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SWR2 Wort zum Tag
Der Film „Der Club der toten Dichter“ hat mich als Jugendlicher sehr berührt. Ein Zitat aus dem Film ist mir geblieben. Es geht so: „Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, ich wählte den, der weniger betreten war, und das veränderte mein Leben.“ Es sind die letzten Zeilen aus dem Gedicht „The Road Not Taken“ des US-amerikanischen Dichters Robert Frost – zugegebenermaßen in einer sehr freien Übertragung.
Das Zitat habe ich lange Zeit so verstanden: Immer wieder im Leben werde ich an Abzweigungen kommen, wo ich nur einen der beiden Wege nehmen kann. Spannender scheint es zu sein, denjenigen zu nehmen, der etwas weniger betreten ist, d.h. mich für das zu entschieden, was außergewöhnlicher ist, etwas, das nicht so viele Leute machen.
Bei meinem letzten Spaziergang im Wald ist mir noch was dazu eingefallen. Immer wieder in meinem Leben komme ich in ähnliche Situationen, wo ich mich entscheiden muss, wie ich mich verhalte. Ich ärgere mich zum Beispiel wie sich ein Kollege mir gegenüber verhalten hat. Entweder schlucke ich wie üblich meinen Ärger runter, denke, was soll‘s, reg dich nicht auf, das ist es nicht wert. Das wäre der Weg des geringeren Widerstandes. Oder aber ich probiere etwas Neues, vielleicht auch etwas Unangenehmeres: Ich spreche ihn darauf an und sage ihm, dass ich mich über ihn geärgert habe.
Einer der beiden Wege ist in der Regel der, den ich häufiger betrete. Ich nehme ihn, weil ich mich auf ihm sicher fühle, weil er mir entspricht oder weil ich meine, dass ich bisher auf ihm auch nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe. Aber tatsächlich verzichte ich dadurch auf den zweiten Weg und damit auch auf die Chance, zu entdecken, was mich auf ihm erwartet.
Möglicherweise stellt sich der Weg als viel angenehmer heraus als ich gedacht habe: Mein Kollege entschuldigt sich; er wusste gar nicht, dass mich sein Verhalten so nervt. Oder aber der Weg bietet mir einen neuen Ausblick: Mein Kollege vertraut mir an, dass er privat gerade sehr unter Druck steht, und ich kann ihn jetzt besser verstehen. Oder im Gespräch merke ich, welche Anteile ich an unserem Konflikt habe. Vielleicht fordert der Weg viel von mir, aber am Ende bin ich stolz, wenn ich merke. Wow, ich hab’s geschafft.
Eine Erfahrung mache ich auf alle Fälle: dass ich tatsächlich eine Wahl zwischen diesen beiden Wegen habe. Dass ich nicht auf den einen ausgetretenen festgelegt bin. Und zwischen zwei Wegen entscheiden zu können, gibt mir innere Freiheit und das verändert mein Leben.
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Ich kenne Boulos seit er sechzehn ist. Wir sind uns im Jahr 2000 zum ersten Mal in seiner Heimat Syrien begegnet. Immer wenn ich zu Arabischkursen in Damaskus war, habe ich ihn in Aleppo besucht. Inzwischen lebt er in Belgien und sagt: „Belgien hat mich gerettet.“
Sein Weg dorthin verlief in etwa so: Zu Beginn der Arabischen Revolution in Syrien reist Boulos mehrmals aus geschäftlichen Gründen zu einer Partnerfirma nach Belgien. Er hofft, dauerhaft in Belgien bleiben zu können, das funktioniert aber nicht. Zurück in Syrien entscheidet er, in den Libanon zu flüchten, um nicht in die syrische Armee eingezogen zu werden. Von dort aus beantragt er ein Visum für Deutschland, wo er studieren möchte. Die Deutsche Botschaft in Beirut aber verweigert ihm ein Visum, obwohl er zu einem Uni-Sprachkurs mit anschließendem Studium an einer deutschen Universität zugelassen ist. Die Botschaft glaubt ihm nicht, dass er wirklich studieren will. Wenig später wird er dann willkürlich im Libanon verhaftet. Wegen absurder Anschuldigungen kommt er in ein Militärgefängnis, wo er gefoltert wird.
