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03DEZ2023
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Konrad Stockmeier Foto: privat

Pfarrer Felix Weise von der evangelischen Kirche trifft Konrad Stockmeier, Pfarrersohn und Bundestagsabgeordneter für die FDP.

Ich habe nicht schlecht gestaunt, als Konrad Stockmeier, der einige Zeit zuvor noch neben mir im Chor gesessen hatte, 2021 auf einmal Bundestagsabgeordneter war. Auf einmal kannte ich einen Bundestagabgeordneten. Jetzt wollte ich einiges genauer wissen. Zuerst, woher sein Interesse für die Politik kam. Er erzählt mir, dass das aus seiner Schulzeit in Konstanz herrührt. Da hat er mit dem Zeitunglesen angefangen. Dort wurden ihm komplexe Zusammenhänge verständlich erklärt.

Und so habe ich mich recht früh für politische und auch wirtschaftliche Zusammenhänge interessiert und bin ziemlich schnell mit dem Virus der Freiheitsliebe infiziert worden. Weil. Dieses, dieses Menschenbild, das Menschen befähigen will, dass Menschen zutraut, ihr Leben in die Hand zu nehmen, in Verantwortung für andere und für sich zu gestalten und so zur Gemeinschaft was beizutragen. Dieses liberale Menschenbild, das hat mich sehr früh überzeugt. Und da bin ich dabeigeblieben.

Für die FDP ist er 2021 in den Bundestag eingezogen. Als Neuling im Bundestagsbetrieb fällt ihm auf, wie schnell der Politikbetrieb eine Eigendynamik entwickelt. Und manchmal auch in Gefahr steht, wie ein Raumschiff weit entfernt von den Bürgerinnen und Bürgern zu schweben. Er findet es darum gut, dass ihn sein Arbeitsweg durch den Berliner Hauptbahnhof erdet. Und ihm zeigt, für wen er da ist: Für den Rentner, die Mutter oder Vater mit Kind, die Geschäftsfrau, die Geflüchteten, den Bettler. Er möchte...

…das Leben für all diejenigen, denen man im Bahnhof begegnet, besser machen, einen Tacken einfacher machen, neue Dinge ermöglichen. Und ich sage immer Gnade Gott diesem Raumschiff, wenn es diesen Zweck seiner Existenz je vergisst. Und ich glaube, da muss man daran arbeiten, dass dieses Raumschiff nicht so sehr um sich selber kreist, sondern, dass die Mannschaft dieses Raumschiffes sich absolut dessen bewusst ist: Hey, es geht ums Land, Es geht um die Menschen.

Bei diesem Ringen um Kompromisse ist Konrad Stockmeier die Freiheit ein großes Anliegen. Aber um was für eine Freiheit geht es ihm?

Freiheit ist für mich mein Leben mit anderen so zu gestalten, wie ich es für richtig halte. Ich denke Freiheit gelungene Freiheit immer in Kombination mit Verantwortung. Freiheit. Ja, die mit so einer gewissen Rücksichtslosigkeit um die Ecke biegt. Das ist keine Freiheit, die mich besonders interessiert.

Freiheit, die auch dem anderen Freiräume lässt. So versteht Konrad Stockmeier die Freiheit, die sein Menschen- und Weltbild bestimmt. Das ist gleichzeitig auch von seinem Glauben geprägt. Er ist als Sohn eines Pfarrers im Pfarrhaus aufgewachsen. Die Auseinandersetzung mit Glauben und Kirche begleitet ihn von Kindesbeinen an. Was bedeutet der Glaube ihm heute?

Der Glaube ist für mich ein Raum in dem ich oft weniger Antworten erwarte. Als wirklich Zeit und Raum haben Fragen zu stellen. Ich muss auch sagen, ich bin jetzt 46, im Älterwerden, wenn ich das so sagen darf, fasziniert es mich immer mehr, welche Verbindlichkeit und gleichzeitig ganz große Weite biblische Texte ja immer wieder haben. Die sind so gar nicht beliebig, aber man kann sie auf sehr unterschiedliche Arten oder auf sehr vielfältige Arten deuten. Das finde ich immer wieder als inspirierend. Manchmal sogar auch ein bisschen als Kraftquelle.

Ihm persönlich ist der Glaube wichtig. Und er erzählt, dass er in seinem Stadtviertel die Kirchengemeinde als positiv erlebt. Er erzählt begeistert vom von der Predigt zum Reformationstag in Mannheim, in der der Pfarrer eine…

… eine tolle Aussage formuliert hat. Vielleicht kämen wir manchmal weiter, wenn wir nicht so sehr darüber nachdenken würden, dass wir Menschen gemeinsame Vorfahren mit dem Affen haben. Sondern wenn wir jetzt auf die Schöpfungsgeschichte gucken, wenn wir uns in unserer Geschwisterlichkeit erkennen und dann vielleicht auch anders miteinander umgehen.

Ein guter Ansatz und das beeindruckt mich insgesamt am Gespräch: Wie er auf den Menschen und die Welt sieht, obwohl er ja als Politiker täglich mit den großen Problemen konfrontiert ist. Was lässt ihn positiv bleiben?

Ich versuche, mir Hoffnung und Zuversicht dadurch zu bewahren, indem ich mir folgendes klarmache, dass das, was es in die Medien schafft nicht. die Realität in ihrer Gesamtheit abbildet. Das heißt, ich halte es für ganz, ganz wichtig wach zu bleiben., Ohren, Augen und Herz in unserem Alltagsleben für das zu öffnen, was in diesem Lande auch alles gelingt, was an Miteinander gelingt.

Hoffnung mitten in einer Welt, die etwas ganz anderes sagt. Das ist für mich im Kern auch die Weihnachtsbotschaft, der wir uns jetzt im Advent langsam nähern. Eine Hoffnung, die eigentlich die Realität gegen sich hat. Für Konrad Stockmeier ist die christliche Hoffnung darum auch eine Zumutung. Weder harmlos, noch billig, findet er.

Weil wir doch in einer Welt leben. In der man ja durchaus auch verzagen könnte. Da hast du auf der Welt so und so viel Leid und Tod. Ja und auch Hölle. Und dann biegt da einer um die Ecke und will dir Hoffnung machen. Hui, hat der eigentlich alle Tassen im Schrank? Wie sieht er denn die Welt? Sieht er nicht, was da alles passiert? Und er bleibt aber bei dieser Botschaft der Hoffnung. Und darüber nachzudenken. Das lohnt sich.

 

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26NOV2023
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Julia Jentsch und Helge Burggrabe Foto: Beatrice Tomassetti

Christopher Hoffmann trifft Schauspielerin Julia Jentsch und Komponist Helge Burggrabe

Julia Jentsch ist Schauspielerin und Helge Burggrabe ist Komponist. Ich treffe beide im Oktober in Speyer, wo sie im Dom das Oratorium „Lux in tenebris“, also „Licht in der Finsternis“ aufführen:

Bei „Lux in tenebris“ ist es diese biblische Geschichte von Kain und Abel und der Kain fühlt sich nicht gesehen mit seiner Opfergabe und aus lauter Missgunst und Neid erschlägt er dann seinen Bruder und das kommt mir vor wie so eine Urszene, die wir bis in die heutigen Tage immer wieder neu aufführen.

Auch Julia Jentsch glaubt: Das was in der Erzählung von Kain und Abel steht, das findet jeden Tag neu in uns Menschen statt:

Überall in der direkten Begegnung jeden Tag, wo ich selber mich manchmal zurücknehmen muss, wenn ich merke da fange ich an in irgendwelchen vorgefertigten Bildern zu denken oder Vorurteile zu haben, was ich nicht möchte. Bis zu den Kriegen, die überall aktuell leider auf der Welt stattfinden - die Notwendigkeit eben im andern den Bruder, die Schwester zu sehen.

Den Bruder und die Schwester sehen in jedem Menschen- das ist die Botschaft von Jesus Christus, die im zweiten Teil des Oratoriums vorgetragen wird: Den Nächsten, ja, sogar den Feind zu lieben. In den Armen und Not leidenden Gott selbst zu erkennen. Aber klar ist auch: Kein Mensch wird dem immer voll und ganz gerecht - deshalb ist bei „Licht in der Finsternis“ auch ganz zentral: Gott ist nicht nur da, wenn wir alles richtig machen, wenn alles in uns und um uns herum leuchtet, sondern er verlässt uns auch dann nicht, wenn wir scheitern:

Dass Gott eben auch in dem Dunklen da ist oder da wo ich eben orientierungslos bin oder in dem einen Text: „Und verliere ich mich, so findest du mich“. Das ist eigentlich finde ich ein sehr kraftvoller Gedanke, weil es sozusagen die Möglichkeit der ständigen Umkehr gibt.

