SWR2 Wort zum Tag

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04DEZ2021
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Im Sommer bin ich in Frankreich gewesen und habe mir an einem warmen Tag eine kühle Kirche angeschaut. Im Innenraum ist es ziemlich dunkel. Als sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, fällt mein Blick als erstes auf eine Marienfigur. Groß steht sie da und sanft lächelnd, auf ihrem Arm das Jesuskind, vielleicht drei Jahre alt, mit strahlendem Gesicht. Ich gehe näher heran. Das Jesuskind hat die rechte Hand ausgestreckt, und auf seiner rechten Hand hält es eine große, blaue Kugel: die Weltkugel. Ich bin überrascht. Ich kenne zwar das Motiv von Jesus als Weltenherrscher. Aber dabei ist oft der erwachsene Jesus abgebildet, mit strengem Gesichtsausdruck. Doch hier ist es ein Kind, das die Welt in der Hand hält. Das strahlende Jesuskind als Weltenherrscher: Kinder an die Macht!

Ich denke mir: Mal angenommen, ein Kind beherrscht die Welt und die Welt wäre wirklich für Kinder gemacht – wie würde die Welt dann aussehen? Jedes Kind auf der ganzen Welt hätte ein eigenes Bett in einem eigenen Zuhause. Kein Kind wäre auf der Flucht. Morgens zum Frühstück gäbe es ein großes Glas warme Milch und zwei Scheiben Brot. Dick bestrichen mit Butter und mit Himbeermarmelade. Jedes Kind, egal, ob Junge oder Mädchen, würde dann in die Schule gehen. Da gibt es keine Prügelstrafe, und es würde nie mehr Unterricht ausfallen. Und am Nachmittag würden die Kinder im Park oder im Wald Verstecken spielen und auf einen hohen Baum klettern.

Wir Erwachsenen könnten viel von den Kindern lernen. Wir würden die Klimakrise viel ernsthafter bekämpfen. Denn dann wäre nicht unsere Gegenwart, sondern die Zukunft der Kinder das Wichtigste. Außerdem würden wir das Spielerische ernster nehmen und der Fantasie mehr Raum geben. Wir sagen nicht mehr so oft: „Das sind die Sachzwänge“, oder: „Das haben wir immer schon so gemacht“. Stattdessen sagen wir: „Probieren wir es einfach mal aus!“ Oder: „Ja, ich spiel bei Dir mit, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie die Regeln sind.“

Nach einer Weile löse ich mich von all diesen Überlegungen, kehre innerlich in die kleine Kirche zurück und beschließe zu gehen. Ich drehe mich in der Tür noch einmal um. Der kleine Jesus, strahlend auf dem Arm der Mutter, scheint mir zuzuzwinkern: – als würde er mir sagen wollen: „Bald ist Dein Urlaub vorbei. Dein Alltag beginnt wieder. Handle dann mindestens einmal am Tag so, als ob das wahr wäre: dass die Welt für die Kinder gemacht ist, weil ein Kind sie in seiner Hand hält.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34390
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