen Krisen mich überfordern. Weil die Welt so unübersichtlich geworden ist wie selten zuvor und ich selbst kaum noch mitkomme. Und weil die Zuversicht, die mal da war, dass es immer weiter vorwärts gehen wird, ziemlich brüchig geworden ist.
Manchmal hilft mir da ein Blick auf junge Leute, etwa meine Töchter. Die sehen schon ziemlich deutlich, was los ist. Für sie ist aber auch klar, dass sich was ändern muss. In der Art etwa, wie wir in Zukunft leben werden. Und sie wissen, dass Wohlstand, Frieden und Freiheit längst keine Selbstläufer mehr sind. Dass es auch an ihnen liegt, etwas dafür zu tun. Aber sie motzen und jammern nicht viel rum, sondern engagieren sich. Sozial und politisch und vereint mit anderen. In der festen Zuversicht, dass es hinterm Horizont weitergeht. Irgendwie. Wohl anders als bisher. Aber weiter.
Besonders fromm ist übrigens keine und keiner der jungen Leute, die ich kenne. Auch meine Töchter nicht. Aber als Christ kann ich trotzdem an ihnen sehen, was es heißen kann, aus dem Geist der Bibel zu leben. Aus dem Geist der Hoffnung, dass es eine gute Zukunft geben kann, auch wenn ich sie jetzt noch nicht kenne. Und dass es sich immer lohnt, mich für diese Zukunft zu engagieren. Auch heute, hier und jetzt. Mit dem, was mir möglich ist. Und dann ist der Horizont auch nicht das Ende der Welt, sondern eben jene Linie, an der die Erde den Himmel berührt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40762Heute liegen Blumenbilder auf den Straßen. Fahnen wehen. Die Menschen sind festlich gekleidet. Musikvereine und Blaskapellen spielen. Es ist Fronleichnam: ein großes Fest der katholischen Kirche. Das wird aber nicht in der Kirche, sondern auf der Straße gefeiert.
Ich bin evangelisch. Dieses Fest ist mir eher fremd, darum will ich gar nicht herumreden. Aber mit allen, die heute feiern, die sich heute freuen – mit denen freue ich mich gerne mit! Und wenn die Musik spielt, wenn ich die schönen Bilder aus den vielen Blumen sehe – dann habe ich auch etwas von ihrer Freude!
Ich lebe auf dem Hunsrück. Hier gibt es immer noch ganz katholische und ganz evangelische Dörfer. Die kleinen Städte dagegen, die sind seit Jahrhunderten gemischt. Aber zum Glück sind die Zeiten vorbei, in denen die Evangelischen an Fronleichnam den Mist gefahren haben. Und dafür die Katholiken an Karfreitag die Fenster geputzt haben. Stattdessen höre ich heute den Satz: „Wir haben doch alle einen Herrgott!“ Ja, da ist etwas dran. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen Evangelisch und Katholisch noch da. Und die möchte ich nicht kleinreden. Jahrhundertelang wurde heftig darüber gestritten, wer jetzt richtig glaubt und wer auf dem Holzweg ist. Ganze Kriege wurden darüber geführt. Da empfehle ich etwas anderes: Schauen Sie doch einfach mal, was bei den anderen schön ist! Und schauen Sie dann bei sich selbst: Was ist in Ihrer eigenen Art zu glauben schön?
Das finde ich als Protestant bei den Katholiken schön: Wie hier das, was normalerweise in der Kirche passiert, auf die Straße getragen wird. Mit Blumen, Musik und feinen Kleidern. Wie das in der Gemeinschaft vorbereitet und gefeiert wird. Wie Menschen zeigen, was sie glauben, wie sie den Glauben schön herausputzen und herzeigen. Ein Glaube, den man sehen, hören, fühlen und schmecken kann. Ein Glaube für alle Sinne. Ein schöner Glaube. Ohne das würde auch mir etwas fehlen!
Es gibt Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen. Manches bleibt mir bei meinem Gegenüber fremd. Anderes bewundere ich. Meinem katholischen Gegenüber wird es mit mir genauso gehen. Und dann stimmt der Satz, den mir besonders ältere Menschen sagen: „Wir haben doch alle nur einen Herrgott!“ Ja, Gott ist einer. Aber wir Menschen, wir sind verschieden. Wie die verschiedenen Blumen, aus denen heute ein schönes Bild gelegt wird!
Zu einem schönen Glauben passen keine Missgunst, keine Gehässigkeit, kein Neid. Auch keine Angst und Bitterkeit, kein falscher Stolz, kein Triumph auf Kosten anderer. Ein schöner Glaube feiert und lernt. Er ist glücklich und teilt das gerne mit den anderen. So ist heute auch ein Fest für mich!
Und im Mittelpunkt dieses Festes steht Jesus. Wir alle gehören zu ihm. Auch wenn wir uns untereinander nicht immer verstehen. Auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, auch wenn wir uns streiten. Die ersten Jünger haben das auch getan.
Aber Jesus hat mit ihnen allen gefeiert. Er hat mit ihnen allen das Brot gebrochen. Und das ganze schöne Fest heute dreht sich um ein kleines rundes Stück Brot: die Hostie. In einem kostbaren Gefäß wird sie durch die Straßen getragen: Schaut her! Unser Geheimnis des Glaubens! Das ist wirklich ein Geheimnis, das ist wirklich kaum zu glauben: dass diese Hostie nicht einfach nur ein Stück Brot ist, sondern der Leib von Jesus Christus. So glauben es katholische Christen. Sie feiern, dass Jesus seinen Leib für uns Menschen gibt. Wir Evangelischen betonen eher etwas anderes: dass wir als Abendmahlsgemeinschaft selbst der Leib Christi sind. Alle zusammen und verbunden durch Brot und Wein. In unserer Kirche stehen wir beim Abendmahl im Kreis und fassen uns hinterher an den Händen. So kann man das sehen, was wir glauben. Wir feiern das sicher anders als unsere katholischen Geschwister. Aber dass es etwas zum Feiern ist, dass Christus uns verbindet, dass es schön sein und sich gut anfühlen soll – das haben wir uns dann vielleicht doch von ihnen abgeguckt! Denn früher war das Abendmahl bei uns Evangelischen oft eine todernste Angelegenheit.
