SWR Kultur Wort zum Tag
Willst du etwa, dass man dich tritt? Nein? Also dann lass es bitte! Immer wieder beobachte ich bei mir, dass ich solche Sätze zu meiner Tochter sage. Eine erzieherische Maßnahme, wenn ich will, dass sie irgendetwas nicht macht. Getreu dem Motto: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Ist ja auch kein schlechter Grundsatz…
So ähnlich formuliert es Jesus in der Bergpredigt. Diese Rede ist so etwas wie eine Zusammenfassung der Lehre Jesus. Sie enthält wichtige ethische Prinzipien und noch vieles mehr, zum Beispiel das Vaterunser. Einen prominenten Platz in der Bergpredigt hat die sogenannte Goldene Regel. Die lautet:
Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun, das tut auch ihnen. (Mt 7,12)
Anders als bei dem Erziehungsmotto spricht Jesus nicht davon, etwas zu unterlassen, weil man es selbst nicht möchte. Er möchte vielmehr, dass wir etwas tun. Nämlich das, was wir uns selbst wünschen.
Das ist ein wichtiger Unterschied. Er zwingt mich zum Nachdenken: Was wünsche ich mir eigentlich?
Ich möchte zum Beispiel von anderen respektvoll behandelt werden. Freundlich, wenn ich eine Frage habe. Geduldig, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich möchte in Ruhe gelassen werden, wenn ich das signalisiere. Nicht vollgetextet werden, wenn ich das gerade nicht brauchen kann. Ich wünsche mir auch, dass mir anderen verzeihen, wenn ich einen Fehler gemacht habe.
Im Sinne der Goldenen Regel heißt das für mich: die anderen genauso zu behandeln: Freundlich, behutsam, vergebend. Und das nicht in dem Sinne: wie du mir, so ich dir. Jesus knüpft seine Goldene Regel nicht an Bedingungen. Ich soll in Vorleistung gehen; andere so behandeln, wie ich behandelt werden will. Und nicht darauf warten, dass mein Gegenüber damit anfängt.
Mir gefällt dieses Motto Jesu besser, als das, was ich meine Tochter immer predige. Weil es nicht auf Verhinderung ausgelegt ist, sondern aktiv auf ein gutes Miteinander abzielt.
Deshalb sollte ich wohl auch meine pädagogische Herangehensweise modifizieren. Nicht mehr: Tritt niemand anderen, weil du das nicht willst. Sondern vielmehr: Sei nett zu anderen, weil du dir das doch auch wünschst.
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