Zeige Beiträge 1 bis 10 von 49 »
SWR2 Wort zum Tag
Ich habe jede Menge ungelesener Bücher in meinen Regalen. Seit kurzem steht dort ein ganz besonderes, das mir sehr kostbar ist. Es ist das ungelesene Buch einer guten Freundin. Sie hat es mir zum Lesen ausgeliehen. Bevor ich es ihr zurückgegeben konnte, ist sie gestorben, zu jung und zu früh. Sie wird das Buch nicht mehr lesen können.
Einige Tage vor ihrem Tod waren wir noch bei ihr zu Besuch. Ich weiß nicht mehr genau warum, aber ihr Mann hat mich durchs Haus geführt und mir die verschiedenen Bücherregale gezeigt. Voll mit vielen Büchern auf Deutsch, Spanisch und Französisch. Die meisten davon gelesen. Ich war sehr beeindruckt.
Jetzt im Nachhinein erscheinen mir diese Bücher wie ein Sinnbild – die gelesenen wie das ungelesene. Das ungelesene Buch steht für mich dabei für all die Dinge, die sie in ihrem Leben noch gerne gemacht und erlebt hätte, die ihr aber nicht mehr vergönnt waren. Das macht mich unendlich traurig, auch wenn ich an ihre Familie denke.
Der Blick auf die vielen anderen Bücher ist zunächst einmal genauso schmerzhaft. Er versinnbildlicht, was dieses Leben ausgemacht hat, und was alles verloren geht, wenn ein Mensch stirbt. Aber neben all dem Schmerzhaften zeigt sich darin auch etwas Tröstliches. Die Zeit, die sich zu kurz anfühlt, war reich und gefüllt.
Das ungelesene Buch in meinem Regal ist mir kostbar. Es erinnert mich nicht nur an die Freundschaft zu einem Menschen, den ich sehr geschätzt habe. Es erinnert mich auch daran, dass meine Zeit begrenzt ist, und ich nicht weiß, wie viel mir noch geschenkt wird.
Ich werde nicht alle ungelesenen Bücher in meinem Regal lesen können. Und ich werde nicht alle meine Träume und Pläne verwirklichen können. Und trotzdem ist es gut, dass es sie gibt, weil sie verheißen, dass es da noch etwas in der Zukunft gibt, was es zu tun und zu erleben gilt.
Aber das Wissen, dass es jederzeit aus sein kann, mahnt mich auch, mich immer wieder neu und bewusst zu entscheiden, was ich lesen und wie ich leben möchte.
Das Leben ist zu kurz um schlechte Bücher zu lesen. Und es ist auch zu kurz, um das, was mir wichtig und kostbar ist, ständig auf morgen zu verschieben.
Es gilt, dass Leben jetzt zu leben, und obendrauf gibt es da auch noch die Hoffnung, dass mit dem Tod vielleicht nicht alles vorbei ist. Vielleicht wird dann ja nochmal ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36923SWR2 Wort zum Tag
Ich möchte gelassener werden. Das nehme ich mir immer wieder vor, nicht nur am Beginn eines neuen Jahres. Es ist so ein Dauerbrenner wie: ich möchte mehr Sport treiben, mir mehr Zeit für Familie und Freunde nehmen oder mich gesünder ernähren. Vermutlich werde ich nie ein Meister in Gelassenheit werden, trotzdem glaube ich, es lohnt sich, mich immer wieder darin zu üben.
Aber wie geht das? Im Wort Gelassenheit steckt das Verb „lassen“. Um gelassen zu sein, muss ich Dinge sein lassen können. Und zwar im doppelten Sinne:
Zum einen muss ich akzeptieren, dass sie sind, wie sie sind – und nicht, wie ich sie mir vielleicht wünsche.
Zugleich muss ich manches auch einfach sein lassen, indem ich es aus der Hand gebe oder erst gar nicht zu meiner Sache mache. Ich muss mich davon frei machen, alles im Griff haben zu wollen und von dem falschen Gedanken lösen, dass ich alles im Griff haben könnte. Ich muss vertrauen, dass nicht alles an mir hängt.