Im Licht und in der Dunkelheit meines Lebens: Gott ist da. Diese Botschaft geht mir unter die Haut, als ich im Speyerer Dom sitze. Auch wegen der Hoffnungsverse, die Julia Jentsch zwischendurch in Gedichten von Rainer Maria Rilke oder Hilde Domin immer wieder aufscheinen lässt:

Das ist ja die Kunst von Gedichten! Das sind dann so wenige Worte und man hat das Gefühl eben das Unbeschreibliche, oder das für das man eigentlich keine Worte findet, kann darin aufsteigen. Das finde ich immer wieder faszinierend und große Kunst sowas zu schaffen.

Julia Jentsch und Helge Burggrabe - da haben sich zwei gefunden, die es wichtig finden in Kirchenräumen und Konzertsälen immer wieder die großen Sinnfragen zu stellen:

Meine Überzeugung ist, dass wir eigentlich alle Suchende sind. Also Suchende nach einem Halt, nach einer Orientierung, nach einem Sinn im Leben, der mehr ist als einfach aufzustehen und irgendwann arbeiten zu gehen, Geld zu verdienen und wieder schlafen zu gehen. Was ist so ein tieferer innerer Sinn in dem Ganzen? Was ist das, was mich trägt, auch in Krisen eben? Und ich glaube da kann es hilfreich sein so eine Anbindung, so eine Zusage zu empfinden, die jenseits ist von dem Alltäglichen, aber mittendrin sich zeigt sozusagen im Miteinander, im Alltag.

Ich treffe Helge Burggrabe und Julia Jentsch. Kirchen sind für sie nicht nur Baukunst, sondern Orte voller Demut, an denen Kreative auch heute die großen Fragen des Lebens stellen können. Ganz zentral für beide: die Frage nach Menschlichkeit. Die ist auch im Projekt „HUMAN“, das ich auf dem Evangelischen Kirchentag im Sommer erleben durfte, elementar:

Wir gehen ja jetzt auf dieses große Jubiläum zu: Am 10. Dezember jährt sich das dann zum 75. Mal, die Deklaration der Menschenrechte. Und man muss ganz ehrlich sagen: Weltweit ist das noch nicht mal in Ansätzen umgesetzt. Also insofern ist das was da nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist unter dem tiefen Wunsch „Nie wieder!“ - wie können wir uns Regeln schaffen, dass so etwas nie wieder passiert - ist eigentlich gescheitert, muss man sagen. Und jetzt könnte man natürlich die Hände in den Schoß legen, aber ich denke mit so einem Projekt wie HUMAN versuchen wir: Nein, wir könnten auch anders! Es steht und fällt mit dem einzelnen Menschen.

Menschen wie die Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Sie hielt selbst unter Hitler an den Menschenrechten fest und Julia Jentsch spielt sie in dem preisgekrönten Film „Sophie Scholl-die letzten Tage“ mit einer Wärme und Kraft, die mich jedes Mal umwirft, wenn ich den Film sehe. Bis heute ist auch Julia Jentsch von der Botschaft von Sophie Scholl tief bewegt. Ein Schlüsselsatz ist für sie Sophies Frage an den Nazirichter Roland Freisler, der sie zum Tode verurteilt:

 „Warum sollen die Juden andere Menschen sein als wir?“ Und das lässt sich auf alles…warum soll irgendein Mensch, warum soll jemand nicht Mensch sein oder warum soll irgendein anderer Mensch nicht gleich behandelt werden, oder den gleichen Respekt bekommen? Warum?  

Eine Frage, die hochaktuell ist. Und deshalb glaubt Julia Jentsch auch, dass das Engagement der Widerstandsgruppe Weiße Rose damals nicht umsonst war:

Ja,ja,ja! Das ist nicht umsonst und das darf nicht umsonst sein und dass das dann wieder in unserer Verantwortung ist, das was jedem Einzelnen möglich ist. Und mir ist es vielleicht zum damaligen Zeitpunkt nur möglich diese Worte lebendig zu machen. Also eben jeder nach seinen Möglichkeiten.

Kunst darf für Julia Jentsch auch einfach nur unterhalten, aber:

Ich für mich sehe schon einfach eine große Chance durch die Kunst eben auch Themen zu transportieren, die so etwas ganz elementar Wichtiges haben.

Elementar wichtig finde ich auch, dass Helge Burggrabe und Julia Jentsch gemeinsam an eine weitere allerdings weitgehend unbekannte Widerstandskämpferin erinnern. Auch sie wurde vor 80 Jahren von den Nazis ermordet:

Sie heißt Cato Bontjes van Beek und hat ganz ähnlich wie Sophie Scholl begonnen dann Flugblätter zu verteilen und ist dann auch früh festgenommen worden und war dann noch zehn Monate im Gefängnis und in dieser Gefängniszeit sind eben sehr berührende Briefe entstanden, die wir jetzt in diesem Konzertprojekt eben dann auch lesen. Es ist eine tiefe Menschlichkeit in diesen Briefen drin.

Diesen Schatz der Menschlichkeit, machen die beiden Künstler in ihrem Projekt hörbar.

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19NOV2023
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Anja Bremer ist Pfarrerin aus Leidenschaft. Sie liebt die Vielfalt der Aufgabenfelder, die sie in ihrem Beruf beackern kann. Ihre größte Liebe aber gilt der Gestaltung von Trauerfeiern. Dabei kommt der Tod doch eigentlich immer zur Unzeit. Und der Termin für eine Beerdigung mit all ihren notwendigen Vorbereitungen auch.

Ich mache Beerdigungen sehr, sehr gerne. Das gibt mir ganz viel. Es ist etwas, wo ich den Eindruck habe, da bin ich ganz gefordert und kann ganz da sein. Und das ergibt ganz viel Sinn, wenn ich da begleiten kann.

Woher diese besondere Vorliebe bei ihr kommt? Vielleicht daher, dass der Tod im Leben von Anja Bremer schon viel zu oft unaufgefordert aufgekreuzt ist. Und ihr keine Chance gelassen hat, die Auseinandersetzung mit dem Sterben auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

Mein Bruder ist ganz früh gestorben, mit 32, mein Vater mit 56. Ich hatte mal eine große Kopfoperation mit einem Tumor im Gehirn, mit 29. Dass ich lebe, dass ich heute lebe, das ist für mich jeden Tag auch wieder ein neues Geschenk.

Und dieses Geschenk gibt sie nun auf vielfache Weise in ihrer Arbeit als Seelsorgerin zurück:  Anja Bremer geht ohne Scheu und mit offenen Augen und Ohren in Gespräche mit Hinterbliebenen, sieht und hört genau hin. Sie hat Trostworte im Gepäck und Gebete. Manchmal sorgt sie aber auch für ganz handfeste Nahrung. So wie bei der Beerdigung der „besten Streuselkuchenbäckerin der Welt“:

Und ich habe dann am Abend vor der Bestattung Streuselkuchen gebacken und habe Päckchen abgepackt und habe die Trauerfeier zum Thema der drei wichtigstenZutaten für Streuselkuchen benannt. Das ist, glaube ich, sehr gelungen, weil wir dann zum Schluss am Grab miteinander Streuselkuchen gegessen haben.

Butter, Zucker und Mehl: Zutaten für duftende Streusel! Und weil für Anja Bremer das Evangelium mitten ins Leben gehört, ist es bei ihr nur ein kurzer Weg von der Backstube hin zu Glaube, Liebe und Hoffnung. Diese biblischen drei, meint sie, sind nämlich die besten Zutaten für ein gelingendes Leben.

Und was mit der Nase gut funktioniert, klappt fast noch besser mit den Ohren. Anja Bremer weiß, dass auch die richtige Musik eine ganz wichtige Zutat ist, wenn eine Trauerfeier Menschen berühren soll.

