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SWR2 / SWR Kultur

 

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SWR Kultur Wort zum Tag

08MAI2024
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„Was macht Menschen glücklich?“ - das untersucht eine Langzeitstudie der Universität Harvard seit über 80 Jahren. 1938 haben die Forschenden mit der Studie begonnen. Seitdem haben sie über 2000 Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben gefragt: Was macht Sie glücklich? Die Haupterkenntnis, die sie dabei gewonnen haben, ist: der Schlüssel zu einem glücklichen Leben sind Beziehungen.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, erfüllende Beziehung zu anderen Menschen tragen entscheidend dazu bei, dass es einem selbst gut geht. Wer sich jeden Tag darum bemüht eine Verbindung zu einem anderen Menschen aufzubauen, der hat gute Chancen während und am Ende des Lebens glücklich und zufrieden zu sein. Das muss nicht unbedingt eine partnerschaftliche Beziehung sein. Eine positive Wirkung haben auch der Kontakt zu Freunden oder Gespräche mit Fremden. Und es kommt wohl auch gar nicht unbedingt so sehr darauf an, was man gemeinsam tut. Hauptsache ich trete immer wieder in Verbindung zu anderen.

Ist es also gar nicht so schwer glücklich zu sein? Ich glaube, dass klingt einfacher als es im Alltag oft ist.

Ich stelle es mir besonders herausfordernd vor, wenn man allein lebt, und ein regelmäßiger Kontakt zu Freunden oder zur Familie sich im Alltag nicht so ohne weiteres ergibt. Vielleicht, weil man selbst sehr beschäftigt ist, oder die anderen wenig Zeit haben. Weil wichtige Menschen weit weg leben oder ein nahestehender Mensch verstorben ist. Dann kostet es Mühe und Aufwand, immer wieder die Verbindung zu suchen. Vielleicht besteht auch die Angst, sich anderen zuzumuten, mit allem, was einen beschäftigt oder wie man gerade drauf ist.

Aber manchmal ist es auch gar nicht so einfach, wenn ich in einer Partnerschaft oder Familie lebe. Die Eltern haben auf der Arbeit viel zu tun, die Kinder sind in der Schule gefordert und nebenher sollte noch der Haushalt erledigt werden. Und dann gibt es da noch das Handy, das uns immer wieder lockt.

Zeit und Aufmerksamkeit habe ich nur begrenzt und ich muss mich entscheiden, wem oder was ich sie widme: gleich heute melde ich mich mal wieder bei einem guten Freund, das nächste Mal steige auf das Gesprächsangebot des Nachbarn ein. Und ich nehme mir vor, wenn ich unterwegs bin die Menschen und nicht mein Smartphone anzuschauen. Danke, liebe Harvard-Studie, dass du mich daran erinnert hast, was eigentlich auch ohne dich gewusst habe: mit Menschen in Verbindung sein macht glücklich:  mich – und hoffentlich auch die anderen. 

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SWR Kultur Wort zum Tag

07MAI2024
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Himbeere oder Heidelbeere? Ich zögere kurz, nehme das Glas Himbeerjoghurt aus dem Kühlregal und packe es in meinen Einkaufswagen. Eigentlich wollte ich Erdbeerjoghurt kaufen, aber der ist aus. Früher hätte ich vermutlich länger für diese Entscheidung gebraucht. Aber in einem Seminar habe ich den Tipp bekommen, bei solchen kleinen Entscheidungen nicht zu lange nachzudenken. Der Dozent hat gemeint: Trainieren Sie ihren Entscheidungsmuskel in den alltäglichen Situationen, dann werden Ihnen auch größeren Entscheidungen leichter fallen.

Ich brauche oft lange, um eine Entscheidung zu treffen. Ich versuche alle Vor- und Nachteile abzuwägen, möchte sicher sein, welche der möglichen Optionen die richtige ist. Das ist prinzipiell nichts Schlechtes. Das Problem ist nur: Ich vertage die Entscheidung und denke immer mal wieder darüber nach, ohne wirklich weiterzukommen. Das belastet mich. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich nicht mutiger und entscheidungsfreudiger bin. Woher kommt dieses Zögern? Ich glaube es ist die Angst, mich für das Falsche zu entscheiden.