Dadurch lasse ich mich auch in gewisser Weise selbst los. Ich hafte nicht mehr an Bildern und Vorstellungen, wie ich sein möchte, und ich nehme mich selbst nicht zu wichtig. Wenn mir das gelingt, dann werde ich dadurch freier.
Bedeutet gelassen sein dann, einfach nichts tun und die Dinge laufen lassen, wie sie sind? Ist Gelassenheit das Gleiche wie Gleichgültigkeit? Ich glaube nicht. Es geht eher darum eine andere Haltung zu den Dingen zu gewinnen.
Zum Beispiel, wenn in ein paar Tagen ein wichtiges Gespräch ansteht. Ich habe mir überlegt, was ich sagen und einbringen will. Aber trotzdem kreisen meine Gedanken ständig darum, obwohl ich jetzt in diesem Moment nichts mehr tun kann – nichts außer loslassen und dem Gespräch gelassen entgegensehen.
Ähnlich ist es mit einem Fehler, der mir passiert ist. Ich kann mir ständig wieder die Situation vor Augen führen und überlegen, was ich besser hätte machen können – oder ich kann es lassen und den Fehler eingestehen – mir und anderen gegenüber.
Erfunden hat das Wort Gelassenheit übrigens Meister Eckhart. Er war ein Dominikanermönch und Mystiker, der im Spätmittelalter gelebt und gelehrt hat. Immer wieder fordert er auf, Dinge zu lassen, um gelassener zu werden. Tröstlich finde ich, dass ihm klar war, dass man das ein Leben lang üben muss. So heißt es in einer seiner Predigten: „Du musst wissen, daß noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, daß er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen.“[1]
[1][1] Meister Eckhart, Werke, Bd. 2, Herausgegeben von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 1993, S. 343.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36922SWR2 Wort zum Tag
Ich überfliege die Kontakte in meinem Smartphone.
Ich bin in einer Online-Fortbildung und habe gerade den Auftrag bekommen: Schicke die folgenden beiden Fragen per Messenger an jemanden aus deinem Adressbuch.
Erstens: „Vor wem hast du Respekt?“
Und zweitens: „Was findest du respektlos?“
Ich überlege kurz und entscheide mich dann für einen guten Freund, tippe die zwei Fragen ein und schicke sie ab. Ob er es komisch findet, dass ich ihn das mitten im Alltag einfach so frage? Egal, ich kann´s ihm ja später erklären. Die Fortbildung geht weiter und ganz am Ende kommen wir auf die beiden Fragen zurück. Jeder soll in den Chat schreiben, welche Antworten zurückgekommen sind. Ich schaue auf mein Smartphone und entdecke eine Sprachnachricht.
Mein Freund findet die Frage voll spannend und hat erstmal nachdenken müssen.
Respekt hat er vor Menschen, die etwas Besonderes leisten, vor allem wenn es etwas ist, was er selbst nicht könnte, z.B. sich auf einem Gebiet großes Wissen anzueignen oder körperliche Höchstleistungen zu erbringen.
Respektlos dagegen findet er es, wenn jemand ihn spüren lässt, dass er etwas besser kann oder weiß. Konkret denkt er dabei an einen Professor an seiner Uni. Zum Schluss bedankt er sich, dass ich ihn um seine Meinung gebeten habe. Auch das ist für ihn ein Zeichen von Respekt.
Einige Tage später spreche ich mit einem Kollegen, der schon länger als Seelsorger in der Psychiatrie arbeitet. Er sagt mir, wie groß sein Respekt vor den Patienten ist, denen er dort begegnet. Viele von ihnen haben eine lange Krankheitsgeschichte, oft ausgelöst durch ein traumatisches Erlebnis. Manchmal sagt er ihnen dann direkt: „Ich bewundere Sie, wie Sie hier vor mir sitzen, trotz allem, was sie durchgemacht haben – wie Sie Ihr Leben trotz Ihrer Krankheit und all den Schwierigkeiten leben. Ich weiß nicht, ob ich das könnte.“
Irgendwie interessant: mein Kollege und mein Freund haben beide Respekt vor Personen, die etwas Besonderes leisten. Dabei haben sie aber zunächst einmal vermutlich ganz unterschiedliche Menschen vor Augen. Mich macht das nachdenklich. Vor wem habe ich Respekt? Da gibt es die, die allgemein bewundert werden und angesehen sind. Und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die Enormes leisten, was auf den ersten Blick verborgen bleibt.
