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Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität, die Option für die Armen, und jetzt auch noch Nachhaltigkeit. Klingt fast wie die Schlagworte einer NGO, die sich um die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft sorgt. Oder aber wie die ethischen Grundlagen der Vereinten Nationen.
Aber nein: Das sind die Grundprinzipien der „katholischen Soziallehre“. Wo viele eher Tradition und Anweisungen zum persönlichen moralischen Verhalten erwarten, gibt es eben diese sehr auf die Gesellschaft ausgerichtete, sozialpolitische Ethik. Und das ausgerechnet bei den Katholiken? Gerade weil dies vielen so unerwartet erscheint, nennen manche die katholische Soziallehre auch „das bestgehütete Geheimnis der Kirche" - dabei hatte sie einen wesentlichen Einfluss darauf, wie in der Bundesrepublik nach dem Krieg die „Soziale Marktwirtschaft“ entwickelt wurde.
Alles begann im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung die Gesellschaft auf den Kopf stellte. Fabrikarbeit, bittere Armut, Kinderarbeit – viele Menschen standen am Rand des Existenzminimums. Papst Leo XIII. meldete sich 1891 mit seiner Enzyklika Rerum Novarum zu Wort: Er forderte faire Löhne, Schutz der Arbeiter und dass der Staat soziale Verantwortung übernimmt. Spätere Päpste und das Zweite Vatikanische Konzil haben die Lehre weiterentwickelt und daraus einen Kompass gemacht: Wie können Menschen fair, solidarisch und verantwortungsvoll miteinander leben?
Und heute? Die Lehre hat nichts von ihrer Kraft verloren, auch wenn wir inzwischen in einer globalisierten Welt leben. Die Erde ist wie ein Dorf geworden. Ungleichheit, Armut, Klimakrise, Migration und soziale Spaltung – das sind Probleme, die kein Land mehr allein lösen kann. Die katholische Soziallehre passt dabei zu einem Motto, das aus anderen Zusammenhängen bekannt ist: „think global, act local“. Das Grundprinzip der Subsidiarität bedeutet nämlich, dass Probleme möglichst auf der niedrigsten Ebene gelöst werden sollen, also dort, wo die Betroffenen direkt handeln können. Gleichzeitig müssen wir global denken, über unsere eigenen Interessen hinaus, jenseits von Nationalismus und Slogans wie „America first“. Eine nachhaltige Zukunft kann nur gemeinsam gestaltet werden, wenn wir uns an Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität und der Option für die Armen orientieren. Weltweit!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43122„Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“. So heißt ein lesenswertes Buch des Philosophen und Psychoanalytikers Jonathan Lear. Darin beschreibt er Hoffen als einen mutigen Akt, bei dem man sich auf eine unbekannte Zukunft einlässt.
Mir geht es oft anders: Ich fürchte die unbekannte Zukunft, und ich habe das Gefühl, dass Angst in diesen Tagen überall die Stimmung beeinflusst. Die Gefahr einer Klimakatastrophe ist real, und viele Menschen zeigen nur wenig Bereitschaft, ihr entschlossen zu begegnen. Gleichzeitig beobachten wir weltweit den Aufstieg rechtspopulistischer Politiker, und auch bei uns scheint diese Tendenz zuzunehmen. Ich kann kaum glauben, dass bewährte Prinzipien der Demokratie Stück für Stück untergraben werden. Das Gemeinwohl, der Ausgleich, Toleranz und Freiheit – alles gerät unter Druck! Es ist deprimierend. Wie aber komme ich aus der Frustration und Lähmung heraus, die sich bei mir eingestellt haben?
Mir bleibt nur die radikale Hoffnung. Aus christlicher Sicht gründet sie auf dem Glauben an Gott, der verspricht, uns stets beizustehen und Kraft zu schenken. Hoffnung ist dabei keine passive Erwartung, sondern eine aktive Haltung: Ich kann beten, meine Sorgen an Gott abgeben, auf seine Zusage vertrauen und gleichzeitig Gemeinschaft und Unterstützung bei Freunden suchen. Hoffnung ist zudem enttäuschungserprobt und eine spirituelle Trotzkraft, die dazu ermutigt, die Augen nicht vor der Realität zu verschließen, sondern auf Gottes Ankunft und das kommende Heil zu vertrauen und – das ist ganz entscheidend – dort mit anzupacken, wo immer es mir möglich ist.
