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SWR4 Abendgedanken
„Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“ sagte die alte Frau. Dieses Gespräch liegt einige Jahre zurück, aber ich werde es nie vergessen. Sie hat mir erzählt, dass sie endlich den Mut hatte zu einer speziellen Traumatherapie. Und trotz ihres Alters hat sie diese Therapie versucht. Danach hat sie sich so viel leichter und glücklicher gefühlt. „Zum ersten Mal in meinem Leben“ sagte sie. Und noch einmal: „Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“
Ach, was sollte ich darauf sagen? Sie hat eine Menge unternommen in ihrem langen Leben, um die Gespenster ihrer Kinderjahre loszuwerden. Schlimme Erfahrungen in der Familie, die sich eingebrannt haben in ihre Seele und ihre Erinnerungen. Und vieles von den Hilfen, die sie sich gesucht hat, hat ihr auch geholfen. Sie hat sich weiterentwickelt, weitergesucht, aber trotzdem auch weitergelitten. Sie war eine fromme Frau, und ihr Glaube hat ihr auch sehr geholfen. Immer. Und trotzdem blieben da quälende Erinnerungen an diese frühen Verletzungen. Auch als ältere Frau konnten die ihr ganz überraschend immer wieder den Boden unter den Füßen wegreißen.
Aber dann hörte sie von neueren Methoden der Therapie traumatischer Erfahrungen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal eine Therapeutin zu suchen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal mit ihrer Seele und ihrem Leben auseinanderzusetzen. Und da ist auf einmal ein ganz neues Lebensgefühl entstanden. Weil sie in der Therapie geübt hat, wie sie besser mit den Gespenstern in ihrer Seele umgehen kann. Von da an fühlte sie sich wohler. Und freier.
Und man konnte es sehen in ihrem Gesicht, in den Augen, in der Körperhaltung. Diese Entwicklung mitzuerleben war auch für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Inzwischen ist diese Frau verstorben. Aber ich hüte ein Geschenk von ihr, eine kleine Figur, die mir kostbar ist. Die erinnert mich an diese Frau. Und sie erinnert mich daran, dass es nie zu spät ist, sich mit den Abgründen in der eigenen Seele auseinanderzusetzen. Mit Gottes Hilfe und der Hilfe fachkundiger Menschen.
Und ganz kindlich denke ich: Auch Gott hatte seine Freude daran, sie so neu zu erleben!
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Die Einschulung meiner Enkelin rückt immer näher. Sie kann es kaum erwarten und feiert den 6. Geburtstag in diesen Tagen schon mit großer Vorfreude auf die Schule. Mich rührt dieser neugierige Eifer! Ich denke immer wieder daran, wie gut das ist: Dass kein Mädchen in Westeuropa darum betteln muss, lesen und schreiben zu lernen. Es ist Pflicht! Alle müssen zur Schule! Kein Vater oder Bruder darf darüber entscheiden, ob ein Mädchen lernen darf oder nicht. Das ist so selbstverständlich, und es ist so gut! Jedes Kind muss lernen dürfen. Fürs ganze Leben. Aber es war ein langer Weg bis dorthin. Zum Glück gab es immer Menschen, die wussten, wie wichtig Bildung ist. Auch die Bildung der Mädchen und Frauen. Die Engländerin Mary Ward war so eine Person, die hat sich für Mädchenbildung stark gemacht. Vor 400 Jahren.
Ihre Grundüberzeugung war: Gott hat auch den Frauen einen Verstand gegeben! Das wollten viele nicht hören. In Adelsfamilien vielleicht erhielten Töchter manchmal Privatunterricht. Aber normale Bürgersfamilien hatten dafür kein Geld. Also brauchte es für Mädchen öffentliche Schulen. Mary Ward setzte sich dafür ein. Die Kirchenmänner ihrer Zeit haben das erst einmal erfolgreich verhindert, sie wurde bevormundet, abgelehnt, lächerlich gemacht. Wie eine Löwin hat Mary Ward für die Bildung von Frauen und Mädchen trotzdem weitergekämpft. Allmählich haben sich „Die englischen Fräulein“, wie ihr Orden lange genannt wurden, dann doch durchgesetzt. In ihren Schulen unterrichteten selbstbewusste Lehrerinnen selbstbewusste Schülerinnen, so wollte es Mary Ward. Von ihrem Kampf vor 400 Jahren profitieren kleine und große Mädchen in Westeuropa noch heute. Auch meine Enkelin.
