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SWR Kultur Wort zum Tag
Es gibt so Tage, da frage ich mich am Abend: Was habe ich heute eigentlich geschafft? Vieles von dem, was ich mir vorgenommen habe, konnte ich nicht erledigen, weil ständig etwas dazwischengekommen ist. Oder ich habe viel Zeit und Arbeit in ein Projekt gesteckt und ich beginne zu zweifeln, ob es sich überhaupt lohnt. Wenn solche Tage und solche Projekte sich häufen, dann frage ich mich auch, wozu das Ganze überhaupt?
Es gab eine Zeit, da hat mich diese Frage sehr belastet. Und da bin ich auf ein Gedicht von Hilde Domin gestoßen, das mich unheimlich getröstet hat. Es beginnt mit den Zeilen:
„Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.“[1]
Das Gedicht greift meine Stimmung auf, nichts bewirken zu können und beschreibt dann in poetischen Worten das Gefühl, dass ich keine Spur hinterlasse, wenn ich mal nicht mehr da sein werde. Da fühle ich mich gut verstanden.
Aber Hilde Domin bleibt dabei nicht stehen, sondern spricht einen Gedanken aus, der etwas verändert. Bei allem, was ich mache, könnte vielleicht doch etwas von mir bleiben: der Ton meiner Stimme, mein Lachen und meine Tränen und ein paar meiner Worte. Vielleicht bleiben sie in den Menschen, denen ich begegne. Und so endet das Gedicht mit Worten, die mich trösten. Hilde Domin schreibt:
„Und im Vorbeigehen,
ganz absichtslos,
zünde ich die ein oder andere
Laterne an
in den Herzen am Wegrand.“
Die Worte trösten mich nicht nur, sie geben mir auch eine neue Perspektive. Sie lenken meinen Blick auf die Menschen, die mir begegnen. Vielleicht gerade auch auf die, die mich an manchen Tagen gehindert haben, mit meinen Sachen fertig zu werden. Oder die, mit denen zusammen ich etwas bewirken möchte.
Ich hoffe, dass ich ganz absichtslos die ein oder andere „Laterne in ihren Herzen angezündet habe“, wie es Hilde Domin nennt. Und mir fallen Menschen ein, die in meinem Herzen immer wieder Laternen anzünden. So ganz nebenbei, indem wir zusammen an etwas arbeiten, gemeinsam lachen oder auch verzweifeln. Und uns Worte sagen, die wir in diesem Moment brauchen: wie z.B. „Gemeinsam kriegen wir das schon irgendwie hin“ oder „Ich finde, du hast es richtig gut gemacht.“
Ich mag Gedichte von Hilde Domin. Ihre Worte zünden immer wieder die ein oder andere Laterne auch in meinem Herzen an.
[1] Hier und im Folgenden zitiert aus: Hilde Domin, Gesammelte Gedichte, Frankfurt am Main 1987, S.30f. Das Gedicht in voller Länge ist aber auch vielfach im Internet zu finden.
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Im Zug sind Plätze an einem Vierertisch frei geworden. Ich frage die Frau, die dort noch sitzt, ob ich mich zu ihr setzen darf. Sie wirkt erfreut und antwortet: „Sie sind der erste, der mich heute im Zug anschaut. Ich sitze seit Hannover hier, aber Sie sind tatsächlich der erste, der mich ansieht. Das ist schön.“ Was die Frau sagt, freut mich. Und ich frage mich, ob ich mich manchmal einfach neben jemanden setze, ohne den Blickkontakt zu suchen? Oder nehme ich automatisch Blickkontakt auf? Ehrlich gesagt bin ich mir nicht zu 100% sicher. Aber ich hoffe, dass es mir fast immer gelingt. Ich bin überzeugt, dass es einen Wert hat, wenn wir Menschen uns gegenseitig ansehen. Auch in der Öffentlichkeit. Ich kann gut akzeptieren, wenn Menschen für sich entscheiden, keinen Blickkontakt zu wollen, aber ich merke, dass mir Blickkontakt guttut.
Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen: „Angesehen werden“ führt zum Gefühl „angesehen zu sein“. Und ich glaube, „angesehen zu sein“ ist wichtig für uns Menschen. Zumindest erlebe ich in meiner Arbeit, was es mit Menschen macht, wenn dieses „Ansehen“ fehlt. Als Seelsorger und Berater begegnen mir immer wieder Menschen, die in ihrer Kindheit, in ihrem Beruf oder im Privaten Situationen erlebt haben, in denen sie nicht gesehen wurden. Sie leiden darunter oft auch noch viele Jahre später.
Die kurzen Begegnungen, bei denen wir anderen in die Augen schauen und angeschaut werden, können dieses Defizit sicherlich nicht ausgleichen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, gut zusammenzuleben. Und ich habe Angst, dass etwas verloren geht, wenn die Gelegenheiten einander anzusehen seltener werden, weil Maschinen das Gegenüber ersetzen. Die Kasse zum Selbstscannen ersetzt die Kassiererin, der Comfort-Check-In ersetzt den Kontakt mit dem Zugbegleiter, in einer fremden Stadt zeigt mir mein Handy den Weg und ich muss niemanden mehr danach fragen.
Wir verlieren damit Gelegenheiten, anderen Ansehen zu schenken und selbst angesehen zu werden. Das finde ich schade. Aber wenn mir das klar und wichtig ist, dann möchte ich die Gelegenheiten nutzen, die sich mir bieten. So wie neulich im Zug.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40901SWR Kultur Wort zum Tag
Sie gehen an Schulen und sprechen mit Jugendlichen über den Nahostkonflikt. Sie, das sind eine Palästinenserin und ein Jude. Genauer: Jouanna Hassoun, eine Deutsch-Palästinenserin und Shai Hoffmann, ein deutscher Jude mit israelischen Wurzeln. Die beiden können miteinander über dieses schwierige Thema sprechen, auch wenn sie unterschiedliche Perspektiven auf den Konflikt haben. Und sie sind überzeugt, dass es gut ist, wenn Jugendliche miteinander über dieses Thema ins Gespräch kommen. Das Projekt heißt „Trialog“ und Shai Hoffmann ist es wichtig, dass die Jugendlichen sich trauen, alles zu sagen, was ihnen auf der Seele brennt. Keiner soll Angst haben, seine Meinung zu äußern oder in eine Ecke gestellt zu werden.
In einem Raum, in dem alle die gleichen Erfahrungen teilen, ist es einfacher, über so ein emotionales Thema zu sprechen. Aber solch einen „safe space“, einen sicheren Rahmen, will das Projekt bewusst verlassen. Das Projekt „Trialog“ möchte einen „braver space“, einen „mutigeren Raum“, eröffnen. Und es braucht tatsächlich Mut, die eigene Position zu vertreten, wenn nicht zu erwarten ist, dass alle nur zustimmen. Es braucht auch Mut, zuzugeben, wo man bei diesem schwierigen Thema unsicher ist, was man denken soll oder darf. Kann ich z.B. Israel kritisieren, ohne antisemitisch zu sein? Darf ich fragen, was daran falsch ist, sich zu verteidigen, wenn man angegriffen wurde? Genauso herausfordernd ist es aber auch, sich gegenseitig zuzuhören und die Gründe zu erfahren, warum der eine die Sache so, und die andere sie anders sieht. Und es braucht Mut, die Gefühle zuzulassen, die in einem solchen Raum entstehen.
Was Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann Hoffnung macht, ist, dass die meisten Jugendlichen sich auf dieses Experiment einlassen. Sie freuen sich, wenn die Jugendlichen sich einander nähern, indem sie einander zuhören und den gegenseitigen Schmerz anerkennen. Die beiden wollen verhindern, dass die Gesellschaft auseinanderbricht. Das motiviert sie.