Hoffnung bleibt also nie inaktiv und unbeteiligt. Sie motiviert mich, aktiv Gutes zu tun, für Gerechtigkeit einzustehen und mein Leben zu gestalten – trotz aller Schwierigkeiten. Während Angst und Resignation mich auf das Negative im Hier und Jetzt fixieren, öffnet Hoffnung den Blick auf eine bessere Zukunft. Biblisch gesprochen: auf Erlösung, Heil und neues Leben. Sie mobilisiert meine Kräfte, lässt mich das Gute suchen und Veränderungen anstoßen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43121Sieben Weltwunder gab es in der Antike. Eines davon habe ich jetzt mit eigenen Augen gesehen. Ich meine den Tempel der Göttin Artemis in Ephesus. Zu sehen gibt es vor allem noch Teile von Fundamenten, Grundmauern und jede Menge Säulen. Aber ich habe auch eine Ahnung davon bekommen, was das einmal für eine prächtige Tempelanlage gewesen sein muss.
Artemis wurde in Ephesus vor allem als Göttin der Fruchtbarkeit und der Natur verehrt. Aber nicht die Verbindung mit dieser Göttin hat den Tempel so berühmt gemacht, sondern seine Größe und seine beeindruckende Architektur.125 Meter war der Tempel lang, 65 Meter breit. Die 127 Säulen waren jeweils 18 Meter hoch. Schlicht übermenschliche Ausmaße! Zumindest aus damaliger Perspektive.
Ich habe mich gefragt: Was wären denn heute unsere architektonischen Weltwunder? Das Empire State Building in New York? Der Taj Mahal in Indien? Das Ulmer Münster mit seinem höchsten Kirchturm der Welt? Die bauliche Größe allein kann es ja nicht sein! Eher ist es der imposante Gesamteindruck, der dazu führt, ein Bauwerk als Weltwunder zu apostrophieren. Vielleicht auch die Verbindung mit dem Himmel und der Welt der Götter, die über unseren eigenen Horizont hinausweist?
Ich finde, das eigentliche Weltwunder ist der Mensch selbst. Das hat der Apostel Paulus wohl auch so gesehen. „Ihr alle seid der Tempel Gottes!“, schreibt Paulus in Ephesus in einem Brief an die Christinnen und Christen in Korinth. Paulus hat fast drei Jahre lang in Ephesus gelebt. Er kannte den Tempel der Artemis. Aber am Ende muss er Ephesus verlassen, weil die Silberschmiede, die dort mit kleinen Artemis-Figuren ihr Geld verdienen, in ihm einen Konkurrenten sehen. Einen, der ihnen das Geschäft kaputt machen will, weil er für einen anderen Gott wirbt. Einen, von dem es keine Figuren gibt und dessen größter Tempel der Mensch selbst ist. Ein völlig anderes Geschäftsmodell! Dazu braucht es eher eine Haltung, ein Verhalten, das diesem Anspruch entspricht. Es braucht den Glauben an den einen Gott, dem ich recht bin.Wertvoll, weil Gott die Menschen zu seinem Ebenbild gemacht hat. Zu einem Tempel aus Fleisch und Blut. Auch mich. Das ist für mich das größte Weltwunder.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43136Der letzte Morgen im Hotel verlief nicht ohne Überraschung. Die Wärmebehälter am Frühstücksbuffet waren im Gegensatz zum Vortag leer! Das Buffet selber: deutlich abgespeckt. Fast schien es mir, dass sich auch die gewohnte Freundlichkeit des Servicepersonals etwas verbraucht hatte.
Kein Wunder! Die Badesaison war zu Ende! Und es war klar: Das Hotel geht in den Ruhemodus über und spiegelt so den Rhythmus des Lebens wider, das vom Wechsel und vom Übergang der Jahreszeiten geprägt ist.