Und diese Gemeinschaft als Leib Christi – die sollen wir auf die Straße tragen. Jesus Christus hat keine anderen Hände als unsere Hände. So heißt es in einem alten Gebet. Christus hat keine Füße, nur unsere Füße, er hat nur unsere Lippen. So sind wir wirklich der Leib Christi. Alle zusammen sind wir die Hände und Füße Christi, sind wir Jesu Mund und Jesu Ohren. Mit dem, was wir heute tun. Mit den Händen, die wir reichen und auflegen. Mit den Wegen, die wir zu anderen gehen. Draußen, auf den Straßen. Wo es regnen und stürmen kann, wo es auch übel und gefährlich werden kann. Caritas – Nächstenliebe – heißt das bei den Katholiken. Diakonie – Dienst – nennen wir Evangelischen es.
Wir sind der Leib Christi. Füreinander und für die Welt. So wünsche ich uns ein gesegnetes Fronleichnamsfest!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40005Hinter dem Pfingstfest steht eine besondere Geschichte. Die biblische Geschichte, wie Gottes Heiliger Geist zu den Menschen gekommen ist. Und ich habe wieder neu entdeckt, wie sie mir Mut und Hoffnung schenkt – gerade jetzt, in unseren unruhigen Zeiten.
Vielleicht geht es Ihnen auch so. Mich beschäftigt es sehr, was in unserer Gesellschaft passiert. Jugendliche, auch erwachsene Menschen gehen einfach so auf Politiker los, nicht mit Fragen oder Vorwürfen, sondern mit roher Gewalt. Unvermittelt und für die meisten unverständlich. Sicher, im Wahlkampf sind die Nerven angespannt, aber das erklärt doch nicht solche Ausbrüche.
Ist es nur eine zunehmende Verrohung oder wie es kürzlich ein Wissenschaftler ausgedrückt hat, bereits eine Durchrohung der Gesellschaft? Eine Durchrohung angesichts von andauernden Krisen und Problemen, von offensichtlich unlösbaren Interessenlagen und Konflikten, im Privaten wie weltweit.
Darüber habe ich mit einem Landtagsabgeordneten und einem meiner Arbeitskollegen diskutiert. Wie kann man dem begegnen? Der Kollege meinte, durch bessere Erziehung und Schulen, die sich kümmern. Auch durch mehr Information. Aber sind wir nicht alle bestens informiert, meinte der Politiker. Und es sei auch nicht möglich, jeden öffentlichen Platz und jede öffentliche Person rund um die Uhr zu schützen. Miteinander waren wir uns schnell einig, dass es um etwas Grundlegenderes geht, nämlich um Beziehung. Wann hört einer dem anderen noch wirklich zu? Und wer ist bereit, seine Meinung auch einmal zu ändern? Sich zu öffnen und umzudenken? Das geht nur, wenn man vertrauensvoll miteinander reden und zuhören kann. Nicht auf die Schnelle sich gegenseitig Parolen an den Kopf knallen. Sondern in Ruhe reden, Argumente auch einmal sacken lassen, sie überdenken – und so ein Stück Weg miteinander gehen.
Genau das hat auch die Jünger um Jesus auf das Pfingstfest vorbereitet. Darauf, dass sie den Heiligen Geist Gottes empfangen haben. Es war ein langer Weg, den sie miteinander gegangen sind. Miteinander – obwohl auch sie unterschiedliche Meinungen hatten, wie es denn nun weiter gehen sollte, ohne ihren Anführer Jesus. Der Tod von Jesus ist ein Schock für die Jünger gewesen. Dass er auferstanden ist, konnten sie zuerst kaum glauben, und dann war er in den Himmel aufgefahren und hatte sie allein zurückgelassen. Ängstlich haben sie sich zurückgezogen. Auch sie mussten das erst einmal sacken lassen, in ihrem sicheren Raum.
Bis zu dem Moment als Gott selbst eingegriffen hat. Mit seinem Geist, mit seiner Dynamik, mit einer neuen Kraft, die sie bis ins Innerste gepackt hat. Sie wollten raus, sie mussten raus. Raus aus der Isolation, auf andere zugehen, sich anderen mitteilen. Den anderen sagen, was sie mit Gott erlebt haben, dass Gott in diesen Tagen die Geschichte verändert hat, dass Jesus wieder da ist, dass er auch die Herzen und jeden einzelnen Menschen zum Besseren verändern kann. Deshalb feiern wir auch heute noch dieses Hoffnungsfest.
Ist es nicht gerade das, was wir auch gerade jetzt brauchen? Aufeinander zugehen, einander zuhören, ein Stück weit das Herz öffnen und weitersagen, was uns Mut und Hoffnung schenkt. Ein neues Miteinander wagen
Die Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus waren begeistert über das, was Gott ihnen gezeigt und wie er ein neues Miteinander geschenkt hat. Und das haben sie weitergegeben – sind offen und positiv auf andere zugegangen und haben dazu eingeladen, den Weg miteinander weiterzugehen.
Kurz nach der Diskussion mit dem Abgeordneten und meinem Kollegen habe ich ein Interview mit einem Gewaltforscher gehört, der meinte: Viele wissen gar nicht, was sie mit ihren ständigen schlechten Nachrichten, auch mit dieser andauernden und alarmierenden Untergangsrhetorik anrichten. Sie drängen andere in eine Art Notwehrhaltung. Und wer meint, sich ständig wehren zu müssen, wer sich für seine anderen Werte und Überzeugungen immer rechtfertigen muss, weiß sich unter Umständen auch nur noch mit Gewalt zu helfen. Vorsicht also mit dieser ständigen Haltung der Überlegenheit, der moralischen Überhebung.
Am ersten Pfingstfest beobachte ich eine andere Haltung. Die Ängstlichen bekommen neuen Mut, sie nehmen sich gegenseitig an. Von Geist Gottes bewegt, sprechen sie auch die fremden Menschen in der Stadt an, zeigen einander Respekt, wollen ihre Freude und ihre Entdeckung, ihren Glauben teilen.
