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SWR2 Wort zum Tag

11JUL2022
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Was kann ich als evangelischer Pfarrer im 21. Jahrhundert von einem Revolutionär lernen, der vor eintausendsechshundert Jahren gelebt hat? Der Mann, um den es geht, heißt Benedikt. Einsam und abgeschottet hat er gelebt. Weil er gedacht hat, dass er sich so am besten auf Gott konzentrieren kann. Mönch ist er geworden und hat allein in einem italienischen Tal gelebt. Aber dann hat er gemerkt, dass er etwas Neues sucht in seinem Leben, etwas Anderes. Er sammelt Gefährten um sich und beginnt, mit ihnen zusammen das Leben zu teilen. Er gründet das erste Kloster. Damit entwickelt er die Form des Mönchtums, die das Abendland über anderthalb Jahrtausende prägt. Denn nun leben die Mönche zusammen, sie beten zusammen, sie arbeiten zusammen. Damit wird Benedikt zum vielleicht einflussreichsten Mönch des ganzen Abendlandes, und heute ist sein Gedenktag.

Aber wie bekommen die Mönche das gut hin? Zusammenleben und arbeiten, und doch auf Gott hin ausgerichtet bleiben? Dafür entwickelt Benedikt grundlegende Regeln. Mich fasziniert eine kleine Formulierung in dieser Ordensregel ganz besonders. Sie zeigt mir, wie aktuell die Regel auch für mich als Protestanten des 21. Jahrhunderts ist. Benedikt schreibt: Wenn die Glocke erklingt und es Zeit für das Gebet ist, dann soll man „in größter Eile“ zum Stundengebet gehen.

Die Glocke erklingt, und der Mönch im Garten gießt nicht einmal mehr die Blumen zu Ende. Er stellt einfach die Gießkanne ab und macht sich auf den Weg in die Kirche. Ein Briefe-schreibender Mönch beendet kaum noch den Satz, den er gerade angefangen hat. Er schraubt nur den Deckel auf den Füller und geht „in größter Eile“ zum Beten.

Was mich dabei fasziniert: Die Mönche lassen sich unterbrechen – sich selbst und ihre Arbeit. Wenn die Glocke erklingt, dann ist anderes wichtiger als ich selbst. Anderes ist wichtiger als meine Tätigkeit hier auf der Erde. Wie wohltuend ist das in einer Gesellschaft, in der ich selbst so sehr im Mittelpunkt stehe! Wie wohltuend in einer Gesellschaft, die das Arbeiten so wichtig nimmt!

Und ich überlege mir, wie ich diesen Impuls aufnehmen kann. Wie kann ich mich in meinem Alltag unterbrechen lassen? Ich will es einmal ausprobieren:  Ich stelle die Weckerfunktion in meinem Smartphone genau auf 12h. Egal, was ich dann gerade mache – wenn der Wecker klingelt, lege ich meinen Füller zur Seite oder meine Gießkanne. Ich falte die Hände und schaue kurz zum Himmel auf. Und dann danke ich Gott genau für diesen Moment.   

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SWR2 Wort zum Tag

07MAI2022
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„Alles, was wir tun, kann nur klein sein. Alles, was Gott tut, ist groß“. Diese beiden Sätze gefallen mir. Sie machen mich frei. Frei davon, mein eigenes Tun heute zu überschätzen. Denn „alles, was wir tun, kann nur klein sein. Alles, was Gott tut, ist groß.“

Die Sätze stammen von einer Frau, die selbst Großes getan hat. Gerade, weil sie sich dem Kleinen gewidmet hat, den kleinen Leuten. Madeleine Delbrel heißt sie. Sie wächst in den 1920er Jahren in einer sehr bürgerlichen Familie in Paris auf. Schon mit 16 Jahren studiert sie Geschichte und Literatur an der Sorbonne, der berühmtesten Universität Frankreichs. Alles deutet darauf hin, dass sie einmal Professorin hätte werden können.