Aber anderswo ist es noch lange nicht so. Da entscheiden immer noch Väter und Brüder darüber, was Mädchen tun und denken dürfen. Es gibt genug Religionswächter, die sie dazu anstacheln. Und Familienoberhäupter, Clanchefs. Sie haben von ihrer Warte her gute Gründe: Wer lesen und schreiben kann, kann auch seine Rechte nachlesen und stellt möglicherweise vieles von dem in Frage, was bisher gegolten hat. Das bringt Unruhe in die gewohnten und bequemen Abläufe. Es gibt leider noch genug Mütter, die dabei zusehen, wie ihre Töchter unwissend gehalten werden. Weil sie die Unruhe fürchten. Das alles ist himmelschreiendes Unrecht. Und braucht noch viele Menschen wie Mary Ward, die für gleichberechtigte Bildung kämpfen. Vor allem für die Bildung von Frauen und Mädchen! Überall!
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An Gott glauben – ist für mich so wichtig wie atmen und essen. Es gehört zu meinem Leben, ich kann gar nicht anders. Und es bedeutet mir viel. Für mich ist das „normal“. Andere sehen das anders. Sie glauben nicht an einen Gott, und finden das ganz normal. Sie vermissen auch nichts. Das sagen viele auch laut. Auch wenn ich selbst anders denke, ich bin froh, dass sie es so sagen können. Ich bin froh, in einem Land leben zu dürfen, in dem Glauben Privatsache ist. Niemand wird hier gezwungen, einen bestimmten Glauben zu haben oder überhaupt zu glauben. Und niemand wird am Glauben gehindert.
Julian Barnes, ein englischer Schriftsteller schrieb: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn!“ Was mag das wohl sein, was er vermisst, frage ich mich. Vielleicht vermisst er ja den Gedanken, dass mit den Grenzen dieser Welt eben doch noch nicht alles erzählt ist. Dass wir Menschen zwar kostbare Geschöpfe, aber nicht Dreh- und Angelpunkt des Universums sind? Oder vermutet er bei glaubenden Menschen etwas, was ihnen das Leben erleichtert? Vielleicht ist es ja doch nicht so egal, ob ein Mensch an Gott glaubt oder nicht. Ich weiß es nicht wirklich, kann nur beschreiben, was ich selbst erlebe. Und was mir andere erzählen.
Vielleicht ist es auch gar nicht sinnvoll, zu vergleichen. Ich kann für mich sagen: Mein Glaube hilft mir, die Hoffnung aufs Leben zu behalten. Auch dann, wenn die Nachrichten gerade mal wieder so bedrückend sind, dass man sie kaum hören möchte. Auch dann, wenn es bei mir gerade mal nicht so gut läuft. Ich hoffe darauf, dass Gott meinem Leben Sinn gibt. Dass Gott dem Leben überhaupt Sinn gibt. Und dass er meine Wege mit mir geht.
Und weil er meine Wege mit mir geht, kann ich mit ihm auch streiten. Kann ihn verantwortlich machen, mit ihm kämpfen – wenn es in meinem Leben kneift oder wenn ich die Katastrophen dieser Welt nicht mehr aushalte. Gott hält meine Klage aus. Er hält auch aus, wenn ich zum tausendsten Mal um Hilfe bitte. Oder zum zweitausendsten Mal denselben Fehler mache.
Mir tut das gut, und es gibt mir enorme Kraft. Und deshalb möchte ich Gott in meinem Leben nicht vermissen!
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Niemand steht gerne in der Schlange – vor der Post, beim Bäcker, an Kaufhauskassen. Ich auch nicht. Da will ich heute doch nur fröhlich „mal schnell“ zum Bäcker, ein Brot kaufen. Aber aus dem „mal schnell“ wird nichts: Warteschlange.