Es macht großen Spaß, sich mit der Pfarrerin Anja Bremer über ihre liebevoll gestalteten Trauerfeiern zu unterhalten. Z.B. wenn sie erzählt, wie sie in einem Trauergespräch die ganze Zeit krampfhaft versucht hat, ihre rot lackierten Fingernägel zu verbergen, bis die Witwe plötzlich mit einem Blick darauf gesagt hat: „Das hätte meinem Heinz gefallen!“

Und als die Trauerfeier war, und ich will die Witwe und ihre Töchter begrüßen, in dem Moment hält sie mir beide Hände hin und die Tochter daneben auch. Und alle haben rot lackierte, knallrot lackierte Nägel. Also hatten wir dann mindestens 30 Finger an dem Tag, die knallrot waren, weil es Heinz so gut gefallen hätte. Und das sind schon auch ganz besondere Formen, zu erleben, wie Menschen auch in Resonanz gehen, wenn ich denn bereit bin, auch Resonanz zu bieten.

Anja Bremer will Menschen berühren. In Resonanz gehen bedeutet für sie, in den von Trauer gelähmten Seelen der Menschen wieder etwas zum Schwingen zu bringen. Und sie weiß: Musik ist da eine begnadete Türöffnerin. Manchmal transportiert ein Choral aus dem Gesangbuch Trost und Seelenwärme. Aber auch Leierkastenmänner haben bei ihr schon aufgespielt. Oder es gab Oasis. Und einmal auch Peter Alexander mit seiner „kleinen Kneipe in unserer Straße“.

Es heißt in dem Lied irgendwie, „da wo das Leben noch lebenswert ist und wo dich keiner fragt, was du hast oder bist.“ Na, christlicher geht es ja gar nicht!

Anja Bremer findet überall biblische Botschaften. Und so eine Entdeckerfreude wünscht sie auch ihrer Kirche. Wie schön wäre es, wenn die sich noch mehr als Dienstleisterin verstehen würde und immer weniger als „Amtskirche“.   

Und da muss ich sagen, erhoffe ich mir und wünsche mir immer mehr, dass die Kirche da noch durchlässiger wird, dass wir von der Erlaubnis doch stärker noch zur Ermöglichung kommen.

Nicht lange nachfragen, was erlaubt ist, sondern Dinge ermöglichen, die den Menschen dienen. Das wäre nach Anja Bremer denn auch so recht im Sinne von Jesus. Der hat einen kranken Menschen einmal gefragt: Was willst du, dass ich dir tun soll? Und sich dann am Wunsch seines Gegenübers orientiert und ihn geheilt.  

Macht sie sich eigentlich auch Gedanken über ihre eigene Beerdigung? Anja Bremer zeigt mir ihr frisches Tattoo am Unterarm:

Da steht der Name eines Liedes drauf: „Abide with me“, und das ist die englische Form von unserem deutschen Gesangbuchlied „Bleib bei mir, Herr“. Und mich berührt dieses Lied sehr. Und ich habe es bei mir, weil ich es als großen Schatz empfinde.

Eine schlichte Bitte, dass Gott sie auch in Momenten größter Not nicht allein lassen möge. Dieses Gebet auf dem Unterarm berührt mich sehr. Wie die große Ernsthaftigkeit, die sich bei Anja Bremer mit einer heiteren Gelassenheit verbindet. Und mit einem Augenzwinkern:

Ich erinnere meinen Mann regelmäßig daran, dass er, bevor ich mal eingeäschert werde, vielleicht noch mal auf meinen linken Unterarm guckt, welches Lied ich gerne gesungen hätte, falls er es vergessen hat. Das wäre sinnvoll. (lacht)

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12NOV2023
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Frère Alois Foto: Marija Pokuklar

Caroline Haro-Gnändinger trifft Frère Alois, Prior der christlichen Ordensgemeinschaft von Taizé in Frankreich

Wir sprechen miteinander, weil er in ein paar Wochen aufhören wird als Prior, also als Leiter der Ordensgemeinschaft von Taizé im französischen Burgund. Dorthin kommen Protestanten, Katholiken, Orthodoxe oder auch Anglikaner und die Lieder von Taizé werden in vielen Kirchengemeinden gesungen. Ich will wissen, wie Bruder Alois, auf Französisch Frère Alois, zurückschaut und was für ihn persönlich und für den Orden jetzt ansteht. In das kleine französische Dorf zieht es seit den 1960er-Jahren viele tausende - vor allem junge - Leute aus aller Welt. Das freut ihn:

Inzwischen kommen manchmal die Enkelkinder von Omas und Opas, die als Jugendliche in Taizé waren. Also, das bleibt schon sehr erstaunlich und dafür bin ich am meisten dankbar.

Auch ich war als Jugendliche mehrmals dort. Mit einer Gruppe meiner Kirchengemeinde. Normalerweise ist man eine Woche dort, übernachtet im Zelt, das Essen wird aus riesigen Töpfen ausgegeben und jeder hilft mit. Eigentlich sehr schlicht, und in Zeiten von Reizüberflutung vielleicht gerade deshalb auch so anziehend für Jugendliche aus aller Welt und aus verschiedenen Milieus. Sie beten dort dreimal am Tag gemeinsam und tauschen sich über die Bibel und ihr Leben aus. Und auch die langen Minuten von Stille im Gottesdienst – ich kann es nicht genau beschreiben - aber das hat sich nach Glück angefühlt.

Immer wieder sagen Jugendliche am Ende einer Woche, dass die Stille das Wichtigste war und das ist ja eigentlich erstaunlich. Heute läuft man von der Stille weg, flieht die Stille.

Vielen fällt es in Taizé leicht, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen - so ging es auch mir: Woran glaube ich eigentlich genau? Und was heißt es im Alltag für mich, gläubig zu sein? Frère Alois erzählt, dass bei einigen auch Sorgen wegen Kriegen und Klimawandel hochkommen. In Taizé tanken viele Kraft für den Alltag.

Alle können kommen, eine Zeit lang hier sein und selbst sehen, was sie für sich entdecken, selbst auf die innere Stimme hören und selbst einen Weg finden. Also wir wollen nicht vorgeben, was getan werden soll, sondern das muss von den Menschen kommen.

Diese Offenheit hat auch Frère Alois damals angezogen. Mit 16 Jahren ist er aus Stuttgart zum ersten Mal hergekommen. Er ist etwas später eingetreten und mit 24 Jahren wurde er schon als späterer Prior ausgewählt. Von Gründer Frère Roger persönlich.

Das war eine ganz große Überraschung, als er zum ersten Mal mit mir darüber sprach, als ich sehr jung war. Und dann haben wir ganz selten nur darüber gesprochen. Er hat mir niemals gesagt, was ich einmal tun soll oder wie das weitergehen soll. Er hat ein ganz großes Vertrauen gezeigt, dass wir Wege finden werden.

Mit 51 Jahren, nachdem der vorige Prior Frère Roger tragisch gestorben war, hat er dann die Leitung übernommen. Und die anderen Brüder haben ihn sehr unterstützt, sagt er. Heute sind es insgesamt 90 Männer, katholisch, anglikanisch oder evangelisch. Manche von ihnen leben in kleinen Gemeinschaften in anderen Ländern.

Als ich Frère Alois frage, ob er als Baden-Württemberger, wenn er im Dezember mit seinem Amt als Prior aufhört, häufiger zu Besuch kommt, zu seinen Geschwistern zum Beispiel, sagt er mir:

Ich habe mich entschieden, und die Brüder waren damit einverstanden, dass ich nach Kuba gehe. Wir werden dort mit drei Brüdern zusammenleben. Also von Kuba kann ich dann nicht so oft nach Stuttgart kommen, wie ich es gerne tun würde.

Also ein ganz neuer Schritt für ihn mit 69 Jahren. Er war bisher nur einmal auf Kuba, weiß von politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten dort, aber auch von der Lebensfreude und dem Glauben der Menschen und der Musik. Und die Sprache Spanisch kann er sicherlich schon, oder?

Nein, ich muss das lernen, stellen Sie sich vor, ich muss Spanisch lernen, es ist wirklich ein Neuanfang für mich, in ganz vielen Bereichen.

Mindestens ein Jahr lang wird er dort sein, auch um dem neuen Prior in Taizé genügend Freiheit zu geben. Aber eins steht auf jeden Fall an, nämlich eine neue Struktur, um allen Brüdern mehr Mitsprache bei Entscheidungen zu geben, sagt er. Und es wird weiterhin darum gehen, Transparenz und Prävention in Sachen sexuellem Missbrauch zu schaffen, denn auch in Taizé gab es in der Vergangenheit sexualisierte Gewalt:

Es ist notwendig, wegen der Menschen, die Opfer waren und sind, denn diese Leiden vergehen ja nicht. Also um diesen betroffenen Menschen gerecht zu werden, wollen wir alles versuchen, dass Taizé in Zukunft ein sicherer Ort ist.