 Aber oft gibt es gar kein falsch. Die meisten Entscheidung muss ich zwischen zwei Dingen treffen, die beide gut sind: so wie Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt. Beide werden mir vermutlich schmecken.

Dieser Gedanke, dass ich bei den meisten Entscheidungen zwischen zwei guten Dingen wählen darf, war mir lange nicht bewusst. Mein Doktorvater mich damals darauf hingewiesen, als ich hin- und herrissen war, ob ich meine Promotion fortsetzen oder direkt ins Berufsleben einsteigen soll. Damals hat er gemeint: „Denken Sie daran, Sie entscheiden sich zwischen zwei guten Optionen, nicht zwischen einer guten und einer schlechten!“. Ich habe damals entschieden, meine Doktorarbeit weiterzuschreiben, und es unterwegs manchmal bereut. Im Nachhinein betrachtet kann ich mit der Entscheidung gut leben. Wahrscheinlich wäre das aber auch der Fall, wenn ich mich andersherum entschieden hätte.

Daran denke ich immer wieder, wenn eine Entscheidung ansteht. Und dann versuche ich, eine mutige Wahl zu treffen. So komme ich voran und trainiere gleichzeitig meinen Entscheidungsmuskel. Auch dann, wenn es um mehr als nur um Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt geht.

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SWR Kultur Wort zum Tag

06MAI2024
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Es war ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für einen Papst.  Am 6. Mai 2001, heute vor 23 Jahren, hat Papst Johannes Paul II. als erster Papst in der Geschichte eine Moschee betreten.  Zusammen mit dem damaligen Großmufti von Syrien hat er die Umayyadenmoschee in Damaskus besucht. Seite an Seite, jeder auf seinen Stock gestützt, haben die beiden über 80jährigen Männer gemeinsam den Gebetsraum betreten und damit ein Zeichen für Frieden und Verständigung zwischen Islam und Christentum gesetzt.

Der Großmufti hat in seiner Ansprache betont, dass die Religion die Menschen nicht zu Hass und Feindschaft aufrufen soll, sondern dazu, zusammenzukommen, sich kennenzulernen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Dem hat sich der Papst angeschlossen und gefordert, die beide Religionen sollten jungen Menschen vermitteln, andere zu respektieren und sie besser zu verstehen, damit sie ihre eigene Religion nicht dazu missbrauchen, um Hass und Gewalt zu fördern oder zu rechtfertigen.

Das Treffen wird damals live im syrischen Staatsfernsehen übertragen, und die Bilder gehen um die Welt. Im selben Jahr, nur wenige Monate später, erschüttern die islamistischen Anschläge vom 11. September die Welt. Im anschließenden „Krieg gegen den Terror“ sterben unzählige Menschen, die meisten von ihnen Muslime. Zehn Jahre später bricht in Syrien ein schrecklicher Bürgerkrieg aus, in dem der syrische Präsident Assad auf sein eigenes Volk schießen lässt.

Ich frage mich, was solche Zeichen des Dialogs wie der Moscheebesuch des Papstes bewirken können. Sind sie stark genug, um Hoffnung zu geben für ein besseres Miteinander auf unsere Erde?

In seiner Ansprache antwortet der Papst damals genau auf diese Frage. Er sagt: „Jede Person und jede Familie kennt Zeiten der Eintracht und dann wieder Augenblicke, in denen der Dialog zusammengebrochen ist. Die positiven Erfahrungen müssen unsere Hoffnung auf Frieden stärken, und den negativen Erfahrungen darf es nicht gelingen, diese Hoffnung zu untergraben.“

Ich möchte mir meine Hoffnung nicht rauben lassen. Auch wenn ich mich machtlos fühle, angesichts dessen, was gerade im Nahen Osten passiert. Dieser Konflikt wirkt sich auch auf unsere Gesellschaft aus, und ich merke wie viele Schritte des Dialogs hier noch zu gehen sind. Ich habe erfahren, dass Dialog nur funktioniert, wenn wir miteinander reden und uns gegenseitig kennenlernen. Dazu müssen wir uns aber begegnen. Ein Schritt dazu könnte sein, einfach mal die nächstgelegene Moschee zu besuchen.