Ja, ich wünsche mir so ein Pfingstfest auch bei uns. Heute und eigentlich immer wieder – auch durchs Jahr hindurch. Wer sich von Gott geliebt und getragen weiß, muss sich nicht zurückziehen, muss auch nicht in einer Abwehrhaltung beharren, kann aus sich herausgehen. Es gibt so viel, was uns Mut macht. Es gibt so viel, was der Glaube an Jesus uns schenkt. Es gibt so viel Hoffnung, welche die Untergangsrhetorik und auch das lautstarke Beweisen irgendeiner moralischen Überlegenheit hoffentlich schnell ablöst. Im Geist von Jesus kann so viel Gutes entstehen.
Das wünsche ich Ihnen und einen gesegneten Pfingstmontag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39923Heute ist der Tag der Arbeit, also kein kirchlicher Feiertag, und es gibt trotzdem einen christlichen Feiertagsgedanken hier in SWR4. Ganz so abwegig ist das aber gar nicht. Denn das Thema Arbeit und was damit zusammenhängt betrifft irgendwann jeden und prägt unser Leben stark. Auch meines und das vieler Menschen mit denen ich zu tun habe. Privat und als Pfarrer. Deshalb habe auch ich mir schon viele Gedanken übers Arbeiten gemacht.
Immer wieder bleibe ich dabei an einer Stelle hängen, die ganz am Anfang der Bibel steht. Dort, wo von den ersten Menschen die Rede ist; wie sie erst im Paradies gut leben, aber dann von dort vertrieben werden. Da heißt es: Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück[1]. Die Bibel sagt: Ich bin als Mensch frei. Ich kann zwischen Gut und Böse unterscheiden und mich demnach zwischen richtig und falsch entscheiden. Ich kann mich bemühen, die Ordnung zu akzeptieren, die Gott vorgibt oder mir die Welt so zurechtlegen, wie sie mir passend scheint, und dabei „über meine Verhältnisse leben“. Ich kann mich damit zufriedengeben, dass nicht alle Entscheidungen in meiner Hand liegen müssen; oder die Macht an mich reißen und im schlimmsten Fall ohne Rücksicht tun und lassen, was ich will. Adam und Eva lässt der verbotene Baum keine Ruhe. Sie essen davon und Gott verbannt sie aus seiner idealen Welt, dorthin, wo alles lebt, das er geschaffen hat. Von nun an werden sie, solange sie auf Erden leben, sich entscheiden müssen – und für sich selbst sorgen, mit ihrer Hände Arbeit, im Schweiße ihres Angesichts. Wer sein eigener Herr sein will, der muss auch was tun dafür.
Ich frage mich dann, ob ich meine Arbeit wirklich als eine „schweißtreibende Angelegenheit“ empfinde. Sonst würde ich kaum immer wieder an diesen Satz denken. Und ihn für passend halten, wenn es darum geht, übers Arbeiten zu sprechen. Ja, zu arbeiten ist anstrengend, es kostet Kraft und Zeit, auch wenn ich in meinem Beruf selten ins Schwitzen gerate; und wenn, dann nicht wegen übermäßiger körperlicher Aktivität. Aber auch die Arbeit eines Pfarrers kann mühsam und hart sein. Ich jammere nicht, wenn ich das sage, und ich beschwere mich auch nicht. Es ist schlicht eine realistische Beschreibung von Arbeit. Und manchmal denke ich: Wie schön wäre es, wenn ich wie im Paradies nichts tun müsste. Und andere auch nicht. Wenn es immer so wäre – wie heute.
ZWISCHENMUSIK
Heute ist Tag der Arbeit. Und das ist auch mein Thema heute am 1. Mai in den SWR4-Feiertagsgedanken.
Viele haben frei, können ausruhen von ihrer Arbeit. Und sich Gedanken machen, ob sie einen guten Beruf haben, gerecht entlohnt werden, oder ob sie unter den Verhältnissen stöhnen, weil sie schuften, aber kaum über die Runden kommen. Das nämlich dürfte nicht sein. Da sind sich Gewerkschaften und Kirchen einig. Wer arbeitet, soll nicht hungern müssen. Wir leben nicht (mehr) im Paradies. Ohne Arbeit geht es nicht. Unser ganzes Zusammenleben ist darauf ausgelegt, dass wir etwas leisten und produzieren. Wir sind auch als Arbeitende aufeinander angewiesen. Da gibt es kein Entkommen. Aber genauso, wie wir beim Arbeiten auf die anderen angewiesen sind, weil wir sonst nichts zu essen haben und keinen Arzt, der uns behandelt, genauso sollte jeder gut von seiner Arbeit leben können.
Ich übe meinen Beruf gern aus, und mir ist selten etwas zu viel. Meine Arbeit verstehe ich als wichtigen Teil meines Lebens. Ich schreibe gern Texte fürs Radio. Ich begleite auch gern Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen. Es macht mir meistens auch nichts aus, wenn es mal viel und anstrengend ist. Weil ich am Ende sehe, dass es einen Sinn hat, was ich mache und weil ich oft sogar gesagt kriege, dass es für andere hilfreich ist und nützlich. Das gehört für mich nämlich auch zum Arbeiten: dass es einen Sinn ergibt. Wie und was ich arbeite, gehört zu meiner Person. Es ist ein Teil meines Lebens, mit dem ich mich identifiziere. Ich bin auch durch meine Arbeit der, der ich bin.
Ich weiß, dass andere das nicht unbedingt so sehen. Sie zählen, wann sie endlich in Rente gehen können und quälen sich von Urlaub zu Urlaub durch ihre Arbeitstage. Ich weiß, dass Menschen so unter ihren Arbeitsverhältnissen leiden, dass sie krank werden: weil sie unangenehme Kollegen haben, weil sie zu viele Überstunden leisten müssen oder gnadenlose Vorgesetzte haben, die sie nur als Arbeitskraft sehen, nicht als Mensch. Das sollte nicht sein. Es ist schwer genug, dass wir arbeiten müssen, um zu überleben. Umso mehr Geduld und Phantasie sollten wir darauf verwenden, wie wir aus unserem Arbeiten etwas Gutes machen. Für uns selbst und für andere.