Zu leben ohne diesen jahreszeitlich bestimmten Rhythmus, das geht nicht. Mein Leben ist immer auch saisonal geprägt. Gestaltet sich zwischen dem Wechsel von Temperaturen, von den Früchten und vom Gemüse auf meinem Teller. Seit fast einem Monat leben wir im astronomischen Herbst. Zwischen bunten Blättern und wärmender Mittagssonne - beide immer wieder bedrängt von Niesel, und am Morgen zusehends eingehüllt in Nebelschwaden. Ich gebe zu: Mir gefällt diese Abfolge. Die beiden Übergangsjahreszeiten sind für mich unverzichtbar. Deshalb gehören dem Frühling und dem Herbst meine besonderen Sympathien. Schon die Jahrtausende alte Zusage Gottes an Noah beschreibt diese Abfolge der Jahreszeiten: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören: Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Durch menschliche Eingriffe kommen heute allerdings sogar die Jahreszeiten aus ihrem Rhythmus. Die Traubenernte ist weitgehend abgeschlossen, deutlich früher als mir das aus meiner Kindheit in Erinnerung ist. Aber ganz aus der Welt hat der Mensch den Wechsel der Jahreszeiten noch nicht schaffen können. Gottseidank! Denn die Abfolge der Jahreszeiten ist ein Segen. Im Herbst wird der Garten winterfertig gemacht. Aber schon in wenigen Monaten geht der Kreislauf der Natur wieder von vorne los.
In diesem Wechsel keimt in mir ein Gespür für die Schöpfung auf. Und für den, der mir als Schöpfer so wichtig ist. Deshalb ist es am Ende gar nicht so schlimm, dass mich der Herbstmodus eines Hotels nicht einfach nur ärgert, sondern mich an den jahreszeitlichen Wechsel der Schöpfung erinnert. Aber der Blick aus dem Fenster oder ein kleiner Herbstspaziergang reichen dafür auch schon völlig aus.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43135Das hat mich dann doch ganz schön kalt erwischt! Mit einer15-köpfigen Reisegruppe habe ich die Ausgrabungsstätten in Pergamon besichtigt. Der einheimische Reiseführer sagt: „An der Stelle, an der Sie jetzt stehen, stand der antike Zeus-Altar.“ Und dann plötzlich in meine Richtung: „Ich denke, jetzt müssen Sie etwas sagen. Sie sind doch der Pfarrer!“ Gänzlich unvorbereitet, an einer Stelle, an der einst einem antiken Gott gehuldigt wurde, den ich auch nur aus den Sagen des klassischen Altertums kenne. Und von dem ich bisher nur vom Pergamonfries in Berlin zumindest eine Ahnung hatte. Und jetzt plötzlich die Erwartung einer Spontanpredigt an diesem Ort.
Was mir noch eingefallen ist: An einem Zeus-Altar wurde überhaupt nicht gepredigt. Da wurden Opferfeiern abgehalten, um den höchsten griechischen Gott milde zu stimmen. Ich habe kurz nachgedacht und habe dann über die Vielfalt der Religionen gesprochen. Über die Buntheit der Formen, mit Gott in Verbindung zu kommen. Und natürlich auch darüber, dass wir heute zum Glück versuchen, mit Menschen anderer Religionen ins Gespräch zu kommen. Damit Religionen Konflikte entschärfen. Und sie nicht zur Quelle von neuerlichen Auseinandersetzungen werden.
Im Nachhinein habe ich mir gewünscht, ich hätte mehr Zeit zum Überlegen gehabt. Gerne hätte ich nämlich auch davon gesprochen, wie froh ich bin, dass es in meiner religiösen Prägung keinen Himmel gibt, der nur ein Spiegelbild der vielfachen Beziehungsmuster auf der Erde ist. Neben Zeus und seiner Hera gibt es in der griechischen Götterwelt so viele Götter und Halbgötter, dass einem schwindlig werden kann. Dazu jede Menge Konflikte und Intrigen. Mir genügt der eine Gott, der „andere Götter neben sich“ nicht nötig hat und dessen Ebenbild der Mensch ist. Einen Gott, den es nicht in fernen himmlischen Sphären hält, weil es ihn zu den Menschen hinzieht. Wie gut, dass es auch in anderen Religionen Menschen gibt, denen ihre Mitmenschen, die Natur und der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit wichtig sind. Auch wenn sie sich in vielem von meinem Glauben unterscheiden. Den Austausch mit ihnen halte ich für wichtig. Um sich gegenseitig besser zu verstehen - in einer Haltung des Respekts, aber auch getragen von meinem eigenen Glauben. Aber vor einem Zeus-Altar muss ich hoffentlich so schnell nicht mehr reden!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43134Kiruna im äußersten Norden von Schweden: Dort steht eine der schönsten und berühmtesten Holzkirchen der Welt. In wunderbarem Rotbraun erstrahlt sie und sieht aus wie aus einem skandinavischen Bilderbuch. Unzählige Menschen besuchen sie Jahr um Jahr. Aber die Idylle ist bedroht. Durch den Bergbau ist die Stadt einsturzgefährdet. Nach und nach soll ganz Kiruna deshalb verlegt werden. Auch die Kirche ist gefährdet. Sie ist nicht nur schön, sie ist auch schwer: ganze 670 Tonnen bringt sie auf die Waage.