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SWR2 Wort zum Tag

03FEB2024
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Was muss man tun, um geliebt zu werden? Manche offenbar gar nicht viel. Denn immer wieder höre ich den Satz: „Ich weiß gar nicht, womit ich diese Liebe verdient habe.“ Manchmal strahlt die Person mich dabei an, und ich spüre, wie glücklich und dankbar sie ist, weil sie sich geliebt fühlt, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Ein anderer dagegen, bricht beim selben Satz in Tränen aus und beginnt zu weinen. Dann spüre ich, wie die Person tief in ihrem Inneren überzeugt ist, nicht gut genug zu sein, um diese Liebe geschenkt zu bekommen. Das zu hören, macht mich traurig, weil ich merke, da wertet sich ein Mensch selbst ab.

Ich glaube, dass Liebe im Idealfall immer unverdient ist, ansonsten ist es keine Liebe. Sonst ist es ein Geschäft, das in etwa so abläuft: du hast dich zu verhalten, wie ich es von dir erwarte. Und wenn du dich entsprechend verhältst, dann hast du es verdient, dass ich dich liebe. Also tu gefälligst etwas dafür.

Ich bin überzeugt: Ideale Liebe ist immer unverdient, weil sie geschenkt wird, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und weil sie nicht aufhört, wenn die Gegenleistung ausbleibt. Sie liebt, weil sie nicht anders kann. Aber das Leben ist nicht immer ideal. Ich glaube, wir lieben andere Menschen auch deswegen, weil sie uns guttun und sich somit auf eine gewisse Weise unsere Liebe auch verdient haben.

Ich möchte nicht, dass sich meine Frau meine Liebe immer wieder aufs Neue verdienen muss, aber ich liebe sie natürlich auch, weil ich weiß, dass sie mich unterstützt, wenn es mir schlecht geht, mir zuhört, wenn ich ihr etwas erzählen will und mich in den Arm nimmt, wenn ich es gerade brauche. Und sicherlich würde meine Liebe zu ihr auf eine harte Probe gestellt, wenn sie all das, von heute auf morgen einstellt.

Bei unseren Kindern ist das nochmal etwas anderes. Als Eltern möchten wir ihnen das Gefühl geben, dass wir sie lieben, ohne dass sie etwas dafür leisten müssen, und dass wir sie immer lieben werden, egal was passiert. Und trotzdem geben wir Ihnen sicher auch manchmal das Gefühl, in diesem Moment gemocht und geliebt zu sein, weil sie etwas gut gemacht haben. Aber ich hoffe, wir haben ihnen genug Liebe geben können, dass in ihnen das Vertrauen gewachsen ist: Liebe muss ich mir nicht verdienen, Liebe bekomme ich geschenkt.

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SWR2 Wort zum Tag

02FEB2024
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Seit vielen Jahren treffen sich Menschen der jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeinden aus Emmendingen. Wir sitzen gemeinsam um einen Tisch, essen, lachen, unterhalten uns über unsere Religionen und planen gemeinsame Veranstaltungen. Über die Zeit ist ein vertrauensvolles Verhältnis entstanden. Aber nach dem schrecklichen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, habe ich mich kurzzeitig gefragt, ob unsere Freundschaft stark genug ist, diesen Konflikt zu überstehen.

Unser erstes Treffen danach war für den 9. November geplant. Zu dieser Zeit hat Israel die Hamas im Gazastreifen angegriffen. Bei den Angriffen sterben unschuldige Menschen. In Deutschland ist die gesellschaftliche Stimmung angespannt und gespalten. Ein Teil der Menschen solidarisiert sich mit Israel, ein anderer mit den Palästinensern. Es gibt antisemitische Hetze und jüdische Menschen und Einrichtungen werden angegriffen. Deshalb frage ich mich, wie unser Treffen unter diesen Vorzeichen werden wird.