Doch dann verändert sich ihr Leben radikal. Ihre Familie hat keine innere Bindung ans Christentum. Aber ihr erscheint auf einmal – Gott. „Ich bin von Gott überwältigt worden und bin es immer noch“, sagt sie. Sie ist davon überzeugt, dass sie diesem Gott gerade im Alltag begegnet. Und bei Menschen, die nicht viel von ihm wissen. Daher lässt sie sich zur Sozialarbeiterin ausbilden. Und sie macht etwas, was für die damalige Zeit ganz ungewöhnlich ist: Sie lebt mit zwei anderen, gleichgesinnten Frauen in einer WG, und das noch dazu in Ivry, einem armen Arbeitervorort in Paris. Dort hilft sie den Menschen in ihrer ganz konkreten Not.

Und sie schreibt faszinierende Texte. Nach ihrem Tod werden sie veröffentlicht und berühren viele Menschen, bis heute. Denn ihr Leben bei den einfachen Menschen und ihr Leben mit Gott verbindet sich in ihren Texten auf einzigartige Weise.

So schreibt sie: „Wir denken, dass, wenn wir für Gott ganz kleine Dinge tun, wir ihn ebenso lieben wie mit großen Aktionen. Übrigens wissen wir sowieso nicht, wie wir unsere Taten vor Gott messen sollen. Wir wissen bloß zweierlei: Alles, was wir tun, kann nur klein sein. Alles, was Gott tut, ist groß.“

Diese Sätze machen mich fröhlich und frei. Frei davon, mein eigenes Tun heute zu überschätzen. Denn egal, für wie wichtig ich mich und mein Tun halte – angesichts der Größe Gottes ist es klein. Das entlastet mich davon, mir zu viel zuzumuten. Aber diese Sätze machen mich auch frei dazu, mich einer Sache heute ganz zu widmen. Einem Menschen, der meinen Rat braucht. Oder der in Not ist. Denn vielleicht wirkt Gott heute ja seine ganz große Sache gerade durch meine kleine Tat hindurch.  

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SWR2 Wort zum Tag

06MAI2022
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Vor drei Wochen bin ich nach einem anstrengenden Arbeitstag noch eine kleine Runde spazieren gegangen. Da habe ich ihn entdeckt, einen Spruch, neu gesprayt an eine Garagenwand: „Resting is doing“ – „Ausruhen ist auch eine Tätigkeit – oder: was Aktives “, so könnte man ihn vielleicht übersetzen.

Resting is doing - ich lese den Spruch, und ich denke mir sofort: „Nee, wirklich nicht – bitte nicht auch das noch! Mir reicht es mit all meinen Aktivitäten den ganzen Tag lang. So viel habe ich heute schon gemacht: Ich habe telefoniert und Religionsunterricht erteilt. Ich hatte ein Krisengespräch mit einem aufgebrachten Kollegen – und jetzt will ich einfach meine Ruhe haben. Auch Ausruhen ist Aktivseins? Nein, dieser Spruch will doch nur unsere Leistungsgesellschaft auch noch in den Freizeitbereich hinein verlängern. Das will ich nicht: Ich war für heute aktiv genug.“

Allerdings muss ich zugeben:  Ich muss ganz furchtbar viel machen, bis ich einmal zur Ruhe komme. Oft muss ich dafür sogar ein eigenes Zeitfenster in den Kalender eintragen. Erst dann komme ich langsam runter. Kaum zu glauben, wie aktiv ich sein muss, um einmal Ruhe zu haben.

Auf meinem Spaziergang hat mich der Spruch trotzdem nicht losgelassen. Ja, ich hatte sogar den Eindruck, dass er zu mir spricht: „Was machst Du denn jetzt gerade?“, fragt mich der Spruch, „Spazieren gehen, ist das etwa keine Aktivität? Du gehst langsam und bewusst. Du atmest tief ein, Du riechst die Luft, den Frühsommer, mit seinem ganz besonderen Duft nach Bärlauch. Du bleibst kurz stehen und schaust genau hin. Wie das Abendlicht die Blätter zum Leuchten bringt, und daneben schon tiefe Schatten. Dort krabbelt eine Spinne, langsam, ein Bein nach anderen. Und da raschelt es im Blätterhaufen, eine kleine Maus flitzt davon. All das siehst Du, all das hörst Du, all das riechst Du. Und Du willst mir sagen, dass Du dabei nicht aktiv bist?“