Mir machen solche Projekte Hoffnung, weil auch ich nicht will, dass unsere Gesellschaft auseinanderdriftet. Und ich frage mich, wo ich mutiger nach Gelegenheiten suchen sollte, um mit Leuten ins Gespräch zu kommen, die bei emotionalen gesellschaftlichen Themen eine andere Meinung haben. Spontan fällt mir da ein Kollege ein. Immer wieder irritiert mich, was er zum Thema Migration in seinem Status postet. Bisher habe ich es vermieden, ihn darauf anzusprechen. Aber jetzt habe ich mir fest vorgenommen, ihn zu fragen, wie er das genau meint. Ich will ihm zuhören und versuchen, seine Gründe zu verstehen. Und natürlich werde ich ihm auch meine Meinung sagen. Dazu brauche ich Mut, aber ich glaube, es lohnt sich.
SWR Kultur Wort zum Tag
Für mich arbeiten zurzeit ungefähr 60 Sklaven. Das behauptet zumindest die Professorin Evi Hartmann. Sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin und hat einen Lehrstuhl für „Supply Chain Management“ inne, d.h. sie beschäftigt sich mit Lieferketten in unserer globalisierten Wirtschaft. Sie kennt sich also aus, wie und woher die Waren kommen, die wir kaufen – und wie sie produziert werden. Sie sagt: „Wenn Sie Kleidung tragen, Nahrung zu sich nehmen, ein Auto fahren oder ein Smartphone haben, arbeiten derzeit ungefähr 60 Sklaven für Sie.“ Das trifft auf mich zu. Leider.
Natürlich wusste ich, dass unser globales Wirtschaftssystem in vielen Bereichen ungerecht ist, und viele Menschen zu schlechten Löhnen und unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten, um unseren Konsum und Wohlstand zu ermöglichen. Aber so direkt hat es mir noch niemand gesagt: 60 Sklaven arbeiten für mich. Das möchte ich nicht.
Klar, möchte ich gut leben. Dazu gehört für mich auch: leckeres Essen, Klamotten, die mir gefallen, ein Smartphone, um mit anderen in Kontakt zu sein und unterwegs Internet zu haben. Dafür nehme ich in Kauf, dass es anderen Menschen schlecht geht. Ich kann es vermutlich nur, weil ich diese Tatsache normalerweise verdränge. Meinem T-Shirt sehe nicht direkt an, ob es für einen Hungerlohn von einer Näherin hergestellt wurde. Keine Ahnung, ob jemand seine Gesundheit ruiniert hat, um die Rohstoffe für mein Smartphone zu gewinnen. Aber unwahrscheinlich ist es nicht.
Ich weiß es nicht – oder ich will es nicht wissen? Weil wenn ich es weiß, dann kann ich guten Gewissens nicht mehr so weiterleben wie bisher. Ich kann das System im Ganzen nicht ändern, und einfach so aussteigen geht auch irgendwie nicht. Aber ich kann mir die Ungerechtigkeit immer wieder bewusst machen und mein Verhalten ändern. Ich kann Produkte kaufen, die zu fairen Bedingungen hergestellt wurden. Bei vielen Lebensmitteln achte ich schon bewusst darauf, aber bei Kleidung und vielen anderen Produkten habe ich ehrlich gesagt noch viel Luft oben. Ich müsste mich besser informieren. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob der Mehrpreis, den ich bereit bin zu zahlen, tatsächlich dort ankommt, wo er hingehört. Mir ist bewusst, dass viele Menschen sich diesen Aufpreis nicht leisten können, weil ihr Einkommen trotz harter Arbeit dazu nicht reicht. Auch das ist Teil eines ungerechten Systems. Aber ich kann es.
Deshalb ist einfach so weiter machen keine Option, denn ich will nicht, dass 60 Sklaven für mich arbeiten.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40464SWR Kultur Wort zum Tag
Noch ein paar Tage Urlaub, dann geht es wieder los. Ich fühle mich gut erholt. Mal schauen, wie lange das anhält, wenn mich der Alltag wieder hat. Wenn alles auf mich einströmt, und jeder etwas von mir will, dann ist die Erholung oft schnell dahin. Nach ein oder zwei stressigen Wochen fühle ich mich dann schon wieder urlaubsreif.