Am Abend sind dann zumindest mal alle da. Und dann gleich die erste Frage von den Muslimen an die Juden: „Wir verurteilen und verabscheuen das, was die Hamas gemacht hat, zutiefst. Aber jetzt leiden, hungern und sterben durch die Angriffe Israels viele Menschen im Gazastreifen, vor allem auch Frauen und Kinder. Wie können wir als Muslime solidarisch mit den Palästinensern sein, ohne als antisemitisch zu gelten?“

Ein steiler Einstieg. Ich muss erstmal tief durchatmen, auch weil ich zuvor erfahren habe, mit welcher Angst unsere jüdischen Freunde gerade leben, Angst um Verwandte in Israel, und weil Juden in Deutschland verstärkt angefeindet werden. Aber der Rabbiner antwortet ruhig und für mich sehr beeindruckend. Er sagt: „Wir sind uns einig, dass wir es furchtbar finden, dass unschuldige Menschen sterben. Und trotzdem fühlt sich jeder einer Seite in diesem Konflikt näher: Ich den Menschen in Israel, weil es mein Volk ist, und ihr den Palästinensern, weil sie Muslime sind. Das ist doch normal, so sind wir Menschen.“

Vielleicht war dieser Satz der Schlüssel, dass wir an diesem Abend und darüber hinaus weiterhin gut miteinander reden können. Wir erlauben unserem Gegenüber, sich in einem Konflikt der anderen Seite näher zu fühlen, ohne ihm vorzuwerfen, unmenschlich zu sein. Wir fordern nicht, die Seite zu wechseln, aber wir erwarten, auch das Leid und den Schmerz der jeweils anderen Seite zu sehen und anzuerkennen.

Von Menschen, die unmittelbar betroffen sind, ist das vielleicht zu viel verlangt, aber wir können uns darum bemühen.

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SWR2 Wort zum Tag

01FEB2024
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Zeuge sein, ohne dabei gewesen zu sein. Das geht, und manchmal ist es sogar ganz wichtig. In meiner Arbeit in der Psychiatrie höre ich viele Lebensgeschichten. Da ist manches Schöne dabei, aber oft überwiegt das Schwere. Ich arbeite dort als Seelsorger, nicht als Therapeut. Und trotzdem hoffe ich, dass meine Arbeit für Menschen, denen ich begegne, heilsam ist. Was ich ihnen anbieten kann, ist mit ihnen zu sprechen. Wenn Sie das Angebot annehmen, höre ich ihnen möglichst aufmerksam und empathisch zu. Sie können mir erzählen, was sie beschäftigt. Und oft erzählen sie dann von Verletzungen oder von Schicksalsschlägen. Manchmal geht es auch darum, was ihnen in Ihrem Leben bisher gefehlt hat.

Ich höre zu und übernehme dabei auch die Rolle eines Zeugen. Ich bezeuge: Ja, Ihnen ist da Schlimmes passiert. Das, was da geschehen ist, war nicht richtig und hat Sie schwer verletzt. Dabei erinnere ich mein Gegenüber immer wieder daran: achten Sie gut auf sich. Erzählen Sie nicht mehr als Ihnen jetzt guttut.

Es erscheint erst mal nicht viel, was ich da tue. Aber ich bin sicher, dass es wichtig ist, dass meine Gesprächspartner einen Zeugen haben, der zuhört und anerkennt, was sie erzählen. Das gilt übrigens auch für schöne Erlebnisse. Wir brauchen andere Menschen, die würdigen, was wir erlebt haben. Das löst noch keine Probleme, aber oft erleichtert es für einen Moment und kann ein Schritt sein, dass sich etwas zum Besseren verändern kann.

Das gilt nicht nur bei meiner Arbeit, sondern auch für meinen Alltag. Wenn ich ehrlich bin, dann mache ich da oft nicht so einen guten Job. Vor allem wenn es nicht so wichtig erscheint. Wenn mein Sohn beim Videospielen ein besonders schönes Tor erzielt hat, dann berichtet er mir stolz davon und erwartet, dass ich mich mit ihm freue und stolz auf ihn bin. Oder ein Freund erzählt mir, dass ihn ein anderer Freund von uns gerade nervt. Da bin ich dann manchmal zu schnell dabei Lösungen anzubieten oder zu beschwichtigen. „Mach dir mal keinen Kopf, das renkt sich schon wieder ein.“ Lösungen suchen und Mut zusprechen ist sicher wichtig, aber vielleicht erst in einem zweiten Schritt und nur dann, wenn es überhaupt gefragt ist. Erst mal reicht es vielleicht auch, Zeuge zu sein.