Hilft also nichts, ich muss mich anstellen. Und warten. Erst mal gucken, warum es heute so lange dauert. Aha, nur ein Brotverkäufer. Die andere Fachkraft ist mit Nachlegen und Backen beschäftigt. Also geht es eben nur langsam. Warten ist langweilig. Viele holen deshalb während des Schlangestehens ihr Handy raus. Manchmal mache ich das auch. Meistens aber übe ich mich einfach im Schlange stehen. Wie das geht? Es ist eigentlich ganz leicht: Ich stehe in der Schlange und nehme das einfach so wahr. Sonst nichts. Und bevor jetzt jemand die Augen verdreht: Ja, ich spüre dann aufmerksam hin, wie ich stehe, wie meine Füße auf dem Boden sind, und wie mein Rücken aufgerichtet ist. Wie ich ein- und ausatme. Wie kalt die Luft ist. Lauter klassische Grundübungen der Achtsamkeit. Das mache ich, solange ich warten muss. Einfacher gesagt: Ich konzentriere mich einfach auf meinen Körper. Das ist alles. Und die Zeit vergeht ruckzuck.
Da in der Warteschlange bekomme ich unfreiwillig eine kleine Pause geschenkt. Ob ich mich ärgere oder nicht, das wird die Warterei nicht abkürzen. Also mache ich was draus. Kann nachdenken, was ich noch tun müsste heute. Oder was ich erlebt habe. Ganz oft mache ich ein bisschen sightseeing: Wer steht denn noch mit mir hier, kenne ich da jemanden? Gerne gucke ich auch anderen beim Einparken zu. Manchmal warten Eltern mit Kindern, die sind quengelig oder mitteilungsfreudig. Und ich freue mich an ihrer Lebendigkeit. Langweilig ist mir beim Warten längst nicht mehr.
Warten ist manchmal anstrengend und kann nerven. Ich muss es nicht schönreden. Aber wenn es sich schon nicht verhindern lässt, kann ich es auch annehmen, wie es ist. Und erlebe eine geschenkte Pause.
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Jahresanfang ist für viele eine Zeit zum Ausmisten. Und das ist nicht zu übersehen: Die Kleidercontainer quellen bereits über. Auf dem Wertstoffhof trifft sich gefühlt der halbe Ort zum Entsorgen. Ein Auto nach dem anderen wird ausgeladen, Papier, Gläser, Kunststoffe, Gartenabfälle. Ich stehe da mit Elektroschrott, alten CDs und überflüssigen Kabeln und suche die passenden Container.
Das Jahr steht vor uns mit seinen vielen Tagen, die noch so unbeschrieben sind. Und da geht es offenbar vielen so: Sie möchten nicht so viel Altes in das frische Jahr mitnehmen. Sondern leichter werden. Den Drang dazu verspüre ich auch, jedes Jahr am Anfang besonders. Und wenn ich kann, nutze ich diese schöne Neujahrs-Energie. Also wird geräumt, sortiert, entsorgt und auch verschenkt. Natürlich mache ich das auch später im Jahr. Aber zu Beginn hat es einen eigenen Charme. Da habe ich irgendwie mehr Mut, und trenne mich nun wirklich von den viel zu großen Salatschüsseln, die seit Jahren ungenutzt im Schrank stehen. Sie stammen aus einer anderen Lebenszeit, als unsere Familie noch zu vielen Festen Salate beisteuerte. Aber schon lange brauche ich nicht mehr so viele große Schüsseln. Die dürfen jetzt endlich in den Second-Hand-Laden.
So beginnt mein neues Jahr mit viel Schwung. Und dem Mut zum „Weniger“. Das fühlt sich so gut an: Weniger im Schrank gibt mir mehr Luft! Es wird übersichtlicher.
„Es ist gut, wenn das Haus leichter wird!“ sagte unser sehr alter Vater, als wir gemeinsam auch bei ihm einen seiner übervollen Schränke ausräumten. Es ist gut, wenn das Haus leichter wird. Das ist ein gutes Wort – damit kann ich gut in das neue Jahr starten. Und fühle mich selbst auch viel leichter.