Ich denke mir: „Es ist doch was dran, an dem Spruch: Resting is doing, Ruhen ist Aktivsein. – Aber der Spruch beschreibt eine ganz eigene Form des Aktivseins. Dabei lasse ich die Welt auf mich zukommen und versuche nicht, sie zu bestimmen. Ich nehme sie wahr, Ich genieße sie, ich freue mich an ihr. Welche Aktivitäten gehören dazu? Einatmen. Aufatmen. Genau Hinschauen. Genau Hinhören… “

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SWR2 Wort zum Tag

05MAI2022
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Neulich fragt mich mein Nachbar: „Warum gehst Du eigentlich immer noch zu diesen Friedensgebeten? Schau mal, der Krieg in der Ukraine dauert jetzt schon zehn Wochen. Seitdem beten überall auf der Welt Menschen für den Frieden. Aber jede Woche wird die Lage schlimmer. Die Schlachten werden immer brutaler. Der Frieden ist weiter weg denn je. Wenn Du ehrlich bist, musst Du doch sagen: ‚Wir haben gebetet und es hat nichts gebracht. Gott hat uns nicht gehört.‘ Wäre es nicht besser, wenn Ihr die Zeit der Friedensgebete nutzt, um den ukrainischen Flüchtlingen vor Ort ein bisschen deutsch beizubringen?“

Mein Nachbar spricht Fragen aus, die auch in mir selbst rumoren. Seit dem 24. Februar organisiere ich jede Woche ein Friedensgebet. In ganz Deutschland gibt es Tausende davon. Und Millionen Christen beten im eigenen Kämmerlein regelmäßig für den Frieden. Verhallen alle diese Stimmen ungehört im unendlich großen, dunklen Universum?

Ich zögere mit einer Antwort. In mir selbst finde ich verschiedene Gefühlslagen. Einerseits bin ich frustriert. Zornig, hoffnungslos. Wie kann das sein, Gott, so denke ich dann: So viele Menschen, die Dich bitten, und der Krieg geht einfach weiter?

Andererseits merke ich, dass die gemeinsamen Friedensgebete mich verändern. Sie stärken mich. Weil sie meiner Unruhe Worte geben. Und weil sie mich mit anderen Menschen verbinden.

Und so denke ich mir: Vielleicht nützen die Friedensgebete doch etwas. Nicht, weil wir dadurch Gott beeinflussen. Sondern weil Gott damit uns beeinflusst. Gott nutzt unsere Gebete, um jeden Einzelnen von uns zu verändern. Und uns als Gemeinschaft. Durch Gottes Geist entstehen überall in Deutschland kleine Friedensgemeinschaften. Energiezentren des Widerstands gegen das Böse.

Das ist dann mehr als eine individuelle Kurz-Therapie für die aufgescheuchte Psyche von einem verschreckten Westdeutschen wie mir. Denn ich hoffe, dass Gott diese kleinen Friedensgemeinschaften nutzt, um dadurch auch die Ukrainer zu stärken. Indem sie wissen, dass überall auf der Welt Millionen von Menschen für sie beten, wird die Moral der Ukrainer gestärkt, ihre Resilienz. Ihre Fähigkeit, sich dem Bösen entgegenzustellen. 

Das ist viel weniger als das, worauf ich eigentlich hoffe. Aber es ist viel mehr als nichts. Mir reicht es, um auch diese Woche wieder zum Friedensgebet zu gehen. Und am Abend im Gebet meinen Frust vor Gott zu tragen. Aber auch meine bleibende, brennende Sehnsucht nach wahrem Frieden.

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SWR2 Wort zum Tag

12FEB2022
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Meine Tante hat mich zum Tee eingeladen. Ganz vorsichtig halte ich meine Tasse in der rechten Hand. Fasziniert schaue ich auf ihr Muster: hellblau und weiß ist die Tasse, und an einer Seite durchzogen von einer schmalen, unregelmäßigen goldenen Linie. Wunderschön ist die Linie, golden schimmernd, aber auch ganz zart. Ich traue mich kaum, mit dem Daumen darüber zu fahren.