Das Leben ist manchmal schwierig, aber immer wieder auch schön und es wird reicher und leichter, wenn wir uns das immer wieder gegenseitig bezeugen.

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SWR2 Wort zum Tag

25NOV2023
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Der Film „Der Club der toten Dichter“ hat mich als Jugendlicher sehr berührt. Ein Zitat aus dem Film ist mir geblieben. Es geht so: „Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, ich wählte den, der weniger betreten war, und das veränderte mein Leben.“ Es sind die letzten Zeilen aus dem Gedicht „The Road Not Taken“ des US-amerikanischen Dichters Robert Frost – zugegebenermaßen in einer sehr freien Übertragung.

Das Zitat habe ich lange Zeit so verstanden: Immer wieder im Leben werde ich an Abzweigungen kommen, wo ich nur einen der beiden Wege nehmen kann. Spannender scheint es zu sein, denjenigen zu nehmen, der etwas weniger betreten ist, d.h. mich für das zu entschieden, was außergewöhnlicher ist, etwas, das nicht so viele Leute machen.

Bei meinem letzten Spaziergang im Wald ist mir noch was dazu eingefallen. Immer wieder in meinem Leben komme ich in ähnliche Situationen, wo ich mich entscheiden muss, wie ich mich verhalte. Ich ärgere mich zum Beispiel wie sich ein Kollege mir gegenüber verhalten hat. Entweder schlucke ich wie üblich meinen Ärger runter, denke, was soll‘s, reg dich nicht auf, das ist es nicht wert. Das wäre der Weg des geringeren Widerstandes. Oder aber ich probiere etwas Neues, vielleicht auch etwas Unangenehmeres: Ich spreche ihn darauf an und sage ihm, dass ich mich über ihn geärgert habe.

Einer der beiden Wege ist in der Regel der, den ich häufiger betrete. Ich nehme ihn, weil ich mich auf ihm sicher fühle, weil er mir entspricht oder weil ich meine, dass ich bisher auf ihm auch nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe. Aber tatsächlich verzichte ich dadurch auf den zweiten Weg und damit auch auf die Chance, zu entdecken, was mich auf ihm erwartet.

Möglicherweise stellt sich der Weg als viel angenehmer heraus als ich gedacht habe: Mein Kollege entschuldigt sich; er wusste gar nicht, dass mich sein Verhalten so nervt. Oder aber der Weg bietet mir einen neuen Ausblick: Mein Kollege vertraut mir an, dass er privat gerade sehr unter Druck steht, und ich kann ihn jetzt besser verstehen. Oder im Gespräch merke ich, welche Anteile ich an unserem Konflikt habe. Vielleicht fordert der Weg viel von mir, aber am Ende bin ich stolz, wenn ich merke. Wow, ich hab’s geschafft.

Eine Erfahrung mache ich auf alle Fälle: dass ich tatsächlich eine Wahl zwischen diesen beiden Wegen habe. Dass ich nicht auf den einen ausgetretenen festgelegt bin. Und zwischen zwei Wegen entscheiden zu können, gibt mir innere Freiheit und das verändert mein Leben.

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SWR2 Wort zum Tag

24NOV2023
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Ich kenne Boulos seit er sechzehn ist. Wir sind uns im Jahr 2000 zum ersten Mal in seiner Heimat Syrien begegnet. Immer wenn ich zu Arabischkursen in Damaskus war, habe ich ihn in Aleppo besucht. Inzwischen lebt er in Belgien und sagt: „Belgien hat mich gerettet.“