Als er auf Kaution aus dem Gefängnis herauskommt, gelingt es ihm, bei der belgischen Botschaft ein „humanitäres Visum“ zu erhalten. Er kann den Libanon verlassen und in Belgien Asyl beantragen.
Dort lebt er nun, arbeitet im Hafen von Antwerpen, lernt die flämische Sprache und versucht sich ein neues Leben aufzubauen. Vor einiger Zeit hat Boulos mich besucht. Wir haben viel über die Zeit im Libanon geredet. Er hat gesagt: „Ich habe immer gedacht, dass ich, wenn ich mich unpolitisch verhalte, auch in einem Unrechtsstaat vor Verhaftung und Folter geschützt bin. Im Libanon habe ich die bittere Erfahrung gemacht, dass ich mich geirrt habe.“ Deshalb ist Boulos jetzt so froh, in Belgien zu leben. Er fühlt sich dort sicher und vertraut darauf, dass er die belgische Staatsbürgerschaft erwerben kann, sobald er die notwendigen Bedingungen erfüllt. Und er möchte gerne allen Belgiern sagen: „Ich bin eurem Land unendlich dankbar, weil es mir das Leben gerettet hat.“ Es war sein Glück, dass der belgische Staat in seinem Fall Menschlichkeit gezeigt und ihm ein humanitäres Visum ausgestellt hat.
Wir diskutieren gerade in unserem Land, wie viel Menschlichkeit wir uns noch leisten können. Die Botschaft, die ich von Boulos gehört und verstanden habe lautet: Spart nicht mit eurer Menschlichkeit!
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„Was man anfängt, das bringt man auch zu Ende“ – dieser Satz hat sich wie eine Regel in mich eingebrannt, weil ich ihn als Kind immer wieder gehört habe. Aber ist diese Regel überhaupt sinnvoll?
Immer wieder höre ich von Menschen, die solche Glaubenssätze mitbekommen haben. Eine Patientin in der Psychiatrie hat mir im Gespräch ihren Glaubenssatz verraten. Er heißt: „Im Leben bekommt man nichts geschenkt.“ Und eine Bekannte, die drei Kinder großgezogen hat und inzwischen Oma ist, hat bisher auch nach einer übernommenen Regel gehandelt: Sie hat immer versucht, es allen recht zu machen.
Manche meiner Glaubensätze sind mir bewusst. Aber ich bin mir sicher, es gibt auch welche, die ich so verinnerlicht habe, dass ich sie gar nicht wahrnehme. Ich verhalte mich in bestimmten Situationen so, wie sie es mir vorgeben und so prägen sie mein Leben.
Solche Glaubenssätze haben durchaus Vorteile: ich weiß, wie ich mich in bestimmen Situationen verhalten kann und habe klare Maßstäbe, was gut oder schlecht ist. Immerhin habe ich mit diesen Sätzen als Kompass bis jetzt überlebt.
Aber manchmal können sie mir auch das Leben schwer machen. Sie können mich z.B. daran hindern, glücklicher und zufriedener mit mir selbst zu sein, wenn ich sie für absolute Wahrheiten halte, die immer und überall gelten. Denn dann nehmen sie mir die Möglichkeit, Dinge auch mal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Oder sie hindern mich auszuprobieren und zu erleben, was passiert, wenn ich etwas mal anders mache als sonst.
Meine Bekannte, die es immer allen recht machen wollte, hat ihren Glaubenssatz vor Kurzem über Bord geworfen. Sie hat entschieden: Du musst es nicht immer allen recht machen, du darfst auch mal biestig sein.
Die Patientin in der Psychiatrie, die überzeugt davon war, dass man im Leben nichts geschenkt bekommt, hat auf einmal Dinge entdeckt, wo sie sehr wohl beschenkt war, z.B. mit einer treuen Brieffreundin, die ihr bis heute regelmäßig schreibt.