Für diese Situation hat der mittelalterliche Mönch und Mystiker Bernhard von Clairvaux einen Tipp. Er empfiehlt eine Schale zu sein und kein Kanal. Im Unterschied zum Kanal achtet die Schale darauf, selbst immer genug gefüllt zu sein, bevor sie weitergibt, was sie empfangen hat. „Auf diese Weise,“ sagt Bernhard, „gibt sie das, was bei ihr überfließt, weiter, ohne eigenen Schaden zu nehmen. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott.“ Das klingt für mich nach mittelalterlicher Burn-Out-Prävention.
Jetzt nach dem Urlaub ist der Akku voll. Ich habe genug Energie und Kraft getankt, um für meine Familie, die Freunde und die Menschen an meiner Arbeitsstelle da zu sein. Aber jetzt sollte ich schauen, dass ich nicht einfach die Schleusen öffne und gebe, gebe, gebe, ohne dafür zu sorgen, dass zuvor immer ausreichend nachgefüllt wurde. Aber wie kommt etwas nach? Das sagt Bernhard in diesem Text nicht direkt. Ich kann nur spekulieren. Als Zisterziensermönch war sein Alltag durch festgelegte Gebetzeiten strukturiert. Ich könnte mir denken, das waren für ihn Zeiten, in denen er Kraft geschöpft hat, für seine Arbeit und um für andere dazu sein.
Ich selbst merke, dass ich dann auslauge, wenn diese Zeiten zu kurz kommen, in denen ich auftanken kann. Bei mir gibt es viel Dinge, die meine Schale füllen. Beten oder meditieren zum Beispiel, aber auch Tischtennis spielen, Unkraut zupfen, alte Fotos anschauen oder Gedichte lesen. Ich muss mir nur Zeit dafür einplanen und nehmen.
Für Bernhard ist klar, dass das kein reiner Eigennutz ist, denn er fragt kritisch: „Wenn du mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist du dann gut?“ Und er möchte dem anderen diese Selbstfürsorge zugestehen. „Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, dann schone dich.“
Vom mönchischen Leben mit seinen festen Strukturen kann ich lernen, dass die Tankstellen ihren festen Platz brauchen, sonst drohen sie im Trubel des Alltags zu kurz zu kommen. Dafür will ich sorgen, wenn es jetzt nach dem Urlaub wieder los geht.
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„Was macht Menschen glücklich?“ - das untersucht eine Langzeitstudie der Universität Harvard seit über 80 Jahren. 1938 haben die Forschenden mit der Studie begonnen. Seitdem haben sie über 2000 Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben gefragt: Was macht Sie glücklich? Die Haupterkenntnis, die sie dabei gewonnen haben, ist: der Schlüssel zu einem glücklichen Leben sind Beziehungen.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, erfüllende Beziehung zu anderen Menschen tragen entscheidend dazu bei, dass es einem selbst gut geht. Wer sich jeden Tag darum bemüht eine Verbindung zu einem anderen Menschen aufzubauen, der hat gute Chancen während und am Ende des Lebens glücklich und zufrieden zu sein. Das muss nicht unbedingt eine partnerschaftliche Beziehung sein. Eine positive Wirkung haben auch der Kontakt zu Freunden oder Gespräche mit Fremden. Und es kommt wohl auch gar nicht unbedingt so sehr darauf an, was man gemeinsam tut. Hauptsache ich trete immer wieder in Verbindung zu anderen.
Ist es also gar nicht so schwer glücklich zu sein? Ich glaube, dass klingt einfacher als es im Alltag oft ist.
Ich stelle es mir besonders herausfordernd vor, wenn man allein lebt, und ein regelmäßiger Kontakt zu Freunden oder zur Familie sich im Alltag nicht so ohne weiteres ergibt. Vielleicht, weil man selbst sehr beschäftigt ist, oder die anderen wenig Zeit haben. Weil wichtige Menschen weit weg leben oder ein nahestehender Mensch verstorben ist. Dann kostet es Mühe und Aufwand, immer wieder die Verbindung zu suchen. Vielleicht besteht auch die Angst, sich anderen zuzumuten, mit allem, was einen beschäftigt oder wie man gerade drauf ist.