[1] Genesis 3,19
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39808Mit einem erwartungsvollen Schmunzeln und einem Blick, der Überraschung erwartet, hatte sie die Schranktür geöffnet. Benita. Wir haben beide ein Wohnheim für Studierende geleitet. Gerade hatten wir diese Aufgabe übernommen, und sie hatte mich auf ein Glas Wein zu sich nach Hause eingeladen. Es war eines von diesen Treffen, bei denen ein Wort das andere gibt, wo aus Kolleginnen Freundinnen werden. Jetzt stand sie an ihrem Schrank und hatte die Tür geöffnet.
Aus dem Schrank nahm Benita ihr Totenkleid. Es hing dort schon eine Weile parat. Ein schlichtes weißes Leinenkleid, geschneidert von ihrer Mutter. Mich hat das an dem Abend berührt: dass die Mutter für ihre Tochter das Totenkleid genäht hat. In unserer theologischen Arbeit haben wir uns intensiv mit dem Sterben beschäftigt. An diesem Abend war für uns beide aber klar, dass dieses Kleid noch lange im Schrank hängen würde. Aber es kam anders. Wenige Wochen nach diesem Treffen wurde bei Benita Lungenkrebs diagnostiziert. In den Wochen und Monaten ihrer Krankheit sind wir als Freundinnen und Freunde zusammengerückt. Es war ein Auf und Ab. Zwischen Hoffnung und dem Auskosten von Leben. Im Mai haben wir uns alle Festtagskleider angezogen, haben getanzt auf der Alten Brücke und in der Bar und haben das Leben gefeiert. Im Herbst war klar: der Krebs ist stärker. Sie musste sich von ihrem Leben verabschieden und wir von unserer Freundin. Bei einem unserer letzten Gespräche hat sie gesagt: „Jetzt will ich aber auch wissen, wie es dort drüben aussieht.“ Wenige Tage später standen wir um ihren offenen Sarg. Sie hatte das Totenkleid an. Kurz vorher war ihre Mutter gestorben. Das Leben in seiner ganzen Verweslichkeit stand uns vor Augen.
Kurz vor ihrem Tod war Benita neugierig darauf, wie es da drüben aussieht. Wenn ich an sie denke, frage ich mich manchmal: Was für ein Kleid sie wohl jetzt anhat? Das, was nach dem Tod kommt, hat nämlich viel mit dem neuen Kleid zu tun. In der Bibel redet der Apostel Paulus über den Tod und was danach kommt. Das Verwesliche zieht die Unverweslichkeit an und das Sterbliche die Unsterblichkeit. Wie ein neues Kleid. Und dann, dann hat das Leben gewonnen. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel?“. Das schreibt Paulus trotzig – und voller Hoffnung.
Nach dem Tod ziehen wir die Unsterblichkeit an wie ein neues Kleid. Aus dem Totenkleid wird ein Auferstehungskleid.
Im 15. Kapitel in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt Paulus über den Kern der christlichen Hoffnung – und über die Aussicht auf die Auferstehung. Für Paulus war das Ende aller Tage nah; er hat erwartet, dass Jesus schon bald wiederkommt. Wann auch immer das genau ist. Paulus wagt einen Blick auf die Zeit am Ende aller Tage. „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber verwandelt werden; und das plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune erschallen und die Toten werden auferstehen.“ Posaunentöne sind das Signal dafür, dass alle verwandelt werden – die, die schon gestorben sind und die, die noch leben. Alle werden ein neues Kleid anziehen. Die Macht des Todes hat ihre Grenze.
Gestern haben auf vielen Friedhöfen Posaunen den Ostermorgen eingeläutet. An den Gräbern im Morgengrauen haben viele Menschen von der Auferstehung Jesu von den Toten gesungen. Die große Verwandlung vom endlichen zum ewigen Leben ist eine schwer zu fassende Aussicht, aber sie ist das Fundament meines Glaubens.
Das neue Kleid des Lebens verwandelt das Totenkleid. So machen Kleider Leute – und aus Toten Lebende. Mir gefällt diese Vorstellung, dass die Unsterblichkeit sich wie ein Kleid um mich in meiner Sterblichkeit legt. Dass all das Schmerzliche und Abgestorbene abgeschüttelt wird und das neue Leben kommt.
Am offenen Sarg von Benita haben wir lange gestanden, haben geweint und gebetet und irgendwann gesungen. „Befiehl du deine Wege.“ Da war die Verwandlung vom Tod zum Leben schon spürbar. Sie hatte sich auf den Weg gemacht. Bekleidet mit dem Totenkleid. Irgendwann werden wir uns wiedersehen – da bin ich mir sicher. Dann im neuen Gewand. Kleid der Unsterblichkeit. Unsterblich und unverweslich, lebendig und auferstanden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39623Vor Tagen blätterte ich in einem ganz besonderer Buch. Es liegt am Eingang unserer Krankenhauskapelle auf einem Stehpult. Patientinnen und Patienten schreiben darin ihre Sorgen und Bitten auf. Das Fürbittbuch erzählt von Gesundheit und Krankheit. Von der glücklichen Geburt und dem langen Sterben. Von der Angst vor der OP ist darin zu lesen, aber auch von der Erleichterung nach einer Untersuchung. Ein mit zittriger Hand geschriebener Eintrag fällt mir auf. Er ist so schön und schlicht. Irgendwie auch geschrieben für diesen Neujahrsmorgen:
Gott achte auf mich und hülle alle Menschen in deinen Frieden.
Das ist ein Segensgebet für 2024. Heute am Neujahrsmorgen an dem wir uns alle nur Gutes wünschen. Mit dem Sektglas in der Hand. Mit guten Worten und Umarmungen.
Gott achte auf mich und hülle alle Menschen in deinen Frieden.
Segenswünsche am Neujahrsmorgen tun gut. Mit welchen Worten auch immer sie gesprochen werden. Denn die Tage, die vor uns liegen, liegen nicht in unserer Hand. Sie sind unverfügbar. Nur begrenzt planbar. Das wissen wir allzu gut. Das lehrt uns die Vergangenheit. Was wir in den kommenden 365 Tagen erleben werden, bleibt ungewiss. Dass Gott auf uns achten möge und uns Frieden schenkt, wie die zittrige Hand schreibt, bleibt unsere Hoffnung und Sehnsucht. Auch 2024.