Die Menschen von Kiruna haben ihrer Kirche darum kurzerhand Räder angelegt, um sie zu verschieben. Fünf Kilometer weit sollte die Kirche rollen. Zwei Tage lang hat die Prozession gedauert. Meter für Meter hat sich die Kirche auf Rollen durch Kiruna bewegt. Viele Menschen haben das Spektakel vom Straßenrand aus beobachtet. Sogar in der Tagesschau wurde es gezeigt.
Jetzt ist die Kirche wortwörtlich verrückt. Mit einem Augenzwinkern könnte man sagen: Gott ist umgezogen. Vorausgesetzt natürlich, man hält ein Kirchengebäude für eine Adresse, an der Gott zu finden ist. Schon oft habe ich mich gefragt, ob es so etwas wirklich gibt: heilige Orte. Plätze, an denen Gott mehr zuhause ist als an anderen. Ich habe dazu ein durchaus vielschichtiges Verhältnis. Einerseits sind Kirchen als Gotteshäuser für mich Räume des Gebets, der Freude, auch zum Traurig sein. Auf jeden Fall sind sie Orte der Gottesbegegnung.
Andererseits glaube ich: Gott lässt sich nicht einschließen. Auch nicht in die allerschönste Holzkirche. Doch wo ist Gott dann zu finden? Ein christlicher Vorschlag lautet: in der Gemeinschaft. Jesus hat einmal gesagt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Gott lässt sich in der Gemeinschaft finden. Und so erlebe ich es auch: wenn ich mit anderen gemeinsam Gottesdienst feiere. Das macht auch den Kirchenumzug in Schweden um einige Tonnen leichter. Genau wie die Kirche ist auch Gott fünf Kilometer weiter zu finden. Nämlich dort, wo Menschen sich versammeln und Glaubenserfahrungen miteinander teilen. Sei es in der wunderbaren Holzkirche oder ganz woanders.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43111Häufig sind es ja gerade die kleinen Dinge, an denen man am meisten zu knabbern hat. Im Autoverkehr geblitzt zu werden, gehört bei mir zu diesen Kleinigkeiten. Nicht schon wieder! Erst ärgere ich mich über den schnellen Lichtblitz und dann mischt sich ein dumpfes Schuldgefühl in den Ärger. Ich fühle mich schlecht, weil ich diesen blöden, unnötigen Fehler gemacht habe. Manchmal löst es auch ein bisschen Scham in mir aus, weil ich ertappt wurde. Also versuche ich besonders darauf zu achten, nicht geblitzt zu werden.
Seit einigen Wochen steht in meiner Straße so ein großes dunkles Teil. Ein mobiler Blitzer. Und er steht ausgerechnet direkt vor der Kirche! Genau genommen wurde er natürlich nicht auf dem Kirchplatz platziert, sondern haarscharf daneben. Jedes Mal beim Vorbeifahren muss ich fast auflachen und gleichzeitig den Kopf schütteln. Oft habe ich schon gedacht: Das gibt`s doch nicht! Ausgerechnet vor der Kirche muss ich befürchten, für den Fehltritt auf dem Gaspedal bestraft zu werden. Frei nach dem Motto: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort!“
Diese Behauptung hat mich schon immer ein wenig befremdet. Als Kind habe ich dann überlegt, ob Gott dafür überhaupt Zeit hat bei all den vielen kleinen Fehlern, die die Leute andauernd machen. Und auch heute stoße ich mich an dem Satz. Genau wie an dem Blitzer vor der Kirche. Verstöße durch Geldstrafen zu tilgen, mag auf weltlicher Ebene funktionieren. Dort hat dieses System auch seinen berechtigten Ort. Bei meiner Beziehung zu Gott allerdings stößt das an seine Grenzen. Viel zu lange haben Kirchenmenschen in der Geschichte genau das gemacht: Den Leuten ihre kleinen Sünden aufgeschrieben und angerechnet. Viele andere haben aber als christliche Botschaft entdeckt: Gott ist nachsichtig. Gott verzeiht.