Als meine Tante mich so sieht, fängt sie an zu lachen. „Du musst nicht so vorsichtig sein“, sagt sie, „die Tasse ist viel stabiler, als du denkst. Schau mal, Deine Tasse und meine: Beides sind Erbstücke von meiner Großmutter. Aber als ich letztens meine Freundinnen zum Tee da hatte, bin ich beim Eindecken gestolpert. Unsere beiden Tassen sind heruntergefallen und in der Mitte entzweigebrochen. Wegschmeißen wäre viel zu schade. Da habe ich mich an die uralte japanische Kunst des Kintsugi erinnert. Kintsugi, dabei klebt man Zerbrochenes wieder zusammen. Und dann entsteht nichts Geflicktes, sondern etwas Neues.“

„Und wie machst Du das dann?“, frage ich. Meine Tante schaut mich mit intensivem Blick an: „Das Wichtigste: Das ist keine Frage des Handwerks. Sondern der inneren Einstellung. Bist Du bereit, dem Zerbrochenen eine Chance zu geben?“ Ich antworte: „Ach, das ist ja genau wie im Christentum! Gott wendet sich nämlich auch dem Zerbrochenen zu. Und den Menschen, die fast zerbrechen. Jesus heilt einen Aussätzigen, der an seiner Einsamkeit beinahe kaputt geht. Auf einmal beginnt der Aussätzige, ganz neu zu leben. Oder bei mir im Alltag: Eine Freundschaft zu einem alten Freund droht zu zerbrechen, wir sind zu unterschiedlicher Meinung. Da ruft er mich doch noch mal an und wir kommen ins Gespräch. Ja, ich will dem Zerbrochenen noch eine Chance geben.

Aber wie bearbeitest Du Deine zerbrochene Tasse?“, frage ich nochmal. „Mit Geschick und Geduld“, sagt meine Tante und lacht wieder. „Ich nehme den Lack und rühre Goldpulver hinein. Denn ich will den Bruch nicht überdecken. Ich will ihn sichtbar machen. Nur so entsteht Gutes. Dann trage ich den Goldlack auf die Bruchlinien auf und presse beides zusammen. Und dann muss ich warten: Es braucht Geduld, bis das alles trocken ist und etwas Neues entsteht.

Und jetzt gibst Du mir mal Deine Teetasse und ich schenke Dir voll ein“, sagt meine Tante. „Und Du wirst merken, dass mein berühmter Grüntee noch viel besser schmeckt als sonst: in dieser wunderschönen, alten, zerbrochenen, ganz neuen Tasse.“   

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SWR2 Wort zum Tag

11FEB2022
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„Alles gut!“ Diese zwei Worte höre ich ständig. Fast sind sie ein Standardspruch geworden in allen Lebenslagen. Erst letzten Donnerstag wieder: Ich sitze gemütlich mit zwei Freunden zusammen – da kippt ein halbvolles Glas um und Apfelsaft tropft auf die Hose von Mike, dem Gastgeber. „Alles gut!“, ruft er prompt. Er springt auf, rennt in die Küche und kommt mit Lappen und Handtuch zurück. Aber Björn, der das Glas umgeworfen hat, widerspricht: „Alles gut? Es ist überhaupt nicht alles gut! Ich bin ein ungeschickter Trottel und habe Dir Deine schicke Hose ruiniert.“ Mike gibt zur Antwort: „Erstens ist die Hose nicht schick. Zweitens ist sie schon fast wieder trocken, und drittens sagt man das doch so, heutzutage, oder? Alle sagen immerzu: ‚alles gut‘!“

Warum ist das eigentlich so, frage ich mich. Wir leben doch in einer Welt, in der überhaupt nicht alles gut ist. Schon wieder hält uns Corona im Griff. Und auch zwischen uns Menschen ist längst nicht alles so gut, wie es dauernd behauptet wird. Warum sagen dann so viele Menschen so oft: ‚Alles gut‘?

Vielleicht ist das so etwas wie eine moderne Zauberformel? Je härter die Zeiten sind, desto öfter sagen wir: ‚Alles gut‘! Wir hüllen uns ein in diese Worte des Wohlbefindens. Wir legen sie um uns wie einen wärmenden Mantel in kalter Zeit. Damit schaffen wir uns unseren kleinen privaten Raum der Harmonie gegenüber der bösen, chaotischen Welt da draußen.

Aber ist das in Wahrheit Selbstbetrug? Die Illusion von Kontrolle in einer unkontrollierbaren Welt? Oder gar: Ist der Spruch das Opium des Volkes unserer Tage?