Sein Weg dorthin verlief in etwa so: Zu Beginn der Arabischen Revolution in Syrien reist Boulos mehrmals aus geschäftlichen Gründen zu einer Partnerfirma nach Belgien. Er hofft, dauerhaft in Belgien bleiben zu können, das funktioniert aber nicht. Zurück in Syrien entscheidet er, in den Libanon zu flüchten, um nicht in die syrische Armee eingezogen zu werden. Von dort aus beantragt er ein Visum für Deutschland, wo er studieren möchte. Die Deutsche Botschaft in Beirut aber verweigert ihm ein Visum, obwohl er zu einem Uni-Sprachkurs mit anschließendem Studium an einer deutschen Universität zugelassen ist. Die Botschaft glaubt ihm nicht, dass er wirklich studieren will. Wenig später wird er dann willkürlich im Libanon verhaftet. Wegen absurder Anschuldigungen kommt er in ein Militärgefängnis, wo er gefoltert wird.

Als er auf Kaution aus dem Gefängnis herauskommt, gelingt es ihm, bei der belgischen Botschaft ein „humanitäres Visum“ zu erhalten. Er kann den Libanon verlassen und in Belgien Asyl beantragen.

Dort lebt er nun, arbeitet im Hafen von Antwerpen, lernt die flämische Sprache und versucht sich ein neues Leben aufzubauen. Vor einiger Zeit hat Boulos mich besucht. Wir haben viel über die Zeit im Libanon geredet. Er hat gesagt: „Ich habe immer gedacht, dass ich, wenn ich mich unpolitisch verhalte, auch in einem Unrechtsstaat vor Verhaftung und Folter geschützt bin. Im Libanon habe ich die bittere Erfahrung gemacht, dass ich mich geirrt habe.“ Deshalb ist Boulos jetzt so froh, in Belgien zu leben. Er fühlt sich dort sicher und vertraut darauf, dass er die belgische Staatsbürgerschaft erwerben kann, sobald er die notwendigen Bedingungen erfüllt. Und er möchte gerne allen Belgiern sagen: „Ich bin eurem Land unendlich dankbar, weil es mir das Leben gerettet hat.“ Es war sein Glück, dass der belgische Staat in seinem Fall Menschlichkeit gezeigt und ihm ein humanitäres Visum ausgestellt hat.

Wir diskutieren gerade in unserem Land, wie viel Menschlichkeit wir uns noch leisten können. Die Botschaft, die ich von Boulos gehört und verstanden habe lautet: Spart nicht mit eurer Menschlichkeit!

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SWR2 Wort zum Tag

23NOV2023
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„Was man anfängt, das bringt man auch zu Ende“ – dieser Satz hat sich wie eine Regel in mich eingebrannt, weil ich ihn als Kind immer wieder gehört habe. Aber ist diese Regel überhaupt sinnvoll?

Immer wieder höre ich von Menschen, die solche Glaubenssätze mitbekommen haben. Eine Patientin in der Psychiatrie hat mir im Gespräch ihren Glaubenssatz verraten. Er heißt: „Im Leben bekommt man nichts geschenkt.“ Und eine Bekannte, die drei Kinder großgezogen hat und inzwischen Oma ist, hat bisher auch nach einer übernommenen Regel gehandelt: Sie hat immer versucht, es allen recht zu machen.

Manche meiner Glaubensätze sind mir bewusst. Aber ich bin mir sicher, es gibt auch welche, die ich so verinnerlicht habe, dass ich sie gar nicht wahrnehme. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen so, wie sie es mir vorgeben und so prägen sie mein Leben.

Solche Glaubenssätze haben durchaus Vorteile: ich weiß, wie ich mich in bestimmen Situationen verhalten kann und habe klare Maßstäbe, was gut oder schlecht ist. Immerhin habe ich mit diesen Sätzen als Kompass bis jetzt überlebt.

Aber manchmal können sie mir auch das Leben schwer machen. Sie können mich z.B. daran hindern, glücklicher und zufriedener mit mir selbst zu sein, wenn ich sie für absolute Wahrheiten halte, die immer und überall gelten. Denn dann nehmen sie mir die Möglichkeit, Dinge auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Oder sie hindern mich auszuprobieren und zu erleben, was passiert, wenn ich etwas mal anders mache als sonst.