Aber manchmal ist es auch gar nicht so einfach, wenn ich in einer Partnerschaft oder Familie lebe. Die Eltern haben auf der Arbeit viel zu tun, die Kinder sind in der Schule gefordert und nebenher sollte noch der Haushalt erledigt werden. Und dann gibt es da noch das Handy, das uns immer wieder lockt.
Zeit und Aufmerksamkeit habe ich nur begrenzt und ich muss mich entscheiden, wem oder was ich sie widme: gleich heute melde ich mich mal wieder bei einem guten Freund, das nächste Mal steige auf das Gesprächsangebot des Nachbarn ein. Und ich nehme mir vor, wenn ich unterwegs bin die Menschen und nicht mein Smartphone anzuschauen. Danke, liebe Harvard-Studie, dass du mich daran erinnert hast, was eigentlich auch ohne dich gewusst habe: mit Menschen in Verbindung sein macht glücklich: mich – und hoffentlich auch die anderen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39839SWR Kultur Wort zum Tag
Himbeere oder Heidelbeere? Ich zögere kurz, nehme das Glas Himbeerjoghurt aus dem Kühlregal und packe es in meinen Einkaufswagen. Eigentlich wollte ich Erdbeerjoghurt kaufen, aber der ist aus. Früher hätte ich vermutlich länger für diese Entscheidung gebraucht. Aber in einem Seminar habe ich den Tipp bekommen, bei solchen kleinen Entscheidungen nicht zu lange nachzudenken. Der Dozent hat gemeint: Trainieren Sie ihren Entscheidungsmuskel in den alltäglichen Situationen, dann werden Ihnen auch größeren Entscheidungen leichter fallen.
Ich brauche oft lange, um eine Entscheidung zu treffen. Ich versuche alle Vor- und Nachteile abzuwägen, möchte sicher sein, welche der möglichen Optionen die richtige ist. Das ist prinzipiell nichts Schlechtes. Das Problem ist nur: Ich vertage die Entscheidung und denke immer mal wieder darüber nach, ohne wirklich weiterzukommen. Das belastet mich. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich nicht mutiger und entscheidungsfreudiger bin. Woher kommt dieses Zögern? Ich glaube es ist die Angst, mich für das Falsche zu entscheiden.
Aber oft gibt es gar kein falsch. Die meisten Entscheidung muss ich zwischen zwei Dingen treffen, die beide gut sind: so wie Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt. Beide werden mir vermutlich schmecken.
Dieser Gedanke, dass ich bei den meisten Entscheidungen zwischen zwei guten Dingen wählen darf, war mir lange nicht bewusst. Mein Doktorvater mich damals darauf hingewiesen, als ich hin- und herrissen war, ob ich meine Promotion fortsetzen oder direkt ins Berufsleben einsteigen soll. Damals hat er gemeint: „Denken Sie daran, Sie entscheiden sich zwischen zwei guten Optionen, nicht zwischen einer guten und einer schlechten!“. Ich habe damals entschieden, meine Doktorarbeit weiterzuschreiben, und es unterwegs manchmal bereut. Im Nachhinein betrachtet kann ich mit der Entscheidung gut leben. Wahrscheinlich wäre das aber auch der Fall, wenn ich mich andersherum entschieden hätte.
Daran denke ich immer wieder, wenn eine Entscheidung ansteht. Und dann versuche ich, eine mutige Wahl zu treffen. So komme ich voran und trainiere gleichzeitig meinen Entscheidungsmuskel. Auch dann, wenn es um mehr als nur um Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt geht.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39838SWR Kultur Wort zum Tag
Es war ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für einen Papst. Am 6. Mai 2001, heute vor 23 Jahren, hat Papst Johannes Paul II. als erster Papst in der Geschichte eine Moschee betreten. Zusammen mit dem damaligen Großmufti von Syrien hat er die Umayyadenmoschee in Damaskus besucht. Seite an Seite, jeder auf seinen Stock gestützt, haben die beiden über 80jährigen Männer gemeinsam den Gebetsraum betreten und damit ein Zeichen für Frieden und Verständigung zwischen Islam und Christentum gesetzt.