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„Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt?“ Diese Frage steht schon in der Bibel. Jesus hat sie gestellt. Er war drei Jahre lang mit seinen Jüngern unterwegs von Ort zu Ort. Auf diesen Wegen haben sie ihn beobachtet und kennengelernt. Er hat ihnen viel von dem erzählt, was ihn innerlich bewegt hat. Aber sie haben auch miterlebt, wie er Kranke heilt und Traurige tröstet. Wie er seinen Kopf durchsetzt, wenn er glaubt, dass es nötig ist. Und wie er mit denen streitet, die glauben, alles besser zu wissen über Gott. Und wenn ihm alles zu viel wurde und er erschöpft war, hat er sich zurückgezogen an einen einsamen Ort. Auch das haben seine Freundinnen und Freunde von ihm gelernt. Sie haben gespürt, dass eine große Kraft von ihm ausgeht.
Wer das alles verstehen will, muss mit ihm gehen. Das haben viele damals begriffen und haben sich mit ihm auf den Weg gemacht. Es berührt mich sehr, dass offenbar auch vor so langer Zeit schon viele Menschen das Gefühl hatten, „sich selbst zu verlieren“. Das scheint nicht nur ein modernes Phänomen zu sein. Ich höre diesen Satz öfter, wenn Menschen zu Besinnungstagen kommen. Sie sagen dann: „Ich glaube, ich habe mich selbst verloren“, und oft laufen schon die Tränen. Sie spüren sich nicht mehr richtig. Wissen nicht mehr, was sie wirklich wollen, was ihnen guttut, was sie brauchen. Aber allein das Angebot, darüber sprechen zu dürfen, ist schon eine erste Hilfe. Und was die meisten dann als Erstes wieder spüren ist, dass sie traurig sind, müde und voller Schmerz.
Manchmal ist diese Not so groß, dass ein paar Tage Auszeit nicht ausreichen. Dann braucht es therapeutische Hilfe, vielleicht auch eine Reha. Oft aber können mehrere Tage Stille und Einkehr schon viel bewirken. Dann kann jemand erst mal ausruhen, sich besinnen, in sich hineinhorchen, einmal nichts tun. Nichts tun hilft dabei, mehr über das eigene Leben nachzudenken. Vielleicht auch beten. Und in all dem kann jemand auch neu entdecken: Jesus will mein Freund sein. Er geht mit mir durch mein Leben. Er ermuntert mich, mehr in die Tiefe zu schauen. Äußerliches ist nicht so wichtig. Mit Jesus an meiner Seite bin ich genug. Da muss ich nicht noch die halbe Welt gewinnen. Und das ist eine großartige Entdeckung.
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Es ist Konzert-Abend. Schon beim Ankommen spüre ich die festliche Stimmung. Schön angezogene Menschen strömen in die Festhalle. Sie sind voller Vorfreude. Ich warte noch auf eine Bekannte und schaue so lange dem Ankommen anderer Gäste zu. Alle freuen sich auf einen jungen Künstler, ein gutes Orchester und schöne Musik.
Diese besondere Vorfreude-Stimmung ist vermutlich immer ähnlich, egal ob Jazz-Abend, Mega-Event eines angesagten Schlagerstars oder Sinfoniekonzert. Musik ist immer Geschmacksache, da gibt es kein Richtig oder Falsch, sondern nur: Gefällt sie? Macht sie Freude? Berührt sie das Herz? Nur darum geht es. Und immer schwingt vor dem Konzert die Vorfreude von Gleichgesinnten. Hier im Konzert ist es jetzt so: Man sieht sich und sucht seinen Platz. Ist ein bisschen aufgeregt. Blättert im Programmheft. Und dann beginnt die Musik.
Ich höre zu und schaue zu. In dem aktuellen Konzert habe ich gestaunt, wie jung die meisten Musiker sind! Das hat mir gefallen. Die Nachwuchskräfte sollen doch zeigen können, was sie draufhaben. Und wie international sie sind! Das ist herrlich. Vermutlich hat die Hälfte Migrationshintergrund. Auch das gefällt mir. Weil das bei Musik nur gut sein kann. Klassische Musiker studieren auf der halben Welt und kommen aus der halben Welt. Sie bringen viel Können von anderswo mit, und holen sich ihre Eindrücke von überall. Und dann ist ja auch noch die Musik, die sie spielen. Die kommt aus Deutschland, England und Italien, aus Frankreich und Amerika, einiges auch aus dem asiatischen Raum, und ja, auch von russischen Komponisten.