Und auch mein eigener Glaubenssatz, dass man zu Ende bringt, was man begonnen hat, konnte ich hier und da schon mal ignorieren. Ich habe gemerkt, dass ich sehr wohl etwas abbrechen konnte, ohne dass es fertig war. Und es hat weder mir noch jemandem anderen geschadet. Eine befreiende Erfahrung!
Ich glaube, es lohnt sich den eigenen Glaubensätzen auf die Spur zu kommen. Wenn sie mir bewusst sind, dann kann ich entscheiden, sie zu ändern, mich von ihnen zu lösen oder an ihnen festzuhalten. So wie es dem Leben dient.
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Ich liebe die Comics über den kleinen Jungen Calvin und seinen Stofftiger Hobbes. Ein Thema, das in den kurzen Bildergeschichten immer wieder auftaucht, sind Monster, die abends oder nachts in sein Zimmer kommen. In einer dieser Geschichten sitzt Calvin auf seinem Bett und fragt: „Sind heute Nacht irgendwelche Monster unter meinem Bett?“ Da hört er eine unbekannte Stimme unter dem Bett: „Nein, nö, nein!“. Und Calvin fragt weiter: „Falls irgendwelche Monster unter meinem Bett wären, wie groß wären sie dann?“ Und die Stimme unter dem Bett antwortet: „Sehr klein, geh jetzt schlafen!“. Daraufhin ruft Calvin laut nach seiner Mama.
Calvin ist mir sehr sympathisch, weil auch ich nachts manchmal Besuch von Monstern bekomme, die es eigentlich gar nicht gibt. Oder besser gesagt, die in Wirklichkeit keine Monster sind, aber nachts als solche daherkommen. Es sind Gedanken an Dinge, die mich beschäftigen und am Einschlafen hindern: ein Telefonat, das ich schon längst hätte führen sollen; ein Abgabetermin, der näher rückt, die Steuererklärung, die noch nicht gemacht ist.
Wenn ich mich selbst frage, ob das wirklich Monster sind, dann lautet die Antwort natürlich: Nein. Aber nachts überzeugt mich diese Antwort nicht immer. Wenn ich mich dann frage, wie groß diese „Monster“ sind, dann weiß ich eigentlich: sie sind nicht so groß, dass sie nicht zu bewältigen wären. Aber trotzdem haben sie nachts die Macht und die Größe, mir den Schlaf zu rauben.
Was dann tun? Wie kann ich gegen Monster kämpfen, die gar keine echten Monster sind? Manchmal hilft es mir aufzustehen und mir die Dinge, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen, genauer anzuschauen. Sie alle einzeln auf ein Blatt Papier zu schreiben und mir zu überlegen, wie und wann ich sie am Tag angehen werde. Wenn das nicht hilft, dann liege ich gemeinsam mit meinen Monstern wach und versuche zu akzeptieren, dass sie jetzt gerade da sind und mich nicht schlafen lassen. Ich werde morgen früh vermutlich müde und gerädert sein, aber auch die Monster werden sich dann wieder in Herausforderungen verwandelt haben, die ich schon irgendwie bewältigen werde.
Ich habe gelernt, dass ich die Monster der Nacht nur tagsüber besiegen kann. Dadurch sind ihre Besuche deutlich seltener geworden, und ich kann inzwischen gut mit ihnen leben. Wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es noch die Strategie von Calvin: Jemanden zu Hilfe rufen; vielleicht nicht meine Mutter, sondern meine Frau, einen vertrauten Kollegen oder sogar professionelle Hilfe. Menschen, die mich dabei unterstützen, die Dinge anzuschauen und zu verändern, die mir nachts den Schlaf rauben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38280SWR2 Wort zum Tag
Der griechische Philosoph Heraklit sagt: „Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, denn alles fließt und nichts bleibt.“ Er fasst damit seine Einsicht zusammen, dass alles um uns herum ständig in Bewegung ist und sich verändert. Heraklit blickt auf den Fluss. Das Gleiche gilt aber auch für die Person, die in den Fluss steigt. Im Bild gesprochen: „Niemand kann in den Fluss steigen ohne als ein anderer wieder herauszukommen.“ Auch wir Menschen verändern uns ständig. Ich lerne jeden Tag Neues dazu, anderes vergesse ich wieder. Meine Gefühle und Stimmungen wandeln sich, nach einem guten Gespräch oder einer interessanten Lektüre sehe ich Dinge anders als zuvor. Auch heute Morgen bin ich anders aufgewacht, als ich gestern eingeschlafen bin.
