SWR2 Wort zum Tag

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12FEB2022
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Meine Tante hat mich zum Tee eingeladen. Ganz vorsichtig halte ich meine Tasse in der rechten Hand. Fasziniert schaue ich auf ihr Muster: hellblau und weiß ist die Tasse, und an einer Seite durchzogen von einer schmalen, unregelmäßigen goldenen Linie. Wunderschön ist die Linie, golden schimmernd, aber auch ganz zart. Ich traue mich kaum, mit dem Daumen darüber zu fahren.

Als meine Tante mich so sieht, fängt sie an zu lachen. „Du musst nicht so vorsichtig sein“, sagt sie, „die Tasse ist viel stabiler, als du denkst. Schau mal, Deine Tasse und meine: Beides sind Erbstücke von meiner Großmutter. Aber als ich letztens meine Freundinnen zum Tee da hatte, bin ich beim Eindecken gestolpert. Unsere beiden Tassen sind heruntergefallen und in der Mitte entzweigebrochen. Wegschmeißen wäre viel zu schade. Da habe ich mich an die uralte japanische Kunst des Kintsugi erinnert. Kintsugi, dabei klebt man Zerbrochenes wieder zusammen. Und dann entsteht nichts Geflicktes, sondern etwas Neues.“

„Und wie machst Du das dann?“, frage ich. Meine Tante schaut mich mit intensivem Blick an: „Das Wichtigste: Das ist keine Frage des Handwerks. Sondern der inneren Einstellung. Bist Du bereit, dem Zerbrochenen eine Chance zu geben?“ Ich antworte: „Ach, das ist ja genau wie im Christentum! Gott wendet sich nämlich auch dem Zerbrochenen zu. Und den Menschen, die fast zerbrechen. Jesus heilt einen Aussätzigen, der an seiner Einsamkeit beinahe kaputt geht. Auf einmal beginnt der Aussätzige, ganz neu zu leben. Oder bei mir im Alltag: Eine Freundschaft zu einem alten Freund droht zu zerbrechen, wir sind zu unterschiedlicher Meinung. Da ruft er mich doch noch mal an und wir kommen ins Gespräch. Ja, ich will dem Zerbrochenen noch eine Chance geben.

Aber wie bearbeitest Du Deine zerbrochene Tasse?“, frage ich nochmal. „Mit Geschick und Geduld“, sagt meine Tante und lacht wieder. „Ich nehme den Lack und rühre Goldpulver hinein. Denn ich will den Bruch nicht überdecken. Ich will ihn sichtbar machen. Nur so entsteht Gutes. Dann trage ich den Goldlack auf die Bruchlinien auf und presse beides zusammen. Und dann muss ich warten: Es braucht Geduld, bis das alles trocken ist und etwas Neues entsteht.

Und jetzt gibst Du mir mal Deine Teetasse und ich schenke Dir voll ein“, sagt meine Tante. „Und Du wirst merken, dass mein berühmter Grüntee noch viel besser schmeckt als sonst: in dieser wunderschönen, alten, zerbrochenen, ganz neuen Tasse.“   

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