Meine Mutter war früher für den Segen zuständig. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Wie ich da mit dem Schulranzen in der Küche stand. Kurz vor dem Weg zur Schule. Ein Kreuzzeichen hat sie mir auf die Stirn gemacht. Manchmal glaube ich sogar mit Weihwasser. Kalt fühlte sich das an und doch war es ganz besonders. Einen Moment nur. Was und ob sie überhaupt dabei etwas gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Vielleicht dass ich aufpassen soll und schon alles gut werden wird in der Schule. Der Segen mit dem kleinen Kreuzzeichen hat einfach dazugehört. Wie das Frühstück. Oder wie der Gute Nacht Kuss. Gut hat es mir getan. Beruhigend hat es auf mich gewirkt. Der Segen meiner Mutter. Vor dem Lärm im Bus, der mich zur Schule brachte. Vor der Klassenarbeit gleich in der ersten Stunde.
Segenswünsche am Neujahrsmorgen. Obwohl wir nicht wissen, was auf uns zukommt, erhoffen wir nur Gutes. Im Namen Gottes. Ist das nicht irrational? Was tun wir da eigentlich? Und warum? Der Theologe Fulbert Steffensky erzählt in einem Erlebnis, was Segen für ihn bedeutet:
Ein Freund von mir erlitt vor kurzem einen Herzinfarkt. Einer der Krankenpfleger, die ihn versorgten, ein junger Mann von erfrischender Respektlosigkeit, sagte zu dem Kranken: „Du alter Graukopf, du machst jetzt gar nichts. Du denkst nicht, du bewegst dich nicht, du sorgst dich nicht.“ Der Freund sagte später: „Die Aufforderung des Pflegers empfand ich in diesem Moment der Gefahr wie einen großen Segen“.
Warum hat der Kranke die Bemerkung Krankenpflegers wie einen Segen empfunden?
Wenn wir gesegnet werden, sind wir passiv. Tun nichts. Der Pfleger hat es dem Kranken ziemlich deutlich zu verstehen gegeben. Das ist ganz schön schwer. Wer sich segnen lässt muss lernen loszulassen. Gibt zu nicht alles im Griff zu haben. Stellt sich der ungewissen Zukunft. Lässt sich anschauen. Berühren. Trösten. Ansprechen mit guten Worten. Aber auch der Segnende hat nichts in der Hand. Auch der Krankenpfleger weiß nicht, wie das ausgeht mit dem Herzinfarkt. Er gibt nur ein Versprechen. Jetzt da zu sein. Wer segnet geht aufs Ganze. Gibt Gott als Versprechen. Nicht viel ist das. Und Steffensky hat Recht, wenn er schreibt:
Der Segen ist die dichteste und dramatischste Stelle des Glaubens. Wer Segen empfängt stürzt in den Abgrund des Schoßes Gottes.
In einem Text aus der Bibel, der heute am Neujahrstag im katholischen Gottesdienst vorgelesen wird, steht auch ein Segen. Es ist der älteste überlieferte Segensspruch der Bibel. Jüdinnen und Juden beten ihn bis heute. Segnen einander mit diesen Worten. Oft wird an einer Stelle dieses Segens ein weibliches Pronomen für Gott verwendet. Das ist gut so. Denn bei mir war es ja auch meine Mutter, die mich treu gesegnet hat. Morgen für Morgen. Und eben nicht mein Vater. Sie hat mir gezeigt was Segen bewirken kann.
Ich wünsche Ihnen mit diesem Segen der Bibel nur Gutes am Neujahrsmorgen. Dass wir alle dem Geheimnis unseres Lebens trauen. Einem Gott der unverfügbar bleibt. Der uns nahe ist wie der Krankenpfleger. Treu wie damals meine Mutter. Auf uns achtgibt und uns umhüllt wie es im Fürbittbuch mit der zittrigen Hand aufgeschrieben ist. Seien Sie gesegnet mit den Worten der Bibel:
G*tt segne dich und behüte dich
G*tt lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig
Go*tt erhebe ihr Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Jahr für Jahr faszinieren mich die verschiedensten Krippen, die es in der Advents- und Weihnachtszeit überall zu sehen gibt. In ihrer Grundausstattung sind sich alle ähnlich: Dazu gehören das Kind in der Krippe, daneben Maria und Josef, Ochs und Esel, ein paar Schafe und Hirten und über allem der Stern und sangesfrohe Engel. Und je nach Geschmack oder Tradition kann diese weihnachtliche Szene natürlich ergänzt und erweitert werden.
Ich habe kurz vor Weihnachten eine besondere Krippe entdeckt; in einer Kirche, direkt vor dem Altar. Dort ist nur ein Futtertrog gestanden mit einem Büschel Stroh. Eine leere Krippe also, die sagen will: Das Wichtigste fehlt noch.
Nicht zu übersehen war das Stroh, eine Menge Stroh! Natürlich hat das zunächst eine praktische Seite. Das Kind soll später weich liegen können und soll es in der kalten Nacht gut haben. Aber ich meine, Stroh hat auch eine tiefere Bedeutung.
Wir sprechen von einem Strohfeuer und denken dabei an eine kurzlebige und oberflächliche Begeisterung. Wir sagen, dass einer nur leeres Stroh drischt und hören nichtssagende Worte. Und wenn einer dummes Zeug macht, dann hat er nur Stroh im Hirn oder ist strohdumm. Stroh ist Mist und Abfall, gerade richtig für den Stall oder für die armen Menschen, die wie ihre Tiere auf dem Stroh schlafen.
Ich verstehe immer mehr, dass das Stroh an Weihnachten nicht nur eine kleine Requisite ist, die zu einer Krippe eben dazu gehört. Es ist vielmehr Teil der guten und frohen Botschaft, die Christen an Weihnachten feiern.
Rainer Maria Rilke schreibt:“Die Menschen schauen immer von Gott fort. Sie suchen ihn im Licht, das immer kälter und schärfer wird, oben. Und Gott wartet anderswo – wartet ganz am Grund von allem. Tief. Wo die Wurzeln sind. Wo es warm ist und dunkel.“
Gott kommt buchstäblich herunter. Von ganz weit oben nach tief unten! So kommt Licht in die Nacht, in die Leere, in die Armut von uns Menschen. Wir würden ihn nie im Stroh und in der Armseligkeit suchen. Aber eben dort will er entdeckt und gefunden werden.