Manchmal merke ich, dass ich mich verändert habe. Oftmals geschieht diese Veränderung aber unscheinbar und unbemerkt. Aber ich glaube, es kann sich lohnen, sie wahrzunehmen. Daher nehme ich mir manchmal am Ende eines Tages einen viertel Stunde Zeit, um zu überlegen: wie habe ich mich heute verändert?
Dazu helfen mir bestimmte Fragen – zum Beispiel was ich heute gelernt habe. Da wird mir klar, dass ich jetzt weiß, wie eine leckere Gazpacho geht. Ein guter Freund hat mir sein Rezept verraten.
Oder ich suche nach etwas, was mich bereichert hat und mir fällt ein: meine Tochter hat von sich aus angeboten, mir beim Unkraut jäten zu helfen. Das hat mich gefreut, und außerdem hatten wir noch ein nettes Gespräch dabei.
Oder ich überlege mir, welche Herausforderung ich heute gemeistert habe. Ich habe es z.B. geschafft, „Nein“ zu sagen zu einem weiteren Termin, der mir zusätzlich Stress bereitet hätte.
Manchmal fällt es mir leichter etwas zu finden, manchmal schwerer. Meistens aber entdecke ich etwas und mir wird klar, dass ich an diesem Tag ein kleines bisschen gewachsen bin.
Manchmal wird mir aber auch bewusst, dass ich heute hinter meinen eigenen Erwartungen zurückgeblieben bin. Dass ich nicht alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Dass ich zum Beispiel in einer heiklen Situation nicht so ruhig reagiert habe, wie ich es mir wünschen würde. Ich nehme es wahr und versuche es gut sein zu lassen. Auch diese Erfahrung hat mich verändert. Und morgen kommt ein neuer Tag, an dem ich erneut in den Fluss des Lebens steige. Eine neue Chance mich zu verändern und dabei zu wachsen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38279SWR2 Wort zum Tag
Es war eine besondere Siegerehrung beim Abschlussfest der Klasse 4a. Ausgezeichnet wurden nur erste Plätze – zweite oder dritte Plätze wurden nicht vergeben. Trotzdem hat jede Schülerin und jeder Schüler am Ende eine Urkunde bekommen: alle den ersten Platz für eine besondere Leistung im vergangenen Schuljahr. Der Klassenlehrer hatte sich für jeden etwas überlegt: Einer bekam den ersten Platz dafür, dass er trotz Höhenangst im Sportunterricht auf eine hohe Plattform geklettert ist. Eine andere für die besten Schönheitstipps an den Klassenlehrer. Ein dritter wurde ausgezeichnet, weil er immer bereit ist, anderen zu helfen.
Als Vater habe ich die Idee des Lehrers super gefunden. Es war schön mitzubekommen, dass er die Einzelnen im Blick gehabt hat und jedem Kind durch den ersten Platz gesagt hat: Dich zeichnet etwas aus, was du ganz besonders gut kannst. Aber die Botschaft dahinter war für mich noch einmal eine andere: es ist schön, dass es dich gibt. Du bist wichtig und wertvoll. Ohne dich hätte in unserer Klasse etwas gefehlt.
Ich finde es schön, so etwas im Kontext von Schule zu erleben. Dort, wo wenige Tage später Zeugnisse verteilt wurden. Im Zeugnis steht dann schwarz auf weiß, wie gut die Leistung eines Kindes in einem Fach ist – und es weiß dann, wer darin besser oder schlechter ist.