Die Zukunft beschäftigt ihn überhaupt. Er ist mir aus Rom zugeschaltet, wo er bei einer großen Versammlung dabei ist. Bei der Weltsynode, wo es um die Zukunft der katholischen Kirche geht. Er glaubt, dass Kirchen offen sein müssen für verschiedene Formen den Glauben auszudrücken. Und dass eine gute Gemeinschaft wichtig ist.

Dass wir kleine Gemeinschaften schaffen in unseren Kirchengemeinden. Und diese kleinen Gemeinschaften können zusammen überlegen: Was bedeutet für uns Christsein?

So etwas konnte ich zum Beispiel in einer kleinen Gruppe in einer Karlsruher Kirchengemeinde erleben. Frère Alois sagt mir, dass ihn das Teilen von Schönem und Schwierigem sehr erfüllt, in seiner Gemeinschaft unter den Brüdern, aber auch wenn Besucher in Taizé sich an ihn wenden:

Auch wenn wir da keine Antworten geben können. Aber ich mache da immer wieder die Erfahrung, dass dieses Sich-mitteilen-können schon einen neuen Horizont öffnen kann.

Es ist schön, von seiner Offenheit und seinen guten Erfahrungen mit den vielen Menschen zu hören, die wöchentlich nach Taizé kommen. Auch mich haben die guten Erlebnisse dort mit Gott, Musik und Menschen aus aller Welt geprägt und ich habe sie in meinen Alltag mit nach Hause genommen.

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05NOV2023
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Holm-Hadulla, Rainer Matthias Bildrechte: Rainer Matthias Holm-Hadulla

Sein ganzes Leben hat der Arzt und Psychotherapeut Rainer Matthias Holm-Hadulla über das Thema „Kreativität“ geforscht. Und er ist überzeugt: Verzweiflung, Hass und Gewalt kann man kreativ bewältigen. Für ihn ist es auch die wichtigste Aufgabe unsrer Kultur. Ich denke an die aktuellen Kriege in der Ukraine und Israel und frage mich: Wie ist sowas heute möglich?

Ich denke, das sind die Rückfälle in die Barbarei. Freud sagte: das Eis der Vernunft ist dünn. Eine dauerhafte Kulturarbeit versagt immer wieder. Und ich denke, dass man da immer wieder neu anfangen muss und neu aufbauen muss.

Immer wieder neu anfangen? Also ich spüre eher den Wunsch, abzutauchen, nichts wissen zu wollen.  Dabei weiß ich ja – Probleme, vor denen man sich drückt, verschwinden nicht, sie tauchen immer wieder auf und werden eher. Also hinschauen und – was dann?

Wir müssen die Information, die wir bekommen, auch verarbeiten, wir müssen sie transformieren können in Gedanken, in Ideen, in Pläne und auch in alle Strategien, wie wir damit umgehen können.

Informieren ja, aber sich nicht überfluten lassen. Also nur so viel aufnehmen, dass man handlungsfähig bleibt. Rainer Holm-Hadulla nennt das „Alltagskreativität“. Man kann aber auch eine außergewöhnliche Kreativität entwickeln.

Also ich unterscheide ja außergewöhnliche und alltägliche Kreativität. Der wichtigste Unterschied ist, dass die außergewöhnliche Kreativität auch für viele andere von Bedeutung ist.

Rainer Holm-Hadulla hat sich die Lebensgeschichten von außergewöhnlich kreativen Menschen angeschaut wie Mozart, Goethe, Madonna, Mick Jagger und andere. Und da ist ihm aufgefallen:

Wenn man dann außergewöhnliche Kreative betrachtet, dann merkt man doch, dass die große Kreativität immer – ich würde sagen immer aus einer Bewältigung von Leid, Verzweiflung, Hass und Gewalt entsteht. Kunstwerke, die das nicht spüren lassen, ist Kitsch. Nehmen wir das Jahrtausendgenie Mozart. Von frühester Kindheit an muss er sich mit dem Tod auseinandersetzen, sein Vater und seine Mutter haben 5 Kinder vor ihm verloren.

Ähnliches gilt für Goethe und Musikgrößen wie John Lennon, Madonna oder Jimi Hendrix.
Sie schaffen wunderbare Werke, weil sie es müssen. Weil sie einerseits ein persönliches Leiden bewältigen müssen und andererseits andere damit inspirieren wollen.

Gerade, wenn man an die Großen denkt, das machen sie immer, immer ganz radikal in Bezug auf einen anderen. Ja, Mozart spricht Menschen an. Seine Musik besteht darin, andere zu verlebendigen, nicht nur sich selbst.

Die Welt ist in Aufruhr. Nachrichten von entfesselter Gewalt fluten unsere Wohnzimmer. Wie damit umgehen? Bei den Menschen mit außergewöhnlicher Kreativität fällt auf: Sie sind offen für die Not Anderer. Und zugleich können sie sich abgrenzen und diszipliniert an Lösungen arbeiten.

Ich glaube, das wird ein bisschen auch in unserer – sagen wir mal „hedonistischen“ Kunstauffassung unterbelichtet. Dass die Arbeit – also etwas für andere zu tun und nicht nur für mich, ein Lebenselixier ist.

Dazu aber brauchen wir Schutzräume. Schutzräume durch gute Beziehungen. Und Schutzräume, in denen wir mit anderen das Leben feiern. Für Rainer Holm-Hadulla sind das auch die Kirchen.

Also ich bin kein bibeltreuer Christ, ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Christ bin und an was ich genau glaube. Aber was ich weiß, ist, dass dieser Begegnungsraum mir Ideen ermöglicht. Und die Musik, die ich sonst nicht hätte... im Sinne einer erfüllten Erfahrung.  

Ich würde das Ritual eines Gottesdienstes so beschreiben: Ich trete gemeinsam mit anderen vor Gott, mache mich ganz ehrlich mit dem, was mich bedrängt. Und mit Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus vertraue ich darauf, dass sich Böses in Gutes verwandelt. Das ist mein Glaube an die Auferstehung. Hier und jetzt. Das kann ich nicht machen. Aber ich kann es spüren. Auch als so etwas wie ein neues Urvertrauen.  

Der alt werdende Picasso sagt „jetzt kann ich endlich malen wie ein Kind“. Und das ist ja auch die Gotteskindschaft, die, an die wir glauben.  Dass wir durch dieses Transformationsritual irgendwie erlöst werden.

Ich wünsche mir, dass wir erlöst werden von Verzweiflung, Hass, Gewalt und Dummheit. Dass wir darin nicht versinken, sondern dem etwas dagegensetzen. Unsere Kreativität! Mit der wir anfangen zu arbeiten und einfach mal was machen. Etwas Neues probieren, auch wenn es Angst macht. Rainer Holm-Hadulla hat zum Beispiel in Heidelberg ein Betreuungsangebot für geflüchtete Kinder eingerichtet. Und er hat Studierende dafür gewonnen, etwas für traumatisierte Kinder zu tun.

Und da war eine Studentin, die hatte schon Angst. Und die ist dann doch hingegangen und hat einen halben Tag dort verbracht. Und ich bin dann dazugekommen und bevor wir gesprochen haben, kam ein Kind, hat diese Studentin an der Hand genommen „Bitte, bitte, komm wieder!“ Und diese Studentin hatte Tränen in den Augen und hat gesagt: „Ja, das ist es.“ 

 

Lit: Rainer M. Holm-Hadulla, Die kreative Bewältigung von Verzweiflung, Hass und Gewalt, Psychosozial- Verlag 2023

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01NOV2023
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Johannes Wimmer Foto: Aempathy

Christopher Hoffmann trifft: Johannes Wimmer, Fernseharzt, Moderator, Buchautor

Dr. Johannes Wimmer ist Fernseharzt, Moderator und Autor des Buches „Wenn die Faust des Universums zuschlägt“.* Darin teilt der Vater von vier Kindern seine Erfahrungen aus einer schweren Zeit: Vor drei Jahren starb seine Tochter Maximilia mit nur neun Monaten an einem unheilbaren Hirntumor. Im Moment der Diagnose, da wollte er nur eins:

Jeden Weg gehen, um das Kind vor Schaden zu bewahren, ich würde mein Leben eher geben als das des Kindes und diese Hilflosigkeit, dass das nicht geht, das ist eine sehr bittere Erkenntnis. Gerade als Mediziner, ich habe ja nun schon viele Jahre auch in der Not-Aufnahme gearbeitet, Leben gerettet, Leben verloren und dann selber zu merken: Du kannst nichts tun, das ist als würde ein Feuerwehrmann nach Hause fahren und schon am Horizont sehen, dass es brennt und er weiß sofort: Das ist mein Haus. Und er steht da und hat kein Wasser.