Wie das gemeint ist, mit dem heruntergekommenen Gott, davon erzählt auf amüsante Weise diese Szene:
Ein kleiner Bub schaut sich die Kinderbibel an und ist bei der Weihnachtsgeschichte angekommen. Da ruft er aus voller Kehle den Ruf der Engel: “Ehre sei Gott in der Höhle!“ Scheinbar hat er etwas missverstanden. Die Engel singen in der Höhe und nicht in der Höhle. Und dennoch! Er hat damit wunderbar den Kern der Weihnachtsbotschaft erfasst.
Gott ist eben nicht nur in der Höhe, weit weg, hell leuchtend irgendwo im Himmel. Sondern er ist auch in der dunklen Höhle, in der Felsengrotte eines Stalls in Betlehem. Auf Heu und auf Stroh: Aus der goldenen Herrlichkeit des Himmels, auf das Strohlager der Ärmsten! Das ist sein Weg zu den Menschen. Ein wahrlich „heruntergekommener“ Gott.
Später, wenn dann das kleine Kind aus dem Stall als Jesus von Nazareth in die Öffentlichkeit tritt, wird dieser Weg Gottes von oben nach unten weithin sichtbar. Man trifft ihn am Tisch bei den Sündern, denen man lieber aus dem Weg geht. Er steht an der Seite von kranken und leidenden Menschen, die andere schon längst abgeschrieben haben, er hält sich nicht an Gesetze, die für ihn zu toten Buchstaben geworden sind und er spricht in wunderbarer Weise von der Güte Gottes, die gerade den armen und einfachen Menschen zukommen will. Für viele, die nichts mehr von ihrem Leben erwarten, wird Jesus so zum Lichtblick in ihrer Not, zum rettenden Strohhalm, an den sie sich voller Hoffnung klammern.
Ich glaube, dass wir diese Hoffnung, diese Sehnsucht gut verstehen und vielfach selber in uns verspüren. Ich halte es manchmal schier nicht aus. Hier die schönen Bilder und Klänge eines frohen Festes und dort die zerbombten Häuser und die geschundenen Menschen. Die Botschaft von Betlehem hat es dieses Jahr besonders schwer, weil vom „Frieden auf Erden“ so wenig zu spüren ist.
Aber gerade deswegen ist Weihnachten wichtig. Jesus will mehr sein als eine schöne Kulisse für ein stimmungsvolles Fest. Er zeigt uns einen Weg, wie der Friede auf Erden wahr werden kann. „Mach es wie Gott, werde Mensch!“Ohne Gewalt, klein und ohnmächtig wie ein Kind, wirbt er darum, dass wir ihn aufnehmen und seinem Frieden wirklich eine Chance geben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39021Warm leuchtend, reich verziert mit Gold und Silber und beschienen von Kerzen in goldenen Leuchtern, die von der Decke herabhingen. Das war die Atmosphäre, in die ich in einer Kirche in Griechenland – irgendwann diesen Herbst – eintauchen durfte. In ein warmes Leuchten. Ganz leicht hat es nach Weihrauch gerochen, und überall an den Wänden: Ikonen, die traditionell gemalten Bilder von Heiligen, die in der orthodoxen Kirche verehrt werden. Eine Ikone - ich glaube, es war die des Heiligen Nikolaus - stand frei auf einer Art Staffelei. Eine ganze Weile habe ich in der Kirche auf meinem geflochtenen Stuhl gesessen und beobachtet, wie immer wieder jemand hereinkam, einen kleinen Knicks vor dem Heiligen Nikolaus machte und vorsichtig seine Ikone küsste. Ich konnte sehen, wie die Lippen der Menschen sich bewegt haben. Wahrscheinlich ein leise gemurmeltes Gebet. Eine Bitte an den Heiligen vielleicht– vielleicht auch Dank…
Es war eine heilige Atmosphäre an diesem Ort. Und heute, am Feiertag „Allerheiligen“ merke ich, wie diese Atmosphäre in mir noch nachklingt. Ein Gefühl, dem Heiligen ganz nah zu sein, vielleicht sogar Gott selbst ganz nah zu sein. Obwohl - Gott ist so unvorstellbar groß, dass die Vorstellung auch beängstigend sein kann. Aber zum Glück sind da ja auch noch die Bilder der Heiligen. Vorbilder für den christlichen Glauben, die sich durch nichts haben abbringen lassen, von ihrem Vertrauen auf Gott. Warm leuchten ihre Gesichter auf den reich verzierten Ikonen. Wie das des Heiligen Nikolaus auf der Staffelei: Nikolaus war Bischof in einer Zeit, als Christen vom römischen Staat noch verfolgt wurden – auch er selbst. Aber trotzdem war er da für die Menschen seiner Gemeinde. Der Legende nach hat er sich vor allem um Kinder gekümmert, und sein ererbtes Vermögen hat er denen gegeben, die Unterstützung bitter nötig hatten.
Streng – und gleichzeitig gütig blickt Nikolaus heute den Menschen entgegen: auf seiner Ikone in der kleinen Kirche irgendwo in Griechenland.
Bei einer Frau, die kam, um zu beten, meine ich, Tränen in den Augen gesehen zu haben. Irgendetwas hat sie geplagt und ihr vielleicht Angst gemacht. Sicher hat sie Trost gesucht beim Heiligen Nikolaus in der heiligen Atmosphäre ihrer Kirche. Die Frau hatte vielleicht ihr Vertrauen zu Gott verloren. Aber der Glaube und das Vertrauen des Heiligen Nikolaus waren so groß, dass es sicher auch für die Frau gereicht hat. Bei ihm hat sie deshalb Kraft gesucht – und hoffentlich auch gefunden.