Wie schnell kann es passieren, dass ich Menschen gegenüber respektlos bin, weil ich ihre Geschichte nicht kenne? Und sei es auch nur, wie ich über sie denke, ohne zu wissen, was sie in Wirklichkeit jeden Tag leisten.
Für mich heißt das, aufpassen. Ich möchte nicht respektlos sein. Und das heißt für mich, allen Menschen erst einmal mit dem größtmöglichen Respekt begegnen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36921SWR2 Wort zum Tag
Manchmal bin ich so richtig „grätig“. Für alle, die mit diesem Wort nichts anfangen können: „grätig“ bedeutet in diesem Zusammenhang: „schlecht gelaunt“. Ich habe das Wort bis vor einiger Zeit nicht gekannt. Gelernt habe ich es von Michi, einer guten Freundin. Seitdem mag ich „grätig“ - also den Ausdruck, nicht den Zustand. Der ist nämlich echt doof.
Wenn ich „grätig“ bin, dann bin ich irgendwie mit allem unzufrieden - mit der Welt und mit mir selbst. Auf das was ich machen soll, habe ich keine Lust. Entweder erledige ich es missmutig oder aber ich beschäftige mich stattdessen mit irgendwelchen anderen Sachen, und am Ende bin ich noch unzufriedener als davor. Menschen in meiner Umgebung fällt es dann besonders leicht, mich zu nerven. Und meistens tun sie es auch.
Manchmal ahne ich, was mich so unzufrieden macht, manchmal aber weiß ich gar nicht auf Anhieb, warum ich so schlecht drauf bin.
Und dann hilft mir das Wort „grätig“. Weil ich damit einen Ausdruck habe, um mir selbst zu sagen: So ist es gerade – Du bist „grätig“. Das macht es tatsächlich schon ein kleines bisschen besser. Ich bin diesem Zustand nicht mehr ganz so ausgeliefert, weil ich ihn benennen kann. Ich kann ihn wahrnehmen als eine Stimmung, die mich gerade beherrscht, und die ich nicht so einfach abstellen kann. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass sie auch wieder enden wird.
Das kann mich davor bewahren, spontanen Impulsen zu folgen, wenn ich „grätig“ bin. Sei es, jemandem mal so richtig die Meinung zu sagen und dadurch zu verletzen. Oder eine Sache einfach hinzuschmeißen, weil mich gerade alles ankekst.
Es ist nicht gut, diesen destruktiven Impulsen unmittelbar nachzugeben – aber trotzdem sind die Impulse wertvoll. Wenn ich sie aufmerksam wahrnehme, können sie mir zeigen, wo gerade etwas schiefläuft. Oft sind sie gefühlt ganz schön heftig, aber vielleicht sind sie das, weil ich sie sonst ignorieren würde.
Meine Schlechte-Laune-Impulse signalisieren mir, wo ich handeln sollte: mit wem ich mal in Ruhe ein Gespräch führen müsste, um ihm oder ihr zu sagen, wie es mir gerade mit unserer Beziehung geht. Oder in welchen Bereichen ich Dinge verändern möchte, um zufriedener mit mir selbst zu sein.