Für den 40-Jährigen war es nicht die erste Begegnung mit dem Tod in der eigenen Familie: Als er vier Jahre alt ist, stirbt sein Vater an einem Herzinfarkt: 

Also ich habe ja mein ganzes Leben eigentlich darauf hingearbeitet diese Hilfslosigkeit, die ich kurz vor meinem 5. Geburtstag erlebt hab, als mein Vater vor meinen Augen zu Hause verstorben ist, nicht nochmal spüren zu müssen. Hab mich sehr unabhängig gemacht, hab Medizin studiert, wie so eine Superkraft oder eine Rüstung, die ich mir anlegen kann. Dieser Schmerz als Kind, den so früh zu erleben, der ist so groß und so lebensdefinierend, dass man sich nicht vorstellen kann, dass es einen schwereren Schmerz gibt. Und das gibt’s. Und das ist, wenn sich´s umdreht.

Das eigene Kind beerdigen - das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Trotzdem sitzt mir bei unserer Begegnung ein Johannes Wimmer gegenüber, der Humor hat, der gestalten will, der nicht am Tod seiner Tochter zerbrochen ist. Auch, weil er sich Zeit genommen hat, um zu trauern und mit anderen über seinen Schmerz zu reden:

Das ist dieses Annehmen. Es gibt genug Menschen, weil sie auch niemand zum Reden haben, niemand zum Verarbeiten, die schieben das immer vor sich her und sind nach zwei Jahren – ich merk das, so schreiben mir auch Leute auf Instagram usw., als wäre die Person gestern gestorben. Weil sie verharren in diesem Zustand.

Und deshalb teilt er in dem Buch, was er erfahren hat – viele Mütter, aber auch Väter melden sich bei ihm, die ähnliches erleben mussten:

Es hilft dem Gegenüber und es hilft auch oft mir. Dafür sind Menschen da – Menschen brauchen Menschen, und wenn wir nicht miteinander reden, das passiert immer mehr, dann rutschen wir in eine Einsamkeit, und Einsamkeit ist sogar medizinisch nachweislich nicht gut – wir brauchen uns.

Trauern muss aus der Tabuzone raus, findet Johannes Wimmer:

Trauern heißt ja nicht, mit einer Kiste Taschentüchern komplett verheult im abgedunkelten Zimmer in ner Ecke zu sitzen – das sind so Klischees, jeder Mensch trauert anders. Ich bin davon überzeugt: Trauer ist so negativ behaftet – Trauer ist aber eigentlich ja die Arbeit und das Auseinandersetzen und der Prozess aus dem Schmerz herauszukommen und dafür zu sorgen, dass der Schmerz nicht zu Leid wird.

Ganz wichtig: hier sollte das Umfeld auch nie urteilen. Johannes Wimmer ist nach Maximilias Tod mit ganz sensiblen Sensoren unterwegs. Schon kleine Gesten und gute Worte haben ihm geholfen. Er glaubt: Jede und jeder kann mit Empathie und offenen Ohren unterstützen:

Dann hilft es schon sehr, wenn jemand fragt, nicht nur „Wie geht es dir?“, sondern sich auch die Zeit nimmt das anzuhören und diese Last auch zu einem gewissen Teil mitzutragen.

Ich treffe den Fernseharzt Johannes Wimmer in seiner Heimatstadt Hamburg. Hier in seinem Studio in Altona produziert er Gesundheitsvideos für die sozialen Netzwerke. Auch in Heidelberg hat er schon gedreht: Gemeinsam mit dem Kindertumorzentrum. Vor drei Jahren ist seine eigene Tochter an Krebs gestorben. Wie haben Verwandte, Freunde, Nachbarn ihm in dieser Zeit geholfen?

Das Schlimmste ist der Satz „Meld dich, wenn ich irgendwas tun kann“. Helfen tut, wenn jemand sagt: Ich kann mir vorstellen, dass euer Kühlschrank leer ist – soll ich euch mal was einkaufen? Wie sieht es denn bei euch zu Hause aus, soll ich mal durchputzen? Kann ich die Kinder zum Fußballtraining fahren? Also ganz konkret anbieten.

Ganz konkret – das ist auch die Hilfe einer Seelsorgerin. Pfarrerin Susanne Zingel ist in den schlimmsten Stunden für die Familie da, tauft die Tochter vor einer Not-OP auf den Namen Maximilia, hält die Situation mit aus. Für Johannes Wimmer, katholisch, und seine evangelische Frau Clara eine echte Stütze:

Also Susanne Zingel ist eine begnadete Seelsorgerin, sehr belesen, witzig, eine gute Rednerin, also ein Mensch, wo ich wirklich eine große Dankbarkeit verspüre, dass ich sie überhaupt kennen darf, ihre Predigten hören darf. Und dass sie in den Momenten für uns auch da war und in der Gluthitze sich in den Zug gesetzt hat, um uns beizustehen. Und das auch mit einer gewissen Religiosität zu tun hat und einem Glauben.

Der Glaube – sehr vorsichtig wird der sonst so wortgewandte Johannes Wimmer, als wir über ihn sprechen. Als Kind hat er seinen Vater und als Vater hat er sein Kind verloren. Er kennt auch die Wut gegenüber Gott. In unserem Gespräch nennt er das Leben immer wieder ein Geschenk. Vor der Not-OP flüstert Johannes Wimmer seiner Tochter ins Ohr: „Du darfst gehen. Grüß meinen Papa von mir.“ Sein Glaube hat viel mit dem zu tun, was er an Mitmenschlichkeit in seinem Leben erfahren hat. Und er glaubt, dass sich darin auch etwas Göttliches zeigt: 

Der Glaube besteht für mich aus dem, was zwischen Menschen passiert und Susanne Zingel hat das so schön gesagt: Wenn zwei Menschen im Raum sind, sind das ja nicht nur X-Liter Wasser, bisschen Calcium und noch ein bisschen Collagen, sondern da passiert ja was und da sagt sie zum Beispiel „Das kann man als Heiligen Geist beschreiben“. Da passiert irgendwie mehr. Das ist ja auch das, was uns abhebt von dem Rest der Natur. Das Bezaubernde an uns Menschen ist und ich würde auch sagen, das, was dem Göttlichen am nächsten kommt, ist das Miteinander.

Ein wunderschöner Gedanke, finde ich. Das passt auch dazu, wie er seine Berufung als Mediziner versteht: nicht nur mit Fachwissen, sondern auch menschlich für den Patienten da zu sein. Und sei es digital in Videos, die teilweise millionenfach geklickt werden. Der Hanseat ist eine ehrliche Haut und lässt auf seinen Kanälen auch das Schwere nicht außen vor, weil es zum Leben dazugehört:

Und wenn man versucht – merkt man heute in den sozialen Medien – nur das Positive darzustellen, tut man sich selbst keinen Gefallen und anderen Menschen schon gar nicht.

Ich glaube: Einen großen Gefallen tut Johannes Wimmer durch seinen offenen Umgang mit Trauer allen, die einen lieben Menschen vermissen und an deren Gräbern stehen – wie heute an Allerheiligen.