Musik kennt keine Grenzen. Ist das nicht wundervoll? Sie kann zu jedem sprechen. Musikhören braucht keine Sprachkenntnisse. Musik trifft einfach direkt ins Gefühl. Mitten rein. Sie erzählt von Trauer und Freude, von Aufregung und Geheimnissen – ich bin einfach selig in einem wunderbaren Bad von Klängen. Und so erlebe ich diesen Konzert-Abend als großes Geschenk an die Lebensfreude.
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Haben Sie heute schon jemanden angelächelt? Habe ich jemanden angelächelt? Da muss ich kurz überlegen. Ja, es fallen mir ein paar Leute ein. Der Inhaber der Postfiliale. Der ist immer freundlich, selbst im größten Stress. Die unbekannte Autofahrerin, die mich hat einscheren lassen. Die Enkelkinder beim Bilderbücherlesen per Video. Erwartungsvoll freundlich schauen sie mich immer an, damit ich endlich loslege. Wenn ich so länger darüber nachdenke, waren es eine ganze Reihe von Menschen und viele Lächelmomente. Selbst wenn ich mich jetzt dran erinnere, muss ich noch einmal lächeln. Um das Lächeln scheint es einen besonderen Zauber zu geben.
Die meisten Menschen lächeln zurück, wenn man sie anlächelt. Das wirkt wie so ein bisschen Sonne. Und es tut gut. Ehrlich, ich kann das gebrauchen! Vor allem jetzt, wenn es so früh dunkel wird und sich alle Leute schnell wieder in ihre Wohnungen verkriechen. Die Abende sind lang. Aber – wenn ich tagsüber Lächeln sammeln konnte, fühlen sie sich viel wärmer an. Angelächelt werden und selbst Lächeln macht gute Laune.
Ich frage mich, was eigentlich dabei zwischen zwei Menschen geschieht. Ich glaube, dass wir für einen Moment eine Verbindung spüren: Es gibt dich und es gibt mich. Lächeln kann viel bedeuten. Es kann heißen: Ich tu dir nichts. Oder: Hab keine Angst. Oder: schön, dass es dich gibt. Oder einfach nur: Danke. Für einen kurzen Moment bin ich nicht alleine. Und am Abend, wenn das alles schon zurückliegt, kann es gut sein, dass mir die Erinnerung an solche Momente noch mal ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
Ich stelle mir vor - mal ganz menschlich gedacht – dass Gott auch manchmal über uns lächelt. Trotz aller Katastrophen, die wir Menschen verursachen. Dass Gott sich freut über das Kind, das an seiner Brezel kaut – oder darüber, wenn einer dem anderen hilft – über zwei Verliebte – und über tausend andere Momente jeden Tag.
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„Hast Du Gott schon gesehen?“, fragt der Dreijährige, der immer alles genau wissen will. Für sein Alter ist er enorm vorwitzig. Und manchmal bringt er mich ins Schwitzen. Was er alles wissen will! Was er alles fragt! Wie soll ich ihm so antworten, dass er es versteht? Und jetzt also die Frage nach Gott. Tja...
„So richtig sehen können wir Gott nicht. So wie ich Dich sehe, so kann ich Gott nicht sehen.“ sage ich dem Kind und stupse es auf die Nase. Und ich sage es nicht, aber denke es: Ich kann fühlen, dass Gott da ist. Ständig und immer mal auch überraschend. „Du bist ein Gotteskind“, sage ich also zu ihm. Es scheint ihm zu gefallen – er schaut mich nachdenklich an und grinst dann. Ich sehe in ihm diesen Gedanken Gottes. Wenn ich ihn anschaue mit seinen schönen Augen und seiner unbändigen Neugier auf die Welt, dann sehe ich etwas von Gottes Schöpfungsidee. Dann bin ich für einen Moment total glücklich. Allerdings ist der Junge auch ein Gotteskind, wenn er gerade einen seiner Wutanfälle hat. Wie das bei Dreijährigen eben so ist. Obwohl ich das mit dem Gotteskind in dem Moment dann überhaupt nicht fühle. Er aber trainiert seinen Willen – der auch eine Gabe Gottes ist. Den eigenen Willen braucht er später dringend. Wie das sozialverträglicher geht, darf er noch lernen.