Solche Leistungsmessungen gehören zu unserer Gesellschaft dazu. Das kann ich gut oder schlecht finden. Ganz entziehen kann ich mich ihnen nicht. Aber ich kann für mich immer wieder entscheiden, auch eine andere Haltung einzunehmen – mir und anderen gegenüber. Ich kann überlegen, wofür ich mir gerade einen ersten Platz geben würde: dafür, dass ich meinen Kindern heute aufmerksam und geduldig zugehört habe oder dass ich endlich den Keller ausgemistet habe.
Und ich kann andere Menschen für etwas auszeichnen, was sie fantastisch gemacht haben. Meine Frau dafür, dass sie die besten Geburtstagsgeschenke für unsere Kinder besorgt hat. Unsere Kinder dafür, dass sie bei strömenden Regen ausdauernd auf dem Trampolin gehüpft sind. Meinen Kollegen dafür, dass er im Dienstgespräch immer einbringt, was an Aufgaben gerade ansteht.
Das muss nicht mit einer Urkunde für einen ersten Platz versehen sein. Es reicht, wenn ich aufmerksam wahrnehme, was andere Wertvolles leisten, und es sie auf eine gute Weise spüren oder wissen lasse.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38278SWR2 Wort zum Tag
Es macht schon einen großen Unterschied, ob ich einen Menschen streichle oder schlage. Daher ist es interessant, dass das englische Wort „stroke“ sowohl „Schlag“ als auch „Streicheln“ bedeuten kann. Ein strokekann für den, der ihn erhält, also positiv wie negativ sein.
Diese Ambivalenz des Wortes hat sich Eric Berne zu Nutzen gemacht. Er verwendet ihn als einen zentralen Begriff, in der von ihm entwickelten Transaktionsanalyse. Eric Berne hat beobachtet und analysiert, was sich in der Psyche eines Menschen abspielt, und wie er mit anderen Menschen interagiert. Sogenannte strokesspielen dabei eine wichtige Rolle. Jede Form von Zuwendung und Aufmerksamkeit, die ich einem Menschen schenke, ist ein stroke.
Wir Menschen brauchen strokes, davon war Eric Berne, der als Psychiater gearbeitet hat, überzeugt. Wir brauchen sie so sehr, dass wir sie immer wieder suchen. Wenn wir keine positive Zuwendung erhalten, dann geben wir uns auch mit negativer zufrieden. Ein Kind, das nicht beachtet wird, beginnt zu quengeln, auch wenn daraus folgt, dass es von den Eltern angeraunzt wird. Das ist sicher nicht das, was es sich gewünscht hat, aber wenn es keinen anderen Weg findet, dass die Eltern sich ihm zuwenden, wird das Kind es beim nächsten Mal wieder auf diese Weise versuchen. Jeder stroke ist besser als gar keiner. Das ist eine bittere Wahrheit.
Wir Menschen brauchen strokes und gleichzeitig haben wir sie auch im Überfluss zur Verfügung. Positive wie negative. Wir können anderen Streicheleinheiten geben oder Schläge. Nicht nur körperlich, sondern auch dadurch, was wir zu ihnen sagen und wie wir es sagen, wie wir sie anschauen und uns ihnen gegenüber verhalten.
Wir sind verantwortlich, wie wir mit dieser Macht umgehen. Auch ob wir positive strokes, die wir mühelos geben könnten, zurückhalten oder nicht. Ein „Hast du super gemacht“ an der richtigen Stelle, ein kurzes „Dankeschön“ auch wenn’s nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Ein aufrichtiges Lächeln, ein aufmerksamer Blick, eine ehrlich gemeinte Frage, „wie geht’s“ – verbunden mit der Zeit und dem Interesse, dann auch wirklich zuzuhören.
Seit ich das Konzept kenne, bemühe ich mich immer wieder bewusst, ehrlich und positiv zu „stroken“. Mehr als ich es aus Gewohnheit oder Faulheit ansonsten tun würde. Warum? Weil’s gut tut… und weil’s mir manchmal auch quengelnde Kinder erspart.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=37850SWR2 Wort zum Tag
Ein bekannter Text. Unzählige Male gehört und gelesen. So vertraut, dass er fast ein bisschen langweilig geworden ist. Und dann begegnet er mir unvermittelt wieder und packt mich ganz neu.