Aber dazu muss ich erstmal aufhören „grätig“ zu sein. Inzwischen weiß ich ganz gut, was mir dabei hilft. Sport zum Beispiel, oder aber mit einer guten Freundin wie Michi zu telefonieren, der ich ganz offen sagen kann, wie „grätig“ ich gerade bin.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36402SWR2 Wort zum Tag
Seit Anfang Oktober ziert ein Schriftzug das Fenster der Propsteikirche in Leipzig. In großen weißen Buchstaben steht dort: „22 ist nicht 89“ – Eine Anspielung auf die Jahre 2022 und 1989. Und etwas kleiner steht in rot darunter: „Wir leben in keiner Diktatur.“ Das Fenster zeigt zum Innenstadtring. Dorthin, wo im Herbst 1989 die Montagsdemonstrationen vorbeigezogen sind, bei denen die Teilnehmenden friedlich für Reformen und mehr Freiheit in der DDR demonstriert haben.
Auch 2022 gibt es wieder Montagsdemonstrationen in Leipzig. Ein großer Unterschied zu damals: wenn die Demonstrierenden friedlich bleiben, dann brauchen sie nicht zu fürchten, dass sie verhaftet werden. Das war 89 anders: Niemand wusste, was passieren würde. Die Menschen mussten damit rechnen, dass sie verhaftet, verhört, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt werden. Oder dass die Volkspolizei den Befehl bekommt, alle niederzuknüppeln oder scharf zu schießen.
Auf diesen entscheidenden Unterschied soll der Schriftzug aufmerksam machen: „22 ist nicht 89“. Das soll verhindern, dass heutige Gruppierungen die friedlichen Demonstrationen von damals unrechtmäßig für ihre eigenen Ziele vereinnahmen.
Als ich im Internet von der Aktion lese, bin ich erst wenige Tage zurück aus Leipzig. Dort habe ich die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Zentrale besucht und mit einem Dominikanerpater gesprochen, der damals bei den Friedensgebeten und den Montagsdemonstrationen dabei war.
Beeindruckt hat mich darüber hinaus die Ausstellung „Demokratie ist kein Denkmal“, die auch virtuell im Internet zu sehen ist.[1] Sie zeigt Videos, in denen Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR und syrische Aktivisten des sogenannten Arabischen Frühlings den Besuchern von ihren Erfahrungen berichten. Die sind teilweise ähnlich, aber es gibt einen großen Unterschied: Im Gegensatz zur friedlichen Revolution in der DDR ist der arabische Frühling in Syrien brutal niedergeschlagen worden.
Und nicht nur in Syrien, sondern in vielen anderen Ländern der Welt ist es im Jahr 2022 lebensgefährlich, Kritik an der Regierung zu äußern und Veränderungen einzufordern: Iran, Myanmar, Hongkong, Belarus, Russland sind nur einige Namen einer viel zu langen Liste.
Diese Beispiele zeigen, Demokratie ist nicht selbstverständlich. Wir müssen sie täglich neu aushandeln, gestalten und verteidigen. Für Deutschland gilt: „Wir leben in keiner Diktatur.“ Gott sei Dank. Aber es ist unsere Verantwortung, dass es so bleibt. Und wir sollten solidarisch mit all jenen sein, die hoffen und sich dafür einsetzen, dass dieser Satz in der Zukunft auch auf ihr Heimatland zutrifft.
[1]https://www.demokratie-kein-denkmal.org/virtuelle-ausstellung#289220
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36401SWR2 Wort zum Tag
Ich bin auf der Einschulung meiner Nichte gewesen, und dort bin auf eine alte Geschichte gestoßen, die ich dieses Jahr mit ganz neuen Ohren gehört habe. Die Kinder der dritten Klasse haben ein kleines Theaterstück aufgeführt. Es heißt „Frederick“ von Leo Lionni. Ich kenne die Geschichte aus meiner eigenen Kindheit. Sie handelt von einer Familie von Feldmäusen. Der Inhalt ist schnell erzählt.