„Auch Du bist ein Kind Gottes!“ - Was für ein Wort! Was für eine schöne Zusage! Vielleicht sollten wir Erwachsenen uns das auch immer wieder gegenseitig sagen – oder wenigstens übereinander denken? Vor allem dann, wenn ich den Menschen mir gegenüber gerade gar nicht so liebenswert finde. Gerade dann.
Ich weiß, das ist nicht immer leicht. Und es gibt Personen, da bleibt einem dieses Wort im Hals stecken. Aber dennoch sind auch solche Personen Menschen, auch in ihnen steckt ein Gedanke Gottes. So schwer es mir fällt, das dann zu akzeptieren.
Die schwierigste Aufgabe will ich aber nicht vergessen: Da geht es um mich selbst. Vor allem dann, wenn ich mich mal wieder so gar nicht leiden mag. Gerade dann ist ein Blick in den Spiegel wichtig. Dass ich dann meinem Spiegelbild zusage: Ja, auch Du bist ein Kind Gottes!
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Für heute bin ich fertig – mit den Blättern auf dem Gehweg. Jedes Jahr dasselbe Theater: Die uralten Ahornbäume im Park gegenüber werfen ihre Blätter ab. Einen Teil davon weht der Wind in meine Richtung. Und ich muss sie dann zusammenkehren und entsorgen. Ein paar Wochen lang geht das so. Bis das letzte Blatt gefallen ist und Ruhe einkehrt. Bei den Bäumen, für meinen Besen und für mich.
Ich müsste das nicht haben - aber es geht halt nicht anders. Der Gehweg wird viel genutzt. Wenn die Blätter nassgeregnet sind, wird das die reinste Rutschbahn. Ich will niemand in Gefahr bringen.
„So ein Dreck“ schimpfte vor vielen Jahren eine Nachbarin über die Blätterflut. Ich habe ihre Stimme noch im Ohr und muss jedes Jahr dran denken, wie verärgert sie war. Ich sehe das anders. Ja, die Blätter sind lästig. Das stimmt schon. Aber ich habe damals beschlossen, dass für mich die Blätter kein Dreck sind. Und wenn es mich noch so anstrengt oder in meinen Plänen stört – die Blätter gehören zur Natur, sage ich mir und hole den Besen.
Andere werden das anders sehen. Aber für mich ist es kein Weltuntergang, sondern eine gute Arbeit: Beim Kehren bin ich an der frischen Luft und habe auch danach reichlich Bewegung. Denn die Säcke voller Blätter müssen ja noch mit dem Handkarren zum Wertstoffhof. Und es gibt Kontakte. Manchmal bleibt jemand kurz stehen und wir reden ein paar Worte. Auch nett. Leute lächeln mir zu, wenn ich einen Moment mit dem Besen pausiere, damit sie vorbeikommen. Kinder gucken, was ich da mache. Aber wehe, wenn der Wind meine mühsam zusammengekehrten Blätter sofort wieder auseinander pustet. Dann ist es auch mit meiner inneren Ruhe vorbei. Ich kann mich schon ganz heftig ärgern.
Aber – und das zieht sich durch vom ersten bis zum letzten Tag meines jährlichen kleinen Blätter-Kampfes: Mein größtes Gefühl ist Dankbarkeit. Jedes Jahr danke ich den riesigen Bäumen dafür, dass sie da gegenüber wachsen. Sie sind das ganze Jahr über wichtig. Im Frühjahr freue ich mich, wenn sie endlich wieder grün werden. Vögel wohnen in ihren Ästen und machen mich froh. Im Sommer spenden die Bäume richtig viel Schatten. Sie filtern die Luft und produzieren Sauerstoff. Und im Herbst, wie gesagt, zwingen sie mich zu Bewegung an der Luft. Ich bin so froh, ihr Bäume, dass Ihr vor über 100 Jahren dort gepflanzt worden seid. Und ich bin froh, dass ihr immer noch dasteht, groß und mächtig. Und voller Leben.
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