Alles gut! Ich denke mir: Eigentlich müsste das unser Spruch sein, der Spruch von Christinnen und Christen. Denn wir glauben doch tatsächlich, dass im Letzten alles gut ist. Weil Gott am Anfang die Welt geschaffen hat und dann gesagt hat: ‚Siehe, es war sehr gut‘. Und weil Jesus wieder alles gut gemacht hat, was wir Menschen so falsch machen. Im christlichen Verständnis ist der Spruch daher kein Selbstbetrug. Sondern er bringt zum Ausdruck, wie die Welt in Wahrheit ist. Und dadurch verändert sich auch unser Umgang mit der Welt. Vielleicht haben wir mehr Hoffnung, dass die Dinge zum Guten verändert werden können. Vielleicht geben wir nicht ganz so schnell auf. Und werden nicht ganz so schnell zynisch. Oder demotiviert.

Was meinen Sie: Was ändert sich, wenn Sie davon ausgehen, dass dieser Spruch im Tiefsten stimmt: Alles gut!

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SWR2 Wort zum Tag

10FEB2022
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„Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht alleine leben, sondern weil Gott es mit uns lebt.“ Ein großartiger Satz! Alfred Delp hat ihn geschrieben, im Februar 1945, kurz bevor er von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Wer war dieser Mann? Und wie hat er es geschafft, im Angesicht des Todes solche Sätze zu schreiben?

Selbstbewusst war er, mutig, klug und humorvoll. Direkt nach dem Abitur beschließt er, Jesuit zu werden. Er arbeitet mit Jugendlichen, sie reden bis spät in die Nacht über Gott und die Welt. Für viele wird er ein Impulsgeber, ein Vorbild - auch wenn er jeden Tag eine erstaunliche Menge an Zigarren raucht. Im Dritten Reich vermittelt ihn ein Vorgesetzter in den Kreisauer Kreis hinein, eine Widerstandsgruppe um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler. Wie soll sich Deutschland entwickeln, wenn die Nationalsozialisten besiegt sind? Diese Frage diskutieren sie im Kreisauer Kreis, bis die Gestapo Wind davon bekommt und alle Mitglieder verhaftet. 

Delp kommt im Juli 1944 ins Gefängnis nach Berlin. Er lebt unter härtesten Bedingungen. Meist ist er ganz isoliert. Aber Delp darf schreiben, in Handschellen. Diese Briefe und Schriften berühren mich auch heute noch durch ihr inneres Ringen. Einerseits will er weiterleben. Seine Ideen für ein Deutschland nach dem Krieg weiterentwickeln. Andererseits entsteht in ihm eine ganz neue Glaubensstärke. Er will sein Schicksal annehmen. Denn er glaubt, dass ihm das von Gott her zukommt. Er schreibt: In den letzten Wochen „ist mir Gott so viel wirklicher geworden… Und wenn der Herrgott diesen Weg will – und alles Sichtbare deutet darauf hin – dann muss ich ihn freiwillig und ohne Erbitterung gehen.“

So erringt er am Ende eine eindrückliche innere Freiheit. In einem Brief an seinen Patensohn schreibt er: „Das habe ich mit gefesselten Händen geschrieben; diese gefesselten Hände vermach‘ ich Dir nicht, aber die Freiheit, die die Fesseln trägt, die sei Dir […] geschenkt.“

Im Januar 45 kommt es zur Gerichtsverhandlung. Der Richter ist der berüchtigte Roland Freisler, der alle Nazi-Gegner hasst und viele Todesurteile verhängt. Delp wird erst beschimpft und dann zum Tode verurteilt. Anfang Februar wird er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Im Gedenken an ihn stehen seine Worte heute über meinem Tag: „Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht alleine leben, sondern weil Gott es mit uns lebt.“       

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SWR2 Wort zum Tag

04DEZ2021
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Im Sommer bin ich in Frankreich gewesen und habe mir an einem warmen Tag eine kühle Kirche angeschaut. Im Innenraum ist es ziemlich dunkel. Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, fällt mein Blick als erstes auf eine Marienfigur. Groß steht sie da und sanft lächelnd, auf ihrem Arm das Jesuskind, vielleicht drei Jahre alt, mit strahlendem Gesicht. Ich gehe näher heran. Das Jesuskind hat die rechte Hand ausgestreckt, und auf seiner rechten Hand hält es eine große, blaue Kugel: die Weltkugel. Ich bin überrascht. Ich kenne zwar das Motiv von Jesus als Weltenherrscher. Aber dabei ist oft der erwachsene Jesus abgebildet, mit strengem Gesichtsausdruck. Doch hier ist es ein Kind, das die Welt in der Hand hält. Das strahlende Jesuskind als Weltenherrscher: Kinder an die Macht!