Meine Bekannte, die es immer allen recht machen wollte, hat ihren Glaubenssatz vor Kurzem über Bord geworfen. Sie hat entschieden: Du musst es nicht immer allen recht machen, du darfst auch mal biestig sein.

Die Patientin in der Psychiatrie, die überzeugt davon war, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt, hat auf einmal Dinge entdeckt, wo sie sehr wohl beschenkt war, z.B. mit einer treuen Brieffreundin, die ihr bis heute regelmäßig schreibt.

Und auch mein eigener Glaubenssatz, dass man zu Ende bringt, was man begonnen hat, konnte ich hier und da schon mal ignorieren. Ich habe gemerkt, dass ich sehr wohl etwas abbrechen konnte, ohne dass es fertig war. Und es hat weder mir noch jemandem anderen geschadet. Eine befreiende Erfahrung!

Ich glaube, es lohnt sich den eigenen Glaubensätzen auf die Spur zu kommen. Wenn sie mir bewusst sind, dann kann ich entscheiden, sie zu ändern, mich von ihnen zu lösen oder an ihnen festzuhalten. So wie es dem Leben dient.

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SWR2 Wort zum Tag

16SEP2023
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Ich liebe die Comics über den kleinen Jungen Calvin und seinen Stofftiger Hobbes. Ein Thema, das in den kurzen Bildergeschichten immer wieder auftaucht, sind Monster, die abends oder nachts in sein Zimmer kommen. In einer dieser Geschichten sitzt Calvin auf seinem Bett und fragt: „Sind heute Nacht irgendwelche Monster unter meinem Bett?“ Da hört er eine unbekannte Stimme unter dem Bett: „Nein, nö, nein!“. Und Calvin fragt weiter: „Falls irgendwelche Monster unter meinem Bett wären, wie groß wären sie dann?“ Und die Stimme unter dem Bett antwortet: „Sehr klein, geh jetzt schlafen!“. Daraufhin ruft Calvin laut nach seiner Mama.

Calvin ist mir sehr sympathisch, weil auch ich nachts manchmal Besuch von Monstern bekomme, die es eigentlich gar nicht gibt. Oder besser gesagt, die in Wirklichkeit keine Monster sind, aber nachts als solche daherkommen. Es sind Gedanken an Dinge, die mich beschäftigen und am Einschlafen hindern: ein Telefonat, das ich schon längst hätte führen sollen; ein Abgabetermin, der näher rückt, die Steuererklärung, die noch nicht gemacht ist.

Wenn ich mich selbst frage, ob das wirklich Monster sind, dann lautet die Antwort natürlich: Nein. Aber nachts überzeugt mich diese Antwort nicht immer. Wenn ich mich dann frage, wie groß diese „Monster“ sind, dann weiß ich eigentlich: sie sind nicht so groß, dass sie nicht zu bewältigen wären. Aber trotzdem haben sie nachts die Macht und die Größe, mir den Schlaf zu rauben.

Was dann tun? Wie kann ich gegen Monster kämpfen, die gar keine echten Monster sind? Manchmal hilft es mir aufzustehen und mir die Dinge, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, genauer anzuschauen. Sie alle einzeln auf ein Blatt Papier zu schreiben und mir zu überlegen, wie und wann ich sie am Tag angehen werde. Wenn das nicht hilft, dann liege ich gemeinsam mit meinen Monstern wach und versuche zu akzeptieren, dass sie jetzt gerade da sind und mich nicht schlafen lassen. Ich werde morgen früh vermutlich müde und gerädert sein, aber auch die Monster werden sich dann wieder in Herausforderungen verwandelt haben, die ich schon irgendwie bewältigen werde.

Ich habe gelernt, dass ich die Monster der Nacht nur tagsüber besiegen kann. Dadurch sind ihre Besuche deutlich seltener geworden, und ich kann inzwischen gut mit ihnen leben. Wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es noch die Strategie von Calvin: Jemanden zu Hilfe rufen; vielleicht nicht meine Mutter, sondern meine Frau, einen vertrauten Kollegen oder sogar professionelle Hilfe. Menschen, die mich dabei unterstützen, die Dinge anzuschauen und zu verändern, die mir nachts den Schlaf rauben.

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