So ist es mir vor einiger Zeit ergangen. Bei einer Veranstaltung ging es um die Bibelstelle, in der Gott zu Abraham spricht: „Geh fort aus deinem Land in das Land, das ich dir zeigen werde!“ Schon während ich den Text gehört habe, musste ich erst einmal tief durchatmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich entschieden, meine Arbeitsstelle aufzugeben, ohne bereits zu wissen, wie und wo es für mich beruflich weitergehen würde.
Und dann höre ich diesen Satz: „Geh fort aus deinem Land in das Land, das ich dir zeigen werde!“ Auf einmal merke ich: der Text betrifft mich. Er bestärkt mich, dass es eine gute Entscheidung war, mich ins Ungewisse aufzumachen. Gerne wüsste ich schon, wie meine berufliche Zukunft aussieht, aber noch muss ich vertrauen, dass sich etwas zeigen wird. Etwas, dass ich jetzt noch nicht kenne.
Und noch etwas steckt in dem Text, was ich bisher nicht gewusst habe. Im hebräischen Urtext folgt auf die Aufforderung „Geh fort!“ die kurze Wortverbindung „lecha“. Das bedeutet übersetzt „für dich“ oder „um deinetwillen“. Das gibt dem Text noch einmal eine ganz neue Wendung, die mir sehr gut gefällt. Gott schickt Abraham nicht irgendwo hin, weil er ihn dort gerne haben möchte. Er schickt ihn los um seinetwillen. Damit es ihm gut gehe. Damit er seine Möglichkeiten und Fähigkeiten in einer Weise entfalten kann, wie es ihm im vertrauten Umfeld nicht möglich ist.
Natürlich hat mich dieses „um deinetwillen“ angesprochen, weil ich gespürt habe, dass auch ich um meinetwillen aufbrechen muss, damit es mir wieder besser geht. Solange ich die innere Stimme, die mich dazu gerufen hat, ignoriert habe, war die Bibelstelle wirkungslos für mich. Jetzt bin ich überzeugt, es ist gut auf diese innere Stimme zu hören – tu es „für dich!“.
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Zwei jüdische Dichter, die genau das Gegenteil sagen. Wem soll ich da glauben?
Zum einen Kohelet aus dem gleichnamigen Buch in der Bibel. Er sagt: „Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit zu hassen und eine Zeit zu lieben oder eine Zeit zu weinen und eine Zeit zu lachen.“
Auf der anderen Seite der im Jahr 2000 verstorbene Jehuda Amichai. Er sagt:
„Ein Mensch in seiner Zeit hat keine Zeit, um Zeit zu haben,
für jegliches Ding, Kohelet, der Prediger, irrt!
Er muß hassen und lieben zur gleichen Zeit,
mit den gleichen Augen weinen und lachen (…)
Er muß Liebe machen im Krieg und Kriege in der Liebe.“[1]
Wer hat jetzt Recht - Kohelet, der allem seine Zeit einräumt, oder Amichai, der sagt, dass alles gleichzeitig passiert? Ich denke beide auf ihre Weise.
Das biblische Buch Kohelet gehört zur Weisheitsheitsliteratur, und für mich steckt dort viel Weisheit drin. Das gleich gilt aber auch für das Gedicht von Amichai. Auch wenn die beiden Texte sich scheinbar widersprechen. Weisheit besteht nicht aus Sätzen, die richtig oder falsch sind, sondern sie zeigt sich darin, dass sie uns hilft, unser Leben gut zu meistern. Und da helfen mir beide Texte.
Kohelet fordert mich auf: akzeptiere, dass es unterschiedliche Zeiten in deinem Leben gibt. Manche davon sind angenehm, andere schwierig. Stell dich den schwierigen, du musst sie durchleben, manchmal auch durchleiden. Aber hoffe auch, dass es wieder anders wird. Die schönen Zeiten darfst du genießen. Koste sie voll aus, auch wenn dir bewusst ist, dass es nicht immer so weitergehen wird. Und nimm dir bewusst Zeit für das, was gerade ansteht. Sei mit den Gedanken nicht schon bei etwas anderem.