Wenn ich heute, an Allerheiligen, an die Frau und an meinen Besuch in der griechischen Kirche denke, dann sehne ich mich ein wenig nach dieser besonderen Atmosphäre des Heiligen. Der November beginnt, die Tage sind kurz und oft neblig und verregnet. Sie erinnern daran, dass das Jahr langsam zu Ende geht. Und wieder ein Jahr meines eigenen Lebens vergangen ist, und dass wir Menschen sterblich sind. Und dann sind da ja auch noch die Fragen nach dem, was kommen wird und was uns vielleicht Angst macht oder Sorgen bereitet. Manchmal verliere auch ich da mein Gottvertrauen.
Deshalb sehne ich mich nach etwas Trost und danach, mich dem Heiligen nah zu fühlen. Gott nah zu fühlen und der leuchtenden Wärme seiner Liebe zu uns Menschen. Genau wie die Frau in der Kirche in Griechenland. Ich fand damals, dass sie ein wenig besser ausgesehen hat, als sie schließlich die Kirche verlassen hat. Sie konnte von dem Heiligen etwas mitnehmen, was sie selbst verloren hatte.
Als sie damals ging, hat sie noch eine Kerze angezündet. Das habe ich auch getan. Und heute werde ich genau das wieder machen: in meiner Kirche eine Kerze anzünden, damit sie warm leuchtet und mir – und vielleicht auch ein paar anderen Besuchern – die heilige Nähe Gottes wieder nahebringt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38709Horizonte öffnen. Das ist das Motto des Tags der Deutschen Einheit in diesem Jahr. Zuerst habe ich mich schon gefragt, was mir dieses Motto eigentlich sagen will. Denn der Horizont, das ist ja erstmal die Linie, an der sich optisch quasi Himmel und Erde begegnen. Wenn ich etwa am Strand der Nordsee stehe und aufs Meer hinausschaue, dann kann ich sie sehen. Weit draußen. Da, wo das Meer scheinbar aufhört und der Himmel beginnt. Wenn ich im Urlaub an der See bin, dann könnte ich manchmal stundenlang dasitzen und mir dieses Bild anschauen. Ein Blick scheinbar bis ans Ende der Welt. Der Welt zumindest, die ich überblicken kann. Doch öffnen lässt sich dieser Horizont genau genommen eigentlich nicht.
Und dann kommt mir beim Horizont natürlich Udo Lindenberg in den Sinn. Wenn er davon singt, dass es hinterm Horizont weitergeht. Seine Ballade, fast 40 Jahre alt, ist inzwischen ein echter Klassiker. Geschrieben hat er sie damals als Hommage an eine enge Freundin, die viel zu früh gestorben ist. Und so eine Freundschaft, die hört nicht einfach so auf, meint der Song. Auch nicht mit dem Tod. Dem ultimativen Horizont jedes irdischen Lebens.
Ein Horizont, der sich öffnet. Das soll wohl vor allem ein Bild sein für eine Hoffnung, die Menschen haben. So, wie im Song von Udo Lindenberg. Dass es irgendwie weitergeht. Und dass diese Linie, die ich da in weiter Ferne sehen kann, eben nicht das Ende der Welt markiert. Und auch nicht das Ende des Lebens. Und dass es deshalb auch nie gut ist, den Kopf hängen zu lassen, Frust zu schieben und zu sagen: „Es hat ja doch alles keinen Sinn“.
Die Bibel kennt etliche von solchen Geschichten. Von Menschen, die sich nicht damit zufriedengegeben haben, dass da eine Linie sein soll, hinter der es nicht weitergeht. Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, aufgebrochen sind. Oft, ohne zu wissen, was sie erwartet. Aber in der Überzeugung, dass sie auf dem richtigen Weg sind.
Da ist zum Beispiel Abraham. Die heiligen Schriften von Juden, Christen und Muslimen erzählen von ihm. Er ist ihr gemeinsamer Urahn. Von Abraham wird erzählt, dass Gott eines Tages zu ihm spricht und ihm sagt, er solle aufbrechen. Land, Heimat, Verwandtschaft. Alles soll er zurücklassen. Losziehen in ein unbekanntes Land, das Gott ihm erst noch zeigen will. Und Abraham macht sich tatsächlich auf. Lässt alles hinter sich und zieht einfach los. Im Vertrauen darauf, dass die Sache gut ausgehen wird.
Oder da sind die Freunde von Jesus, die sich im Haus einschließen, nachdem ihr Freund nicht mehr da ist. Angst haben sie, wissen nicht, wie es weitergehen soll. Und dann fassen sie plötzlich neuen Mut, machen Fenster und Türen auf und gehen raus. In der Hoffnung, dass es doch weitergeht. Für sie und für die Sache Jesu.
33 Jahre jung ist die Deutsche Einheit heute. Im besten Alter eigentlich. An die Bilder kann ich mich noch gut erinnern. Ich selbst war damals 28 und was war das für eine Aufbruchstimmung? Was für Hoffnungen haben sich da verbunden mit der Zukunft? Nicht nur im Osten war das so. Auch bei vielen Menschen hier im Westen. Sicher, wie immer bei den ganz großen Hoffnungen, war manches davon vielleicht naiv. Haben viele Wünsche der komplizierten Wirklichkeit am Ende dann doch nicht standgehalten. Und dennoch, das ist mein Eindruck, ist unglaublich viel geschafft worden. Eine riesige gemeinsame Kraftanstrengung.
Inzwischen aber hat sich bei so vielen Leuten Wut und Frust angestaut. So viel Unzufriedenheit und auch Angst vor der Zukunft. Mir kommt das heute manchmal vor, als ob viele Menschen zwar den Horizont sehen, aber ängstlich dahin blicken. Vielleicht, weil sie Zweifel haben, ob es dahinter wirklich weitergeht oder eher das Ende der Welt lauert. Manches kann ich sogar verstehen. Weil ich hin und wieder auch dieses Gefühl habe, dass die vielen Krisen mich überfordern und ohnmächtig machen. Weil die Welt so unübersichtlich geworden ist, wie nie zuvor und ich selbst kaum noch mitkomme. Und weil die Zuversicht, die mal da war, dass es immer weiter aufwärts geht, ziemlich brüchig geworden ist.