Im Herbst sammeln die Mäuse fleißig Vorräte für den Winter - alle außer Frederick, der arbeitet anscheinend nichts. Als sich die anderen beklagen, antwortet er: Ich sammle ebenfalls Vorräte für den Winter: Sonnenstrahlen, Farben und Wörter. Als es dann im Winter kalt ist, und die Essenvorräte der anderen Mäuse immer weniger werden, erinnern sie sich an Fredericks Vorräte und fragen ihn danach. Da bittet er sie, ihre Augen zu schließen. Dann erzählt er ihnen von den Sonnenstrahlen, und den kleinen Mäusen wird warm. Er beschreibt die Farben des Sommers so eindrücklich, dass die anderen sie bildlich sehen können, und mit den gesammelten Wörtern trägt er ihnen ein Gedicht vor. Am Ende sind alle begeistert und klatschen.
Die Geschichte ist nett für Kinder und vermutlich geht sie auch vielen Erwachsenen zu Herzen. Aber wie klingt sie heute für die, deren Geld am Monatsende nicht mehr zum Einkaufen reicht und deren Wohnung kalt ist? Ich könnte jeden verstehen, der diesem Frederick sagen möchte: „Hättest du mal lieber mit dafür gesorgt, dass wir genug zu Essen haben. Auf deine warmen Worte kann ich gerne verzichten. Davon werde ich auch nicht satt.“
Und trotzdem glaube ich, dass etwas Wahres in der Geschichte steckt. Ich bin überzeugt, dass es Menschen wie Frederick braucht, gerade auch in Zeiten, in denen materielle Not herrscht.
Menschen, die zum richtigen Zeitpunkt – nämlich dann, wenn sie gefragt sind – die richtigen Worte finden. Worte, die anderen Menschen helfen, sich daran zu erinnern, was ihr Leben hell und warm macht. Worte, die das Alltagsgrau zurücktreten lassen, um die Buntheit und die Farben sehen zu können, die das eigene Leben trotz allem noch bereithält. Worte, die sie hoffen und glauben lassen, dass wieder andere, bessere Zeiten kommen.
Ich weiß, das alles lindert nicht die materielle Not. Wenn es nur Fredericks gäbe, dann wären die Feldmäuse jämmerlich verhungert. Ich will die Macht der guten Worte nicht überschätzen, aber ihre Stärke auch nicht kleiner reden als sie ist. Wir brauchen beides: etwas, das unseren Körper nährt und wärmt und etwas, das unseren Seelen Kraft und Energie gibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=36400SWR2 Wort zum Tag
Mein Lieblingsplatz in unserem Garten ist die Treppe, die leicht geschwungen hinunter zum Gartentor führt. Wenn ich etwas Zeit habe, dann setze ich mich dort gerne für einen Moment auf die oberste Stufe. Rechts und links von der Treppe blühen jetzt im Sommer Lavendelsträucher. Bienen und Hummeln summen und brummen, während sie von einer Blüte zur nächsten fliegen. Am blauen Himmel ziehen einzelne weiße Wolken langsam vorbei. Nach einer Weile nehme ich wahr, wie im Hintergrund die Vögel zwitschern, ich rieche den Duft des Lavendels und spüre, wie der Wind über meine Haut streicht.
In diesem Moment staune ich wie schön die Natur ist. Und auf einmal fällt mir die Schöpfungserzählung aus der Bibel ein. In diesem Text beschreibt der biblische Autor, wie Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat. An mehreren Stellen heißt es, nachdem Gott etwas Neues gemacht hat: Und er sah, dass es gut war.
Und jetzt sitze ich in meinem Garten, diesem kleinen Stück Welt, und sehe, dass es gut ist. Und ich sehe es nicht nur, nein, ich höre es auch, rieche es und spüre es: es ist gut und vor allem: Es ist schön.
In meiner Fantasie stelle ich mir vor, dass der Autor genau durch einen solchen Moment inspiriert wurde, seinen Schöpfungshymnus zu schreiben. Durch einen Moment, in dem er von der Schönheit der Natur überwältigt war und fest überzeugt gewesen ist, dass die Welt, so wie sie ist, gut ist und ein großartiger Schöpfer dahintersteckt.
