SWR2 Wort zum Tag

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06MAI2022
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Vor drei Wochen bin ich nach einem anstrengenden Arbeitstag noch eine kleine Runde spazieren gegangen. Da habe ich ihn entdeckt, einen Spruch, neu gesprayt an eine Garagenwand: „Resting is doing“ – „Ausruhen ist auch eine Tätigkeit – oder: was Aktives “, so könnte man ihn vielleicht übersetzen.

Resting is doing - ich lese den Spruch, und ich denke mir sofort: „Nee, wirklich nicht – bitte nicht auch das noch! Mir reicht es mit all meinen Aktivitäten den ganzen Tag lang. So viel habe ich heute schon gemacht: Ich habe telefoniert und Religionsunterricht erteilt. Ich hatte ein Krisengespräch mit einem aufgebrachten Kollegen – und jetzt will ich einfach meine Ruhe haben. Auch Ausruhen ist Aktivseins? Nein, dieser Spruch will doch nur unsere Leistungsgesellschaft auch noch in den Freizeitbereich hinein verlängern. Das will ich nicht: Ich war für heute aktiv genug.“

Allerdings muss ich zugeben:  Ich muss ganz furchtbar viel machen, bis ich einmal zur Ruhe komme. Oft muss ich dafür sogar ein eigenes Zeitfenster in den Kalender eintragen. Erst dann komme ich langsam runter. Kaum zu glauben, wie aktiv ich sein muss, um einmal Ruhe zu haben.

Auf meinem Spaziergang hat mich der Spruch trotzdem nicht losgelassen. Ja, ich hatte sogar den Eindruck, dass er zu mir spricht: „Was machst Du denn jetzt gerade?“, fragt mich der Spruch, „Spazieren gehen, ist das etwa keine Aktivität? Du gehst langsam und bewusst. Du atmest tief ein, Du riechst die Luft, den Frühsommer, mit seinem ganz besonderen Duft nach Bärlauch. Du bleibst kurz stehen und schaust genau hin. Wie das Abendlicht die Blätter zum Leuchten bringt, und daneben schon tiefe Schatten. Dort krabbelt eine Spinne, langsam, ein Bein nach anderen. Und da raschelt es im Blätterhaufen, eine kleine Maus flitzt davon. All das siehst Du, all das hörst Du, all das riechst Du. Und Du willst mir sagen, dass Du dabei nicht aktiv bist?“

Ich denke mir: „Es ist doch was dran, an dem Spruch: Resting is doing, Ruhen ist Aktivsein. – Aber der Spruch beschreibt eine ganz eigene Form des Aktivseins. Dabei lasse ich die Welt auf mich zukommen und versuche nicht, sie zu bestimmen. Ich nehme sie wahr, Ich genieße sie, ich freue mich an ihr. Welche Aktivitäten gehören dazu? Einatmen. Aufatmen. Genau Hinschauen. Genau Hinhören… “

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