Mir hilft da manchmal ein Blick auf meine Töchter. Die sehen wie viele junge Leute in ihrem Alter ziemlich deutlich, was los ist. Ihnen ist auch klar, dass es so nicht mehr weitergeht und dass sich was ändern muss. In der Art etwa, wie sie in Zukunft leben und arbeiten werden. Sie wissen auch, dass Wohlstand, Frieden und Freiheit keine Selbstläufer mehr sind. Und dass es jetzt an ihnen liegt, etwas dafür zu tun. Aber sie motzen und jammern nicht, sondern packen an. Mit der festen Zuversicht, dass es hinterm Horizont weitergeht. Irgendwie. Sicher anders als bisher. Aber weiter.
Übermäßig fromm ist keine und keiner der jungen Leute, die ich kenne. Auch meine Töchter nicht. Aber als Christ kann ich trotzdem von ihnen lernen, was es heißt, aus dem Geist der Bibel zu leben. Aus dem Geist der Hoffnung, dass es eine gute Zukunft geben kann, auch wenn ich sie noch nicht kenne. Und dass es sich immer lohnt, mich für diese Zukunft zu engagieren. Auch hier und jetzt. Mit dem, was mir möglich ist. Und dann markiert der Horizont auch nicht mehr das Ende der Welt, sondern jene Linie, an der die Erde den Himmel berührt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38496Die letzte Erzählung, die Franz Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, heißt „Ein Hungerkünstler“. Am heutigen Fronleichnamstag kommt mir diese Erzählung in den Sinn. Weil sie uns etwas über den Hunger der Menschen auf das Leben erzählt. Und der spielt an Fronleichnam eine große Rolle. Dieser Hungerkünstler ist eine seltsame Gestalt. Auf Jahrmärkten hat er große Auftritte gehabt und große Zeiten erlebt. Die sind jetzt vorbei. Mit dem Hunger leben zu können, ist uninteressant geworden. Der Wohlstand ist ausgebrochen, die Massen rennen im Zirkus achtlos am Hungerkünstler vorbei. Der Mann mit seiner Kunst, den Hunger wachzuhalten, wird vergessen. Man entdeckt ihn eines Tages zufällig beim Aufräumen in seinem Hungerkäfig. Er hungert noch immer – und die Leute denken, er will sich nur interessant machen. Erst im Gespräch mit dem Aufseher kommt heraus, was hinter seiner eigentümlichen Kunst zu verzichten steckt: Nichts von Geltungssucht, nichts von Wichtigtuerei! Er hat gar keine andere Wahl: “Ich kann nicht anders!”, sagt der Hungerkünstler, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie Du und alle.“
Die Geschichte endet mit einem offenen Schluss. Es wird nicht gesagt, nach welcher Speise dieser Mensch hungert. Offensichtlich konnte er nicht finden, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Sicher ging es ihm nicht nur um dieses oder jenes Brot oder nur um leibliche Nahrung. Sein Hunger scheint grundsätzlicher zu sein. Er bräuchte nicht nur etwas zwischen die Zähne und für den Magen. Er bräuchte Nahrung für seine Seele.
Wie alle übrigen Menschen lebt auch er nicht vom Brot allein. Er will anerkannt werden, respektiert sein und in dem, was er ist, wertgeschätzt werden. Ich glaube dieses Verlangen, dieser Hunger lebt in jedem Menschen. Jeder von uns kennt ihn.
“Hunger auf Leben“ habe ich einmal auf einem geschickten Werbeplakat einer Bäckerei gelesen. Hunger auf Leben ist mehr als Hunger auf Brot. Ich frage mich: In welcher Bäckerei sollte ich diesen Hunger auf Leben stillen können?
Es geht heute um ein kleines Stück Brot, das für die katholischen Gemeinden im Mittelpunkt steht. Sie glauben, dass in der Hostie, in diesem kleinen Brot, Jesus Christus bei ihnen da ist. Sie feiern deswegen ein buntes und fröhliches Fest. Gottesdienste und feierliche Prozessionen finden im Freien, in aller Öffentlichkeit statt. Menschen gehen buchstäblich auf die Straße, um vor aller Welt zu zeigen, was für sie das Wichtigste ihres Glaubens ist: Ein kleines Stück Brot. Sie nennen es Brot des Lebens und schauen ehrfürchtig auf die Monstranz, in deren Mitte das Brot aufbewahrt wird und für die Menschen sichtbar bleibt.
Fronleichnam ist ein traditionsreiches Fest. Die Augen bekommen viel zu sehen und manch einer mag fasziniert sein, andere wieder abgestoßen von einem scheinbar fremden Spektakel. Aber mit den Augen sieht man eben das Entscheidende nicht. Das kleine Brot hinter der Scheibe ist nicht alles. Viel wichtiger und zentraler ist, was dieses Brot beinhaltet und was es bedeutet. Es erinnert an das Abschiedsmahl Jesu vor seinem Tod. Damals nahm er Brot in seine Hände, segnete es, brach es, gab es seinen Jüngern mit den Worten: nehmt und esst das ist mein Leib. Damit hat er den Jüngern gezeigt, wie er sein Leben verstanden hat: Das bin ich für euch: ein Mensch, der sich für andere austeilt wie Brot, einer der sogar sein Leben für andere hingibt.
Jesus verteilt mehr als einen Bissen Brot. Er teilt mit den anderen sein Vertrauen in Gott, seine Liebe zu jedem, ohne Wenn und Aber, und er teilt mit ihnen seine große Hoffnung. Seine Hoffnung, dass teilen nicht ärmer macht, sondern unsere Welt zum Besseren verändert.
Das alles steckt in dem kleinen Brot in der Monstranz. Hier verkörpert sich das ganze Leben Jesu. Er hält den Hunger nach einem guten und gerechten Leben wach und setzt sein eigenes Leben ein und weiß wie kein anderer, was die Menschen brauchen: Natürlich das tägliche Brot aber auch die Nahrung für ihre Seele. Den Abgeschriebenen und Ausgestoßenen sagt er, dass sie bei Gott dazugehören. Den Ungeliebten und Unerwünschten zeigt er, wie willkommen sie sind und die Gescheiterten spüren, dass sie keine hoffnungslosen Fälle sind. Er kennt den vielfachen Hunger auf Leben und gibt jedem Menschen das richtige Brot. Wer nach einem erfüllten und guten Leben hungert, ist bei ihm an der richtigen Adresse.
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