Als Mensch begreift er sich selbst als Teil dieser Schöpfung, aber beansprucht auch eine Sonderstellung. Er lässt Gott sagen: „Ich will Menschen machen als mein Bild, mir ähnlich!“ (Gen 1,26a)
Indem der Autor den Menschen als Ebenbild Gottes beschreibt, macht er den Menschen zu einem Gegenüber zur restlichen Schöpfung. Ähnlich wie Gott kann auch der Mensch auf die Welt schauen und sie nach seinen Ideen und Vorstellungen gestalten.
An dieser Stelle könnte man viel diskutieren, ob es richtig ist, dass sich die Menschen eine Sonderstellung im Umgang mit der restlichen Natur herausnehmen und welche negativen Folgen das hat. Aber darum geht es mir an dieser Stelle erstmal gar nicht.
Es geht darum, was vielleicht auch der besondere Auftrag des Menschen in dieser Welt sein könnte: Die Welt in ihrer Schönheit wahrnehmen. Immer wieder innehalten und sich mit allen Sinnen in den Bann ziehen lassen. Als Mensch kann ich staunen über die Vielfalt und den Reichtum, der sich mir zeigt, wenn ich aufmerksam bei den Dingen verweile.
In solchen Momenten spüre ich, wie ich aus dem Alltäglichen herausgehoben werde und zu mir selbst kommen kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=35860SWR2 Wort zum Tag
Der Applaus verebbt. Die vielleicht sechzehnjährige Sängerin lächelt ein wenig unsicher. Mit einer Hand greift sie das Mikrofon, als wollte sie sich daran festhalten. „Es bedeutet mir so viel für Euch zu singen“, sagt sie mit gehauchter, etwas brüchiger Stimme, aber ihre Augen strahlen dabei. Dann ein kurzer Blickkontakt zu ihrer Gesangslehrerin am Klavier. Diese nickt ihr aufmuntern zu und beginnt die Anfangsakkorde zu spielen.
Ich bin bei einem Vorspiel in der Musikschule „Musiclab“. Mein Sohn hat kurz zuvor ein Stück auf der Ukulele gespielt. Jetzt sitzen wir da und hören den anderen zu. Für viele ist es ihr erster oder zweiter Auftritt – und ehrlich gesagt, hört man das auch immer mal wieder. Mal hängt das Tempo, mal klingt es ein bisschen schief oder der Einsatz klappt nicht sofort. Aber allen scheint es Spaß zu machen. Den Lehrerinnen und Lehrern gelingt es, eine besondere Atmosphäre zu schaffen: jede und jeder kann sein Können präsentieren, auch wenn es noch nicht perfekt ist. Alles hat eine gewisse Leichtigkeit, in der Fehler dazugehören und nicht stören.
Und dann gibt es da noch diese wundervollen Momente: Die Band, bei der das Tempo zuvor ein wenig gerumpelt hat, beginnt auf einmal zu grooven. Der Sänger, der sich anfangs noch etwas unsicher mit dem ein oder anderen falschen Ton durch die Strophe gehangelt hat, entfaltet auf einmal im Refrain das ganze Potential seiner Stimme. Und ich bekomme eine Gänsehaut.
Immer wenn der letzte Ton verklungen ist, brandet Applaus auf. Ich spüre, die einzelnen Kinder und Jugendlichen sind erleichtert, dass sie es geschafft haben. Aber sie sind auch stolz – und das zu Recht.
Am Ende gehe ich beglückt nach Hause. Es war ein tolles Konzert. Es hat mich begeistert, gerade weil es nicht vollkommen war. Und es hat mich nachdenklich gemacht.
Ich selbst neige eher zum Perfektionismus. Wenn ich etwas mache, dann habe ich hohe Ansprüche an mich selbst und setze mich dadurch oft unter Druck. Aber dieser Abend hat mir gezeigt, dass es auch anders geht – und wie schön das ist. Darum wünsche ich mir mehr davon auch in anderen Situationen. Ein neues Rezept zum ersten Mal ausprobieren, auch wenn Besuch kommt. In einer Konferenz eine Methode einsetzen, die spannend klingt, aber von der ich nicht sicher bin, ob sie funktioniert. Mich trauen, die Dinge, die mir Freude bereiten, einfach mal zu machen, egal wie gut ich sie kann und dadurch andere zu ermutigen, es auch zu tun.