Mit diesem wunderbaren Gedanken bin ich aufgewachsen. Er ist Teil meiner tiefsten Überzeugung. Darum irritiert mich auch ein Blitzer vor der Kirche. Mit diesem Ort verbinde ich Freiheit. Hier erzähle ich Gott von dem, was auf mir lastet. Großes und Kleines. Und ich glaube: Gott vergibt mir und schaut trotz meiner Fehltritte freundlich auf mich.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43110Vor meinem Supermarkt stehen mehrere große Steinpoller nebeneinander. Dicke Zylinder mit einer Kugel obendrauf. Als ich letztens Einkaufen war, turnte ein kleines Mädchen in der Abendsonne auf einem dieser Poller herum. Sie muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Ihr Vater stand etwas ungeduldig etwa drei Meter weiter weg vor dem Supermarkt und schien auf die Tochter zu warten.
Als ich vorbeigelaufen bin, hat das Mädchen auf den nächsten Poller gezeigt und laut zu ihrem Vater gerufen: „Guck mal, Papa, gleich spring ich da rüber!“ Sie sah entschlossen aus. Ziemlich laut hat dann aber ihr Vater zurückgerufen: „Nein, lass das mal! Das ein viel zu großer Schritt! Das seh ich doch von hier.“
Wie es letztlich zwischen Vater und Tochter und den Steinpollern ausgegangen ist, weiß ich nicht. Aber die Bemerkung des Vaters ist mir hängengeblieben.
Viel zu große Schritte. Die kenne ich. Oder zumindest ziemlich große Schritte. Das kann viele Entscheidungen betreffen. Erst kürzlich kam dieses Angebot für eine neue Stelle. Das hat mich gelockt, aber natürlich habe ich mich auch gefragt: kann ich die Anforderungen erfüllen? Traue ich mir das zu?
Ich habe mir viele Gedanken gemacht. Hin und her überlegt. Ich habe das Risiko abgewogen. Darum kann ich bei der Supermarktszene den Vater des Mädchens so gut verstehen. Denn: Lebenserfahrung erweitert Risikoabschätzung. Er hat gelernt, was alles schiefgehen kann, wenn der Schritt zu groß ist. Das ist lebenswichtig. Genauso anrührend war allerdings auch, wie das kleine Mädchen nach vorne bis zum nächsten Steinpoller geblickt hat. Furchtlos. Lebenszugewandt. Sie hat sich den Schritt zugetraut.
In der Bibel gibt es einen genialen Spruch. Er heißt: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen!“ Ich verstehe ihn nicht als Aufforderung zum Leichtsinn, das Risiko soll durchaus im Blick bleiben. Für mich als Christin steckt in diesem Satz eine große Kraft. Sie ermutigt mich. Ich glaube: Mit diesem Gott an meiner Seite kann ich es wagen. Auch die großen Schritte.
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In einer alten jüdischen Geschichte fragt der Rabbi: „Wann beginnt der neue Tag?“ Blöde Frage, kann man denken, ist doch klar: wenn die Nacht rum ist, wenn der Wecker klingelt, wenn die Sonne aufgeht. Das weiß der nachdenkliche Rabbi natürlich auch. Doch wie bei jeder echten Frage wird etwas Neues angepeilt, über das schon Gewusste und Selbstverständliche hinaus, deshalb gibt es ja auch keine dummen Fragen. Die Antwort des Rabbi hat es in sich: Der neue Tag beginnt, sagt er, „wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ Eine Antwort, die mich jedes Mal neu umhaut.