Das passiert mir allerdings öfter. Aber vielleicht hat das auch mit dem Leben zu tun. Das lese ich aus dem Gedicht von Jehuda Amichai. Das menschliche Leben ist so vielschichtig und komplex, dass es die Zeiten, von denen Kohelet spricht, selten in ganz reiner Form gibt, wie er behauptet. In Zeiten der Trauer gibt es Momente, in denen ich mich freue und vielleicht sogar herzhaft lachen kann. In schwierigen beruflichen Zeiten erlebe ich ganz besonders den Rückhalt von Freunden. Als ich mich über die Geburt unserer Tochter gefreut habe, hat mich zur gleichen Zeit die schwere Krankheit meiner Mutter belastet.
Diese Ambivalenzen gehören zu meinem Leben dazu. Sie zuzulassen und wahrzunehmen, den Schmerz in der Freude und die Freude im Schmerz nicht zu verdrängen, gibt dem menschlichen Leben Tiefe.
[1] Jehuda Amichai, Ein Mensch in seiner Zeit, in: ders., Zeit, Frankfurt 1998, S. 65
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Ich habe jede Menge ungelesener Bücher in meinen Regalen. Seit kurzem steht dort ein ganz besonderes, das mir sehr kostbar ist. Es ist das ungelesene Buch einer guten Freundin. Sie hat es mir zum Lesen ausgeliehen. Bevor ich es ihr zurückgegeben konnte, ist sie gestorben, zu jung und zu früh. Sie wird das Buch nicht mehr lesen können.
Einige Tage vor ihrem Tod waren wir noch bei ihr zu Besuch. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber ihr Mann hat mich durchs Haus geführt und mir die verschiedenen Bücherregale gezeigt. Voll mit vielen Büchern auf Deutsch, Spanisch und Französisch. Die meisten davon gelesen. Ich war sehr beeindruckt.
Jetzt im Nachhinein erscheinen mir diese Bücher wie ein Sinnbild – die gelesenen wie das ungelesene. Das ungelesene Buch steht für mich dabei für all die Dinge, die sie in ihrem Leben noch gerne gemacht und erlebt hätte, die ihr aber nicht mehr vergönnt waren. Das macht mich unendlich traurig, auch wenn ich an ihre Familie denke.
Der Blick auf die vielen anderen Bücher ist zunächst einmal genauso schmerzhaft. Er versinnbildlicht, was dieses Leben ausgemacht hat, und was alles verloren geht, wenn ein Mensch stirbt. Aber neben all dem Schmerzhaften zeigt sich darin auch etwas Tröstliches. Die Zeit, die sich zu kurz anfühlt, war reich und gefüllt.
Das ungelesene Buch in meinem Regal ist mir kostbar. Es erinnert mich nicht nur an die Freundschaft zu einem Menschen, den ich sehr geschätzt habe. Es erinnert mich auch daran, dass meine Zeit begrenzt ist, und ich nicht weiß, wie viel mir noch geschenkt wird.
Ich werde nicht alle ungelesenen Bücher in meinem Regal lesen können. Und ich werde nicht alle meine Träume und Pläne verwirklichen können. Und trotzdem ist es gut, dass es sie gibt, weil sie verheißen, dass es da noch etwas in der Zukunft gibt, was es zu tun und zu erleben gilt.
Aber das Wissen, dass es jederzeit aus sein kann, mahnt mich auch, mich immer wieder neu und bewusst zu entscheiden, was ich lesen und wie ich leben möchte.
Das Leben ist zu kurz um schlechte Bücher zu lesen. Und es ist auch zu kurz, um das, was mir wichtig und kostbar ist, ständig auf morgen zu verschieben.
Es gilt, dass Leben jetzt zu leben, und obendrauf gibt es da auch noch die Hoffnung, dass mit dem Tod vielleicht nicht alles vorbei ist. Vielleicht wird dann ja nochmal ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen.
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