*Dr. Johannes Wimmer: Wenn die Faust des Universums zuschlägt, Gräfe und Unzer, München 2021

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29OKT2023
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Weiss_Mira Foto: Joel Weiss

Mira Weiss ist Studentin, Unternehmerin und Influencerin. Ich treffe sie zum Interview am Institut für Medienwissenschaften in Tübingen, wo sie studiert. Mira Weiss hat vor 5 Jahren den Instagram-Kanal „herzstärkend“ gegründet, aus dem mittlerweile auch ein kleines Unternehmen erwachsen ist. Und Mira Weiss erzählt mir, wie es dazu kam:

Herzstärkend ist tatsächlich aus dieser Motivation geboren, dass ich sehr viel darüber nachgedacht habe, was Instagram für ein Einfluss auf mich und meinen Selbstwert hat und ich eben Instagram oft als Ort wahrnehme, der negativen Einfluss auf den eigenen Selbstwert hat und dann dachte ich: Ich möchte einen Ort schaffen auf Instagram, der den Selbstwert bestärkt, der junge Frauen ermutigt und auch empowered, dass sie sich stark fühlen und Dinge reißen können.

Ein Jahr nach Start holte Mira Weiss ihre Schwester Luka und ihre Freundinnen Hanna, Lea und Josefine ins Projekt dazu. Auch wenn Sie sehen, dass Sie mit ihrer Arbeit Einfluss auf junge Menschen haben, wollen sie weniger belehren, sondern vor allem ermutigen.

Uns ist wichtig, dass wir keine keinen dogmatischen Glauben vermitteln, sondern in erster Linie Glaube vermitteln als Zusagen und Sprüche, die wir aus der Bibel lesen oder in der Beziehung mit Gott quasi erleben, dass wir diese Zusprüche weitergeben. Und das hat wenig damit zu tun, dass wir konkret sagen, wie der Glaube gestaltet werden soll.

Wenn Gott im eigenen Leben vorkommt, dann ist das für Mira und ihre Mitstreiterinnen bereichernd, vielleicht sogar befreiend. Auf ihrem Instagram-Kanal kann man das miterleben.

Herzstärkend ist auf der einen Seite ein Instagram-Kanal, auf dem wir Inhalte teilen rund um die Themen christliche Spiritualität und Kreativität und auch Nachhaltigkeit und die Dinge, die uns so politisch, gesellschaftspolitisch beschäftigen und auf der anderen Seite ein Unternehmen. Und wir entwickeln und verkaufen und vertreiben Produkte rund ums Thema Spiritualität und Kreativität. Wir haben Production-Partner in Indien und verstehen uns als Social-Business. Wir wollen Produkte entwickeln, die einen Mehrwert für diejenigen haben, die die Produkte produzieren und für unsere Kundinnen.

Produkte rund ums Thema Spiritualität und Kreativität – das sind zum einen Stifte zum kunstvollen Schreiben, Postkarten, Plakate, Notizbücher und Kalender. Fair produziert und gehandelt. Gerecht eben, mit Respekt vor dem Wert der Arbeit. Ein Weg, ihre christlichen Überzeugungen zu leben.

Mich hat an herzstärkend fasziniert, wie offen und transparent die jungen Frauen arbeiten. Auch als sie im Team um Glauben und Meinungen intensiv diskutieren, sprechen sie darüber in den sozialen Medien. Von Beginn an waren sich die fünf jungen Frauen bewusst, dass sie sehr unterschiedlich sind und das schwierig werden könnte.

Wir hatten dann so unterschiedliche theologische Meinungen und uns waren so unterschiedliche Themen wichtig, dass unsere gegenseitigen Grenzen so groß waren und so stark waren, dass wir uns eigentlich nur noch ausgebremst haben. Also am Ende hat keiner mehr irgendwas gesagt, weil wir uns in dem Team nicht mehr wohlgefühlt haben. Und gleichzeitig war es uns immer ein riesen Anliegen. Das auszuhalten und diese Spannung auch zu leben und das gemeinsam zu schaffen.

Nach einem langen Prozess und intensiven Gesprächen trennen sich Lea und Josefine, zwei der Mitglieder von herzstärkend vom Projekt. Ein Scheitern?

Es fühlt sich immer mal wieder ein bisschen nach Scheitern an, gerade weil mein Ideal so hoch ist, dass wir das doch schaffen, gemeinsam. Und ich sehe immer irgendwie so uns als Gesellschaft, dann als großes Ganze, dann denken wir ja, wenn, wenn wir es im Kleinen nicht schaffen, zusammenzuarbeiten, dann schaffen wir es auch nicht im Großen. Und das müssen wir üben und das kostet was.

Andererseits war die neue Entwicklung aber auch ein notwendiger Schritt und die richtige Lösung. Trennung ja – aber trotzdem bleiben die jungen Frauen freundschaftlich verbunden. Die Trennung lässt Mira Weiss nicht aufgeben, am Ideal der Einheit festzuhalten.

Weil wir das hinbekommen haben, in Freundlichkeit, in Respekt miteinander und vor allem mit sehr viel Empathie uns zu trennen. Deswegen würde ich auch sagen Einheit funktioniert, weil wir immer noch eine Einheit sind und wir im Privaten diese Spannung aushalten können, wenn wir miteinander im Gespräch sind. Wir hatten, so große Diskussionen, aber das hat funktioniert, weil wir so diesen menschlichen Blick aufeinander hatten und immer wussten und diese Grundannahme hatten, dass mein Gegenüber die Dinge in Liebe tut und vor allem positive Absichten hat.

Ob das auch ein Modell für den Umgang mit Spannungen unserer Gesellschaft sein kann. Mira Weiss will es auf jeden Fall versuchen. Und positiv und mutmachend auf ihrem Kanal „herzstaerkend“ davon erzählen. Trotz aller Probleme und trotz allem Streit in der Gesellschaft. Mira Weiss hält an ihrem positiven Menschenbild fest. Auf meine Frage, ob sie Krieg und Gewalt nicht daran zweifeln lassen, antwortet sie. 

Ich weiß auch, dass der Mensch böse ist und schlecht ist. Aber es ist auch für mich ein bisschen eine Coping-Strategie und ein Trotzen, dass ich sage: Nein, der Mensch ist gut und ich habe die Hoffnung, dass er gut ist, und ich glaube an das Gute im Menschen. Diese Glaubenssätze - sich das einfach zuzusagen, dass der Mensch gut ist - ist konstruktiver als alles andere.

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22OKT2023
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Ralf Knoblauch Foto: Johanna Vering

… und mit Ralf Knoblauch. Der aus einem Hobby ein besonderes Lebensprojekt aufgebaut hat: er haut aus alten Eichenholzblöcken Königsfiguren. Die sehen nicht aus wie die Royals, mit schicken Klamotten und Juwelen. Es sind schlichte, freundliche Königinnen und Könige aus Holz.
Warum eigentlich Könige?

Dieses Motiv des Königs oder der Königin hat mich immer schon angesprochen. Ich hab im Urlaub mal vor vielen Jahren ein schweres Stück Treibholz gefunden in Kroatien und da war für mich ein König drin. Ich hab mir gesagt, den holst du jetzt in drei Wochen einfach da raus.

Ralf Knoblauch geht’s um das Thema Würde! Er arbeitet als Diakon in einem sozialen Brennpunkt in Bonn und erlebt dort tagtäglich, wie die Würde von Menschen mit Füßen getreten wird. Er trifft immer viele Leute, die auf der Straße leben. Wie kann jetzt so ein Holzkönig Menschen zeigen, dass es um ihre eigene Würde geht?

Ganz konkret, indem ich diesen Menschen den König oder die Königin einfach in die Hand drücke und gucke, was passiert. Und in dieser Berührung allein schon und in diesem offen herzlichen Gesichtsausdruck entsteht relativ schnell bei den vielen Menschen eine Kommunikation. Ja, letztlich spiegeln sie dann in diesem Augenblick: du bist auch ein König oder eine Königin wie ich, wie jeder.
Das verändert natürlich nicht seine Lebenssituation von jetzt auf gleich, aber es lässt sich Rausbrechen für einen Augenblick in eine andere Wahrnehmung. Und da setze ich dann natürlich auch in meiner Rolle als Seelsorger an. Zu gucken, was kann ich dir tun oder wo möchtest du vielleicht, dass ich dir helfe.

Und dann kann Ralf Knoblauch was tun. Er ist von der Kirche ganz konkret da und hilft: er hört zu, macht Kontakte oder geht mit auf Wohnungssuche. Die Königsfiguren sind dafür oft Gesprächsöffner. Auch weil sie nicht aussehen, wie ich mir eine Königin so klassisch vorstelle.

