SWR4 Feiertagsgedanken
Die letzte Erzählung, die Franz Kafka zu seinen Lebzeiten veröffentlicht hat, heißt „Ein Hungerkünstler“. Am heutigen Fronleichnamstag kommt mir diese Erzählung in den Sinn. Weil sie uns etwas über den Hunger der Menschen auf das Leben erzählt. Und der spielt an Fronleichnam eine große Rolle. Dieser Hungerkünstler ist eine seltsame Gestalt. Auf Jahrmärkten hat er große Auftritte gehabt und große Zeiten erlebt. Die sind jetzt vorbei. Mit dem Hunger leben zu können, ist uninteressant geworden. Der Wohlstand ist ausgebrochen, die Massen rennen im Zirkus achtlos am Hungerkünstler vorbei. Der Mann mit seiner Kunst, den Hunger wachzuhalten, wird vergessen. Man entdeckt ihn eines Tages zufällig beim Aufräumen in seinem Hungerkäfig. Er hungert noch immer – und die Leute denken, er will sich nur interessant machen. Erst im Gespräch mit dem Aufseher kommt heraus, was hinter seiner eigentümlichen Kunst zu verzichten steckt: Nichts von Geltungssucht, nichts von Wichtigtuerei! Er hat gar keine andere Wahl: “Ich kann nicht anders!”, sagt der Hungerkünstler, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie Du und alle.“
Die Geschichte endet mit einem offenen Schluss. Es wird nicht gesagt, nach welcher Speise dieser Mensch hungert. Offensichtlich konnte er nicht finden, was er die ganze Zeit gesucht hatte. Sicher ging es ihm nicht nur um dieses oder jenes Brot oder nur um leibliche Nahrung. Sein Hunger scheint grundsätzlicher zu sein. Er bräuchte nicht nur etwas zwischen die Zähne und für den Magen. Er bräuchte Nahrung für seine Seele.
Wie alle übrigen Menschen lebt auch er nicht vom Brot allein. Er will anerkannt werden, respektiert sein und in dem, was er ist, wertgeschätzt werden. Ich glaube dieses Verlangen, dieser Hunger lebt in jedem Menschen. Jeder von uns kennt ihn.
“Hunger auf Leben“ habe ich einmal auf einem geschickten Werbeplakat einer Bäckerei gelesen. Hunger auf Leben ist mehr als Hunger auf Brot. Ich frage mich: In welcher Bäckerei sollte ich diesen Hunger auf Leben stillen können?
Es geht heute um ein kleines Stück Brot, das für die katholischen Gemeinden im Mittelpunkt steht. Sie glauben, dass in der Hostie, in diesem kleinen Brot, Jesus Christus bei ihnen da ist. Sie feiern deswegen ein buntes und fröhliches Fest. Gottesdienste und feierliche Prozessionen finden im Freien, in aller Öffentlichkeit statt. Menschen gehen buchstäblich auf die Straße, um vor aller Welt zu zeigen, was für sie das Wichtigste ihres Glaubens ist: Ein kleines Stück Brot. Sie nennen es Brot des Lebens und schauen ehrfürchtig auf die Monstranz, in deren Mitte das Brot aufbewahrt wird und für die Menschen sichtbar bleibt.
Fronleichnam ist ein traditionsreiches Fest. Die Augen bekommen viel zu sehen und manch einer mag fasziniert sein, andere wieder abgestoßen von einem scheinbar fremden Spektakel. Aber mit den Augen sieht man eben das Entscheidende nicht. Das kleine Brot hinter der Scheibe ist nicht alles. Viel wichtiger und zentraler ist, was dieses Brot beinhaltet und was es bedeutet. Es erinnert an das Abschiedsmahl Jesu vor seinem Tod. Damals nahm er Brot in seine Hände, segnete es, brach es, gab es seinen Jüngern mit den Worten: nehmt und esst das ist mein Leib. Damit hat er den Jüngern gezeigt, wie er sein Leben verstanden hat: Das bin ich für euch: ein Mensch, der sich für andere austeilt wie Brot, einer der sogar sein Leben für andere hingibt.
Jesus verteilt mehr als einen Bissen Brot. Er teilt mit den anderen sein Vertrauen in Gott, seine Liebe zu jedem, ohne Wenn und Aber, und er teilt mit ihnen seine große Hoffnung. Seine Hoffnung, dass teilen nicht ärmer macht, sondern unsere Welt zum Besseren verändert.
Das alles steckt in dem kleinen Brot in der Monstranz. Hier verkörpert sich das ganze Leben Jesu. Er hält den Hunger nach einem guten und gerechten Leben wach und setzt sein eigenes Leben ein und weiß wie kein anderer, was die Menschen brauchen: Natürlich das tägliche Brot aber auch die Nahrung für ihre Seele. Den Abgeschriebenen und Ausgestoßenen sagt er, dass sie bei Gott dazugehören. Den Ungeliebten und Unerwünschten zeigt er, wie willkommen sie sind und die Gescheiterten spüren, dass sie keine hoffnungslosen Fälle sind. Er kennt den vielfachen Hunger auf Leben und gibt jedem Menschen das richtige Brot. Wer nach einem erfüllten und guten Leben hungert, ist bei ihm an der richtigen Adresse.
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