Ich denke mir: Mal angenommen, ein Kind beherrscht die Welt und die Welt wäre wirklich für Kinder gemacht – wie würde die Welt dann aussehen? Jedes Kind auf der ganzen Welt hätte ein eigenes Bett in einem eigenen Zuhause. Kein Kind wäre auf der Flucht. Morgens zum Frühstück gäbe es ein großes Glas warme Milch und zwei Scheiben Brot. Dick bestrichen mit Butter und mit Himbeermarmelade. Jedes Kind, egal, ob Junge oder Mädchen, würde dann in die Schule gehen. Da gibt es keine Prügelstrafe, und es würde nie mehr Unterricht ausfallen. Und am Nachmittag würden die Kinder im Park oder im Wald Verstecken spielen und auf einen hohen Baum klettern.

Wir Erwachsenen könnten viel von den Kindern lernen. Wir würden die Klimakrise viel ernsthafter bekämpfen. Denn dann wäre nicht unsere Gegenwart, sondern die Zukunft der Kinder das Wichtigste. Außerdem würden wir das Spielerische ernster nehmen und der Fantasie mehr Raum geben. Wir sagen nicht mehr so oft: „Das sind die Sachzwänge“, oder: „Das haben wir immer schon so gemacht“. Stattdessen sagen wir: „Probieren wir es einfach mal aus!“ Oder: „Ja, ich spiel bei Dir mit, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie die Regeln sind.“

Nach einer Weile löse ich mich von all diesen Überlegungen, kehre innerlich in die kleine Kirche zurück und beschließe zu gehen. Ich drehe mich in der Tür noch einmal um. Der kleine Jesus, strahlend auf dem Arm der Mutter, scheint mir zuzuzwinkern: – als würde er mir sagen wollen: „Bald ist Dein Urlaub vorbei. Dein Alltag beginnt wieder. Handle dann mindestens einmal am Tag so, als ob das wahr wäre: dass die Welt für die Kinder gemacht ist, weil ein Kind sie in seiner Hand hält.“

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SWR2 Wort zum Tag

03DEZ2021
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Ämilie Juliane von Schwarzberg-Rudolstadt – was für ein poetischer Name, fast wie aus einem Märchen! Doch die Dame hat wirklich gelebt, vor 350 Jahren. Heute ist ihr Namenstag, und sie hat Liedzeilen gedichtet, die mich auch heute noch berühren: „Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte - bis hierher hat er Tag und Nacht bewahrt Herz und Gemüte.“

Ganz beschwingt summe ich diese Zeilen. Zugleich zögere ich: War mein Leben immer voller Güte? Wo ist da Platz für Brüche? Hat Ämilie vielleicht ein so märchenhaft-adliges Leben geführt, dass sie nie mit Not in Berührung gekommen ist?

Ich habe mich kundig gemacht und erfahren, dass sie alles andere als ein leichtes Leben hatte. Sie wurde in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hinein geboren. Ihr Vater starb, als Ämilie vier Jahre alt war. Dieses große Unglück hat sich später allerdings als großes Glück erwiesen. Denn sie ist bei adligen Pflegeeltern aufgewachsen, die ihr die beste Bildung haben zukommen lassen. So wurde sie die produktivste Liederdichterin des 17. Jahrhunderts.

Zweierlei ist ihr dabei wichtig gewesen. Sie hat ihr Leben und ihre geistlichen Texte eng miteinander verbunden, bis in den Alltag hinein. Das zeigt zum Beispiel folgende Notiz von ihr: „Um Jesu willen – nehmt Zucker, wenn Ihr trockenes Obst macht“. Und: Ämilie hat auch später in ihrem Leben noch schwere Zeiten erlebt. Ihre Tochter ist kurz nach der Geburt gestorben, und sie selbst hat schwer an der Gicht gelitten. Doch immer hat sie sich vertrauensvoll an Gott gewendet, in der Zuversicht, dass Gott auch im Leid mit ihr verbunden ist.