Die Könige von mir, die haben keine Macht, die wollen auch nicht im Mittelpunkt stehen, die wollen nicht regieren, die sind alle zurückgenommen, ein gerades Rückgrat. Sie sind sehr stark bei sich selber, in sich gekehrt.
Die Gesichtsmimik ist eigentlich das entscheidende: Auge, Nase, Mund. Deswegen immer dieses leichte Grinsen, Schmunzeln im Gesicht. Aus einer Begegnung mit einem König muss man immer positiv gestimmt herausgehen.
Ja, und dann spiele ich halt mit der Symbolik der Krone. Die muss nicht immer auf dem Haupt sein, die kann auch schon mal danebenliegen, zu groß sein, zu klein sein. Die Königinnen und die Könige tragen immer ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Das ist meinerseits eine Anspielung auf die Taufwürde. Dem Täufling, der Priesterin, der Königin, wird in der Tradition das weiße Kleid übergezogen.

Mit den Figuren ist eine richtige Bewegung entstanden. Viele nehmen sie mit an besondere Orte – schöne und schreckliche.

Es kann natürlich so sein, dass mit dem König gewandert wird. Dass der König bei kranken Menschen in Hospizen am Sterbebett steht, dass der König bei Exerzitien, bei geistlichen Tagen mit unterwegs ist, dass der König nach Santiago pilgert.

Ein großes Projekt waren die Königinnen und Könige am Frankfurter Flughafen. Überall waren sie ausgestellt und haben auf die Menschenwürde aufmerksam gemacht. Tolle Idee an diesem Ort, wo es um Abschied, um Wiedersehen, aber auch um Flucht, Vertreibung und Abschiebung geht.
Die Könige sind auch im Krieg: kurz nachdem der Ukrainekrieg ausgebrochen ist, waren Könige in Kiew und auch nach dem Erdbeben in Syrien waren schnell welche dort. Irgendwer meldet sich immer und nimmt eine Figur mit.
Manche Figuren kann Ralf Knoblauch übrigens auch nicht aus den Händen geben. Er ist zu stark mit ihnen verbunden. Ralf Knoblauch hat eine feste Routine, wie die Könige entstehen…

…von montags bis freitags in einer Zeit von 5 bis 06:00 Uhr, wo ich mich eine Stunde dem Thema aussetze. Um 06:00 Uhr lasse ich alles stehen und liegen und mein Berufs- und mein Familienalltag beginnt. Und am darauffolgenden Morgen setze ich letztlich genau da an, wo ich aufgehört habe. So dass das ein kontinuierlicher Prozess ist, der im Grunde nie unterbrochen wird.
Diese Stunde ist für mich auch im weitesten Sinne eine Form des Gebetes.

Die Königsfiguren sind politisch. Er drückt mit ihnen sehr klar aus, worum es ihm geht: alle Menschen sind gleichwertig! Das ist gerade in meiner katholischen Kirche ein Riesenthema, wenn es zum Beispiel um Frauen oder queere Menschen geht.

Letztlich sind alle aus dem gleichen Holz geschnitzt.
Ich weiß, dass viele, viele Kollegen, Kolleginnen aus solchen Königen und Königinnen viel Kraft schöpfen, um überhaupt noch in dieser Kirche arbeiten zu können.
Innerkirchlich habe ich mich auch mit diesen Königen sehr klar positioniert. Also sie sind sehr stark mit der Maria 2.0 Bewegung unterwegs. Sie sind
auch bei vielen Menschen von out in church dabei. Also das ist mir einfach wichtig, die Gleichwürdigkeit aller Menschen.

Menschenwürdig leben: dafür schnitzt und arbeitet Ralf Knoblauch jeden Tag. Das geht für ihn nicht ohne seinen Glauben. Gott begegnet ihm in jedem Menschen - davon ist er überzeugt. Dazu passt auch seine persönliche frohe Botschaft zum Schluss.

Meine Botschaft ist, die den Menschen zu spiegeln -da meine ich jetzt auch wirklich jeden Menschen: du hast Würde. Du hast Würde, die dir keiner nehmen kann. Wie gut und schlecht es dir auch immer geht im Moment. Werd dir dessen immer wieder neu bewusst!

 Weitere Infos unter www.ralfknoblauch.de

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15OKT2023
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Gerd Humbert Foto: privat

Peter Annweiler trifft Gerd Humbert, Referent für Männerarbeit

Teil 1: was die da machen

Der Mann brennt für seine Arbeit. Das spüre ich sofort, als ich Gerd Humbert besuche. Der Referent für Männerarbeit zeigt mir gleich ein Foto mit lachenden und begeisterten Männern aus seiner letzten Gruppe. 

Das ist für sie ein Ort,.. ein Schutzraum, in dem sie sich zeigen können wie sie sind. In der Gesellschaft gibt’s eher so ein traditionelles Männerbild: wie Karriere, schnell, net zum Arzt, keine Schmerzen und auf keinen Fall Gefühle zeigen – und in diesem Schutzraum konnten die Männer auch grad ihre Gefühle zeigen, sie konnten ihre Verletzungen, ihre Schwächen, ihre Niederlagen zeigen – sie konnten aber auch ihre Erfolge zeigen.

Ich gebe zu: Zuerst denke ich an Klischées der 90er Jahre: Männer lernen Gefühle zeigen. Der bewegte Mann. Schwitzhütte und Lagerfeuer. Männergruppen als Antwort auf die Frauenbewegung. Und irgendwie dachte ich, in der Kirche gäbe es so was gar nicht mehr. Doch Gerd Humbert beweist mir das Gegenteil. Seit 15 Jahren macht der 62jährige Pfälzer Männerarbeit in der evangelischen Kirche. Und sein Feld „brummt“.  Vielleicht gerade durch die Krisen der vergangenen Jahre:  Vier Männergruppen leitet er in Baden und der Pfalz und dazu noch drei Onlinegruppen. Mittlerweile hat er 60 Männer zu Leitern von Männergruppen ausgebildet.

Ich merke, dass die Krisen auch Fragen, Irritationen auslöst und die Männer auch so Schutzräume suchen wo sie auch mal ihre Fragen und Ängste besprechen können ohne gleich immer den Starken spielen zu müssen. Und je mehr Krisen es gibt, desto größer ist das Bedürfnis nach kleinen Gemeinschaften, die sich gegenseitig unterstützen.

Gesellschaftlich nimmt die Sehnsucht nach „starken Männern“ wohl eher wieder zu: Dass da einer mal draufhaut und dann alles wieder gut wäre. Wie wichtig, wenn Männer da anders mit Krisen umgehen lernen

Manche Männer kommen auch vor oder nach einer Krise. So die Hauptthemen sind … gesundheitliche Problematiken, die man als Mann ja hat, so mit Herzinfarkt oder Übergewicht…. das zweite Thema ist so der Druck aus der Arbeit… Und das dritte Thema ist so das ganze Beziehungsthema, mit Partnerin oder Kindern und Alleinleben – alles, was damit zusammenhängt.

Wir Männer reden zu wenig. Über Gesundheit, Schwächen und Beziehungen. Das kenne ich ja auch von mir – und gerade aus der Seelsorge weiß ich, wie wichtig es ist, nicht nur den Gesunden und Starken zu mimen, wenn es innen drin ganz anders aussieht.
Deswegen führt kirchliche Männerarbeit auch zu dem Punkt, wo Schwachheit keine Schande ist. Das ist für mich durch und durch ein biblisches Motiv: Im Durchleben von Schwachheit reifer und stärker zu werden. Gerd Humbert formuliert das so:

In den Männergruppe stärken wir unsere Persönlichkeit und gehen dann raus und übernehmen Verantwortung. Im Nahbereich ist das die Familie, aber auch im politischen Bereich. Wir sorgen net nur für uns selbst, dass es uns noch besser geht als uns eh schon geht. Wir gehen gestärkt raus, um Verantwortung zu übernehmen …im Nah- und Fernbereich – das ist mir ganz wichtig.

Teil 2: wie sich das auswirkt

Gerd Humbert macht Männerarbeit in der evangelischen Kirche. Für den Religionspädagogen und Soziotherapeuten erreichen die traditionellen kirchlichen Formen zu wenige Männer. Deshalb bietet der Pfälzer Männergruppen an – und er scheint der richtige Typ dafür zu sein. Seine sanfte und zugleich kraftvolle Art – irgendwie Kumpel zugleich Leiter – zieht viele Männer an. In seinen Gruppen geht es um eine tragende Gemeinschaft – und weniger um den Einzelkämpfer. Ganz gegen den Trend macht Gerd Humbert überraschende Entdeckungen.