Der Großmufti hat in seiner Ansprache betont, dass die Religion die Menschen nicht zu Hass und Feindschaft aufrufen soll, sondern dazu, zusammenzukommen, sich kennenzulernen und sich gegenseitig zu unterstützen.
Dem hat sich der Papst angeschlossen und gefordert, die beide Religionen sollten jungen Menschen vermitteln, andere zu respektieren und sie besser zu verstehen, damit sie ihre eigene Religion nicht dazu missbrauchen, um Hass und Gewalt zu fördern oder zu rechtfertigen.
Das Treffen wird damals live im syrischen Staatsfernsehen übertragen, und die Bilder gehen um die Welt. Im selben Jahr, nur wenige Monate später, erschüttern die islamistischen Anschläge vom 11. September die Welt. Im anschließenden „Krieg gegen den Terror“ sterben unzählige Menschen, die meisten von ihnen Muslime. Zehn Jahre später bricht in Syrien ein schrecklicher Bürgerkrieg aus, in dem der syrische Präsident Assad auf sein eigenes Volk schießen lässt.
Ich frage mich, was solche Zeichen des Dialogs wie der Moscheebesuch des Papstes bewirken können. Sind sie stark genug, um Hoffnung zu geben für ein besseres Miteinander auf unsere Erde?
In seiner Ansprache antwortet der Papst damals genau auf diese Frage. Er sagt: „Jede Person und jede Familie kennt Zeiten der Eintracht und dann wieder Augenblicke, in denen der Dialog zusammengebrochen ist. Die positiven Erfahrungen müssen unsere Hoffnung auf Frieden stärken, und den negativen Erfahrungen darf es nicht gelingen, diese Hoffnung zu untergraben.“
Ich möchte mir meine Hoffnung nicht rauben lassen. Auch wenn ich mich machtlos fühle, angesichts dessen, was gerade im Nahen Osten passiert. Dieser Konflikt wirkt sich auch auf unsere Gesellschaft aus, und ich merke wie viele Schritte des Dialogs hier noch zu gehen sind. Ich habe erfahren, dass Dialog nur funktioniert, wenn wir miteinander reden und uns gegenseitig kennenlernen. Dazu müssen wir uns aber begegnen. Ein Schritt dazu könnte sein, einfach mal die nächstgelegene Moschee zu besuchen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39837SWR2 Wort zum Tag
Was muss man tun, um geliebt zu werden? Manche offenbar gar nicht viel. Denn immer wieder höre ich den Satz: „Ich weiß gar nicht, womit ich diese Liebe verdient habe.“ Manchmal strahlt die Person mich dabei an, und ich spüre, wie glücklich und dankbar sie ist, weil sie sich geliebt fühlt, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Ein anderer dagegen, bricht beim selben Satz in Tränen aus und beginnt zu weinen. Dann spüre ich, wie die Person tief in ihrem Inneren überzeugt ist, nicht gut genug zu sein, um diese Liebe geschenkt zu bekommen. Das zu hören, macht mich traurig, weil ich merke, da wertet sich ein Mensch selbst ab.
Ich glaube, dass Liebe im Idealfall immer unverdient ist, ansonsten ist es keine Liebe. Sonst ist es ein Geschäft, das in etwa so abläuft: du hast dich zu verhalten, wie ich es von dir erwarte. Und wenn du dich entsprechend verhältst, dann hast du es verdient, dass ich dich liebe. Also tu gefälligst etwas dafür.
Ich bin überzeugt: Ideale Liebe ist immer unverdient, weil sie geschenkt wird, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und weil sie nicht aufhört, wenn die Gegenleistung ausbleibt. Sie liebt, weil sie nicht anders kann. Aber das Leben ist nicht immer ideal. Ich glaube, wir lieben andere Menschen auch deswegen, weil sie uns guttun und sich somit auf eine gewisse Weise unsere Liebe auch verdient haben.