Von daher höre ich ihre Liedstrophe nochmal ganz anders: nicht mal eben so dahin gedichtet. Sondern als die schmerzhaft errungene geistliche Einsicht einer lebenserfahrenen Frau. „Bis hierher hat mich Gott gebracht durch seine große Güte – bis hierher hat er Tag und Nacht bewahrt Herz und Gemüte.“ Ich höre aus diesen Zeilen heraus: Gott hat nicht immer meine Gesundheit bewahrt. Ich musste sogar am Grab meines Kindes stehen. Aber Gott hat mein Herz bewahrt, weil er dafür sorgt, dass ich mich weiterhin mit ihm verbunden fühle.

Und ich denke mir: Egal, was der Tag heute noch bringt – heute Abend werde ich dieses Lied vor mich hin summen und dabei an seine Schöpferin mit dem schönen Namen denken: Ämilie Juliane von Schwarzberg-Rudolstadt.

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SWR2 Wort zum Tag

02DEZ2021
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Jetzt, wo es nachts Minusgrade hat, sehe ich ihn wieder häufiger: den Obdachlosen, der sein ganzes Hab und Gut in drei alten Plastiktüte am Lenker seines Fahrrads durch die Stadt schiebt. Er trägt einen speckigen, dunkelblauen Anorak, der am rechten Ellenbogen ein großes Loch hat. Auch der Reißverschluss schließt nicht mehr richtig, so dass ich darunter einen ausgewaschenen, grauen Pulli sehe. Als der Mann langsam an mir vorbeigeht, schaut er stur geradeaus – nimmt er die Menschen um sich herum überhaupt noch wahr?

Mir wird schon beim Zusehen kalt und zugleich wird mir auch eng ums Herz. Ein Bibelvers kommt mir in den Sinn: „Meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn Gott hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet.“ Das schreibt der Prophet Jesaja vor gut zweieinhalb tausend Jahre. Was würde dieser Satz für heute bedeuten? Ich stelle mir vor, wie Gott dem obdachlosen Mann auf der Straße entgegenkommt, mit dem Mantel der Gerechtigkeit unterm Arm. Dieser Mantel ist gut gefüttert. Gott gibt dem obdachlosen Mann den Mantel und hält sein Fahrrad, während der Mann ihn sich langsam anzieht. Als der Reißverschluss bis oben hin geschlossen ist, kann man förmlich sehen, wie dem Mann wärmer wird. Und dann schaut Gott den Mann freundlich an und fragt, wie es ihm geht. „Ach“, sagt der Mann, „Mir ist so kalt, dass ich sogar abends kaum warm werde. Und es ist mir auch peinlich, dass ich so rumlaufe. Dann gucken die Menschen immer so komisch. Toll, dass Sie mich jetzt einfach mit mir reden“, und ganz langsam beginnt er dabei zu lächeln. Ich denke mir: Ob dieses Gespräch so etwas wie das „Kleid des Heils“ ist, in das Gott diesen Mann gerade einhüllt? Jedenfalls wird seine Seele fröhlich, nun, wo er so gut gekleidet ist.

Ich stelle mir vor: Wie wäre es, wenn Gott heute Morgen bei mir vorbeikommt, mit einem Kleid des Heils und einen Mantel der Gerechtigkeit unterm Arm? Das Kleid des Heils würde sich warm und weich anfühlen, so dass ich ganz ausgeglichen in den Tag starte. Wäre der Mantel der Gerechtigkeit vielleicht knallrot? Dann würde ich direkt loslaufen und an einer Demonstration teilnehmen für die bessere Bezahlung von Pflegekräften in unseren Krankenhäusern. Oder wäre er eher hellgrau, weil ich ganz unauffällig dafür spende, dass es mehr Unterstützung für Obdachlose gibt?
Vielleicht mögen auch Sie sich überlegen: Welche Farbe hätte der Mantel der Gerechtigkeit, den Gott für Sie heute Morgen aussucht? Und wie fühlt es sich wohl an, in ein Kleid des Heils gehüllt zu sein?

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