Bis dahin ist es Nacht bei uns, und das stimmt ja auch. Wenn ich mich den Tagesnachrichten aus der Ukraine, aus Gaza oder dem Südsudan überlasse, dann sieht es tatsächlich finster aus. Wenn ich den Zynismus der großen Weltpolitik mitbekomme, werde ich ratlos bis wütend. Manche sagen, die Welt sei derzeit am Taumeln. Was bisher Halt gab ist am Rutschen – politisch, sozial, auch religiös, und überhaupt. Ein Grundgefühl von drohendem Verlust frisst sich voran, als ginge es überall bergab. Das Schwarz-Weiß-Denken nimmt zu, die Stimmungen sind schnell gereizt und aggressiv gegeneinander. Dabei wäre es so einfach, wie der Rabbi sagt: dem anderen Menschen, der mir heute begegnet, wirklich ins Gesicht sehen und in ihm die Schwester erkennen, den Bruder: ob schwarz oder weiß, ob alt oder jung, ob faszinierend schön oder grenzwertig komisch, ob Aus- oder Inländerin - „alle Menschen werden Brüder“ - und Schwestern. Wenn wir diese Haltung nicht doch noch mehr in die Tat umsetzen würden. Entweder rücken wir zum globalen Dorf zusammen mit gleichberechtigter Bevölkerung oder das Ganze geht hoch wie beim Vulkanausbruch. Entweder Licht und der Blick in das fremde Antlitz, mit all der Bedürftigkeit und Schönheit darin, oder weiterhin „die im Dunklen sieht man nicht“. Der Rabbi hat Recht!
Der neue Tag, das ist nicht einfach der Sonnenaufgang kalendarisch heute am 11. Oktober, nein: es ist die Chance, dass die Schöpfung erwacht auf dem Gesicht des Mitmenschen. Und das hängt auch von unserem Blick ab, von offenen Sinnen und Gedanken. Man sieht nur mit dem Herzen gut.
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Für alles und jedes gibt es Beratung, und das ist gut so. Vom Beipackzettel für die Medikamente bis zum Arbeitsamt oder für Ehe und Familie. Offenkundig geht es oft so kompliziert zu, dass wir professionellen Rat brauchen und hoffentlich auch suchen. In früheren Zeiten gebrauchte man dafür ein altmodisches Wort: nicht nur von Kenntnis und Wissen war die Rede, sondern von Weisheit. Heute würde man vielleicht sagen: professionell und spirituell. Jüngst las ich den tollen Satz: „Weise ist ein Mensch, der von jedem etwas lernt“ - und der entsprechend etwas zu sagen hat, und zwar zum Leben im Ganzen.
Die jüngst verstorbene Margot Friedländer war solch ein weiser Mensch. Die Judenverfolgung in Deutschland überlebt, kam sie im hohen Alter aus dem Exil in den USA zurück und ging hier in die Schulen und an die Öffentlichkeit: sie wollte und konnte die Essenz ihres Lebens weitergeben: „Werdet Menschen“, sagte sie. Und nur ganz verhärtete Leute konnten sich ihrem Charme entziehen, ihrer Lebenserfahrung und ihrer Weisheit, ihrem offenen uralten Gesicht.
Im biblischen Buch der Weisheit lese ich im sechsten Kapitel: „Strahlend und unvergänglich ist die Weisheit; wer sie liebt, erblickt sie schnell, wer sie sucht, findet sie … Wer sie am frühen Morgen sucht, braucht keine Mühe, er findet sie vor seiner Türe sitzen.“ (Weis 6,12.14) Welch goldenes Wort gleich für den Tagesanfang: was wir suchen, sitzt vor der Haustür. Wir wissen ja längst, was gut ist und gut tut. Bloß müssen wir es oft erst anderswo suchen und erfragen, und oft kann Beratung durch andere äußerst hilfreich sein, nein, nicht Beratung nur, sondern Begleitung. Wenn es da Klick macht und einleuchtet, sehen wir urplötzlich, was wir längst schon wissen. Warum denn sonst ist ein ehrliches Lob Balsam für unsere Seele? Warum tun Nachsicht und Vergebung gut? Und warum freuen wir uns am Schönen und Guten? Warum helfen wir, wenn jemand hinstürzt, fast automatisch? Es ist uns ins Herz geschrieben. Für die Bibel ist klar, dass da immer Gott im Spiel ist. Die Frau Weisheit ist von Anfang an seine Assistentin. Jetzt, heute Morgen, sitzt sie vor meiner Haustür. Ich kann sie befragen, ich kann sie in diesen Tag hinein um Begleitung bitten. „Werdet Menschen“, sagt sie. Staunt, dass ihr schon seid, was ihr werden sollt: Mitmenschen, Mitgeschöpfe.
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