Die Gruppe ist so intensiv, dass man denkt: Was ist denn eben passiert? … Da gibt es so ne Verbundenheit auch bei schweren Themen, wo wir uns … tragen und unterstützen. Das ist für die Männer oft ne spirituelle Erfahrung, wo sie sich fragen: Das war jetzt aber … eine größere Energie … So ne Gruppe ist wie ne kleine Lebensgemeinschaft oder wie ne Gemeinde in der Kirche, die sich über ihr Leben austauscht.

Der echte Austausch und die gegenseitige Unterstützung. Scheint unter Männern so selten, dass es ein spirituelles Erlebnis sein kann. Vielleicht gerade bei denen, die sich selbst als kirchenfern einschätzen. Gar nicht so selten erlebt Gerd Humbert, dass gerade die sagen:

Gerd, sprich doch mal n Gebet. … dass ich dann am Schluss noch ein freies Gebet formuliere und merke dann: Es ist eine große Sehnsucht nach Spiritualität, die ich aber nie missionarisch einbringe, sondern es kommt immer aus der Gruppe.

Der Protestant trägt eher einen „klassischen“ Lebenshintergrund in seine Gruppen: Seit 30 Jahren verheiratet, zwei erwachsene Töchter, keine Trennung. Dennoch kommen ganz unterschiedliche Männer in seine Gruppen: Väter und Kinderlose, Gläubige und Zweifler, Sportler und Unbewegliche. Da geht es um viel mehr als um „Vater, Mutter, Kind.“ Es ist Gerd Humbert wichtig, mir zu versichern:

Wir sind offen auch für … neue Geschlechterthemen. Es sind ein paar schwule Männer dabei. Und wir sind auch offen für Männer, die ne neue Orientierung suchen und finden. Wir stellen uns auch diesen Fragen.

Und so kann ich ihm abschließend die Frage stellen, ohne die keine Sendung keine über Männer enden kann – und die auch zum heutigen „Männersonntag“ in der evangelischen Kirche passt: Wann ist ein Mann ein Mann? - Gerd Humbert:

Ein Mann ist ein Mann, wenn er auf dem Weg ist, wenn er sich weiter entwickelt, wenn er wächst. In der Natur haben wir Wachstum. Da gibt’s manchmal trockene Phasen und feuchte Phasen, wo wir uns weiter entwickeln. Und für mich ist ein Mann ein Mann, wenn er auf den Weg geht und sich weiter entwickelt.

Mehr Infos zu Gerd Humberts Gruppen:
www.maennernetzpfalz.de

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08OKT2023
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Tomáš Halík Foto: Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Manuela Pfann trifft den Priester und Soziologen Tomáš Halík

Wie geht es weiter mit der Kirche, vor allem mit der katholischen Kirche? Hat sie überhaupt eine Zukunft? Darüber beraten in Rom gerade Bischöfe, Priester und Laien mit Papst Franziskus. Sie treffen sich in diesem Monat zur sogenannten Weltbischofssynode. Ich habe mich mit dem tschechischen Priester und Soziologen Tomáš Halík getroffen, um ihm genau diese Fragen zu stellen. Denn er ist ein scharfsinnigerer Beobachter - von Kirche und Gesellschaft und von politischen Entwicklungen in Europa. Tomáš Halík sagt ganz klar, dass es schlecht steht um die katholische Kirche.

Die Geschichte der Kirche, das ist nicht nur ein Progress, das ist ein Drama. Aber jede Krise ist auch eine Chance zur Erneuerung. Und die heutige Krise der Kirche, die so tief ist, ist auch eine Herausforderung.

Er redet gar nicht groß drum herum als ich ihn frage, was denn in und mit der Kirche passieren muss.

Ja, alles muss aussterben, und das ist ganz normal. Und das war schon ein paar Mal in der Geschichte der Kirche eine Notwendigkeit für eine große Reform.

Genau davor stehen wir jetzt, sagt er. Vor der großen Reform. Kleine Reparaturen helfen nicht mehr.

Also dieser Skandal mit dem Missbrauch, das war nur ein Aspekt von einer Krankheit des ganzen Systems. Papst Franziskus nennt diesen System Klerikalismus. Klerikalismus ist ein Missbrauch von Macht und Autorität.

Tomáš Halík kennt Papst Franziskus – und er schätzt ihn. Ich möchte von ihm wissen, ob der Papst ein Reformer ist.

Papst Franziskus ist für mich eine mutige prophetische Figur. Er hat, wie der heilige Franziskus, den Ruf Gottes gehört: „Franziskus, geh und erneuere mein Haus“ und auch der Franziskus von Assisi meinte zuerst, er sollte eine kleine Kapelle in Assisi erneuern. Aber dann hat er begriffen, dass seine Aufgabe ist, die ganze römische Kirche zu erneuern.

Ob der Papst das wirklich schaffen kann? Ich bin skeptisch. Was denkt Tomáš Halík über die Weltbischofssynode, die ja in dieser Woche in Rom begonnen hat. Kann die ein Teil der großen Reform werden?

Eine synodale Kirche, das ist die Kirche für die reife Epoche der Kirchengeschichte. Synodalität, das ist ein gemeinsamer Weg. Und wir brauchen die Kirche als eine Reisegesellschaft, eine communio viatorum. Wir sind alle unterwegs und wir brauchen die anderen, uns bereichern mit ihren Visionen, Erfahrungen usw.

Ich spreche mit dem katholischen Priester und Soziologen Tomáš Halík. Er beobachtet die Entwicklung der Kirche ganz genau. Dabei fällt mir etwas positiv auf: Ich habe nicht den Eindruck, dass er versucht, die katholische Kirche zu schützen, irgendetwas zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Vielleicht liegt es daran, dass seine Ausbildung zum Priester unter besonderen Umständen geschehen ist. Tomáš Halík hat heimlich in Prag Theologie studiert und war Priester der sogenannten Untergrundkirche. Das war zu Zeiten des Kalten Krieges. Wer da in den Ostblock-Staaten mit der Kirche zu tun hatte, der wurde verfolgt. Er selbst sieht diese Umstände heute positiv:

Gott sei Dank, ich war nie im Priesterseminar. Ich meine, viele junge Kandidaten waren in Priesterseminaren zur Gehorsamkeit im Sinne von einem Konformismus.

Und noch etwas hat ihn immer von einem „normalen“ Priester unterschieden. Weil er eben nicht offiziell als Priester arbeiten durfte, brauchte Tomáš Halík einen zweiten Beruf, um Geld zu verdienen.

Ich hatte immer meinen Zivilberuf. Ich war immer in der Gesellschaft, auch von Nichtgläubigen oder Suchenden. Also, ich kenne die Sprache des Menschen außerhalb der Kirche, ich kenne ihre Probleme.

Und er weiß, wovon er spricht. Als Psychotherapeut hat er unter anderem mit Drogensüchtigen gearbeitet.

Mittlerweile ist Tomáš Halík 75 Jahre alt. Er lebt einen sehr politisch engagierten Glauben. Geprägt haben ihn da sicher die Jahre des politischen Umbruchs in seiner Heimat.

Mein Glaube ist eine Einladung zum reflektierten Glauben. Glaube kann die kritischen Fragen integrieren, viele offene Fragen, viele Paradoxe ertragen. Also Glauben ohne Denken und kritisches Denken ist sehr oberflächlich. Aber Glaube ohne Zweifel kann zum Fundamentalismus oder Bigotterie führen.

So ein Glaube braucht aber mehr denn je eine Kirche, in der offenes und kritisches Denken möglich ist. Für Tomáš Halík ist klar, wie eine künftige Kirche aussehen muss:

Die Kirche von morgen muss eine wirklich ökumenische Kirche im weiteren und tieferen Sinne des Wortes sein. Eine Gemeinschaft mit den nicht-katholischen Kirchen, aber auch mit vielen Suchenden in unserer Welt.

Zum Abschluss unseres Gesprächs fasst er seine aktuelle Sicht auf die Lage der katholischen Kirche nochmals mit einem eindrücklichen Bild zusammen.

Also, die synodale Reform der Kirche besteht nicht nur in Änderung von den äußeren Strukturen. Das wäre nur Verschiebung von Liegen auf der Titanic. Also wir müssen neue Formen suchen, die sind flexibel, und die können auch helfen, die Identität des Glaubens neu entdecken.

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