Ich möchte nicht, dass sich meine Frau meine Liebe immer wieder aufs Neue verdienen muss, aber ich liebe sie natürlich auch, weil ich weiß, dass sie mich unterstützt, wenn es mir schlecht geht, mir zuhört, wenn ich ihr etwas erzählen will und mich in den Arm nimmt, wenn ich es gerade brauche. Und sicherlich würde meine Liebe zu ihr auf eine harte Probe gestellt, wenn sie all das, von heute auf morgen einstellt.
Bei unseren Kindern ist das nochmal etwas anderes. Als Eltern möchten wir ihnen das Gefühl geben, dass wir sie lieben, ohne dass sie etwas dafür leisten müssen, und dass wir sie immer lieben werden, egal was passiert. Und trotzdem geben wir Ihnen sicher auch manchmal das Gefühl, in diesem Moment gemocht und geliebt zu sein, weil sie etwas gut gemacht haben. Aber ich hoffe, wir haben ihnen genug Liebe geben können, dass in ihnen das Vertrauen gewachsen ist: Liebe muss ich mir nicht verdienen, Liebe bekomme ich geschenkt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=39264SWR2 Wort zum Tag
Seit vielen Jahren treffen sich Menschen der jüdischen, muslimischen und christlichen Gemeinden aus Emmendingen. Wir sitzen gemeinsam um einen Tisch, essen, lachen, unterhalten uns über unsere Religionen und planen gemeinsame Veranstaltungen. Über die Zeit ist ein vertrauensvolles Verhältnis entstanden. Aber nach dem schrecklichen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, habe ich mich kurzzeitig gefragt, ob unsere Freundschaft stark genug ist, diesen Konflikt zu überstehen.
Unser erstes Treffen danach war für den 9. November geplant. Zu dieser Zeit hat Israel die Hamas im Gazastreifen angegriffen. Bei den Angriffen sterben unschuldige Menschen. In Deutschland ist die gesellschaftliche Stimmung angespannt und gespalten. Ein Teil der Menschen solidarisiert sich mit Israel, ein anderer mit den Palästinensern. Es gibt antisemitische Hetze und jüdische Menschen und Einrichtungen werden angegriffen. Deshalb frage ich mich, wie unser Treffen unter diesen Vorzeichen werden wird.
Am Abend sind dann zumindest mal alle da. Und dann gleich die erste Frage von den Muslimen an die Juden: „Wir verurteilen und verabscheuen das, was die Hamas gemacht hat, zutiefst. Aber jetzt leiden, hungern und sterben durch die Angriffe Israels viele Menschen im Gazastreifen, vor allem auch Frauen und Kinder. Wie können wir als Muslime solidarisch mit den Palästinensern sein, ohne als antisemitisch zu gelten?“
Ein steiler Einstieg. Ich muss erstmal tief durchatmen, auch weil ich zuvor erfahren habe, mit welcher Angst unsere jüdischen Freunde gerade leben, Angst um Verwandte in Israel, und weil Juden in Deutschland verstärkt angefeindet werden. Aber der Rabbiner antwortet ruhig und für mich sehr beeindruckend. Er sagt: „Wir sind uns einig, dass wir es furchtbar finden, dass unschuldige Menschen sterben. Und trotzdem fühlt sich jeder einer Seite in diesem Konflikt näher: Ich den Menschen in Israel, weil es mein Volk ist, und ihr den Palästinensern, weil sie Muslime sind. Das ist doch normal, so sind wir Menschen.“
Vielleicht war dieser Satz der Schlüssel, dass wir an diesem Abend und darüber hinaus weiterhin gut miteinander reden können. Wir erlauben unserem Gegenüber, sich in einem Konflikt der anderen Seite näher zu fühlen, ohne ihm vorzuwerfen, unmenschlich zu sein. Wir fordern nicht, die Seite zu wechseln, aber wir erwarten, auch das Leid und den Schmerz der jeweils anderen Seite zu sehen und anzuerkennen.
Von Menschen, die unmittelbar betroffen sind, ist das vielleicht zu viel verlangt, aber wir können uns darum bemühen.
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