Ich bin zuversichtlich, dass es dann diese wundervollen Momente geben wird. Diese Momente, in denen Sachen gelingen, die ich mir selbst nie zugetraut hätte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=35859SWR2 Wort zum Tag
Manchmal ärgern mich sehr kleine Dinge. Zum Beispiel ein schmutziger Topf, der in der Spüle steht. Er steht dort, um einzuweichen – aber er steht im Weg, wenn ich den Wasserhahn benutzen möchte. Darum finde ich es viel sinnvoller Töpfe zum Einweichen neben die Spüle zu stellen, aber meine Frau sieht das anders.
Seit einiger Zeit versuche ich mich in solchen oder ähnlichen Situationen an ein Gedicht zu erinnern. Es stammt vom israelischen Dichter Jehuda Amichai und heißt: Der Ort, an dem wir recht haben.[1]
Der Text beginnt so:
An dem Ort, an dem wir recht haben,
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir recht haben,
ist zertrampelt und hart wie ein Hof.
Für mich spricht Jehuda Amichai darin eine tiefe Wahrheit aus, die nicht nur für so banale Alltagssituationen wie dem Kochtopf in der Spüle gilt. Um bei meiner Frau und mir für schlechte Stimmung zu sorgen, kann ich ihr vorhalten: Warum steht der Topf schon wieder da, wo er nicht hingehört. Meistens reicht es schon, wenn ich es nur für mich denke. Dann dauert es erstmal eine Weile bis ich ihr wieder unbefangen begegnen kann.
Noch mehr gilt diese Wahrheit von Jehuda Amichai für wichtigere Angelegenheiten, bei denen ich unterschiedlicher Meinung als andere bin. Wenn ich mir einbilde, dass nur ich Recht habe, dann bleibt für die anderen kein Raum. Das führt dazu, dass jeder seine Positionen zementiert und nichts mehr wachsen und entstehen kann.
Jehuda Amichai gibt aber auch einen Tipp, welche beiden Haltungen dagegen helfen können. In seinem Text heißt es weiter:
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Natürlich kann ich meinen, dass die Dinge so wie ich sie mache, am besten gemacht sind. Aber ich kann es auch anzweifeln. Vielleicht gibt es ja mehrere Möglichkeiten, von denen ich eine und meine Frau eine andere bevorzugt. Und wenn ich sie liebe, dann kann ich ihr zugestehen, die Dinge so zu machen, wie es ihr entspricht. Und gleichzeitig hoffe ich, dass sie mir das genauso zugesteht.
Wenn ich bei manchen Konflikten genauer hinsehe, entdecke ich darin immer auch Momente, bei denen es nur darum geht, Recht zu haben.
Aber wenn ich Jehuda Amichai folge, dann lohnt es sich, darauf zu verzichten. Vielleicht gelingt es ja, mit Zweifel und Liebe die Welt aufzulockern.
[1] Jehuda Amichai: Zeit. Gedichte. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Paulus Böhmer,
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1998, S. 21.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=35858SWR2 Wort zum Tag
Es ist Sonntagnachmittag. Ich sortiere Legosteine vom Kinderzimmerboden in verschiedene Kisten. Unter der Woche hat die Zeit mal wieder nicht gereicht, für Ordnung zu sorgen. Jetzt ist das Chaos groß und muss endlich weg. Alleine schaffen es die Kinder nicht, also helfe ich ihnen, besser gesagt: ich räume auf und versuche sie zu motivieren, dass sie mir dabei helfen. Leider mit mäßigem Erfolg. Dabei fällt mir ein, dass wenn ich hier fertig bin, ich unbedingt noch zwei Mails schreiben und ein paar Unterlagen sortieren sollte. Die nächste Woche ist wieder so voll, dass auch das ansonsten untererledigt bleiben würde.
In diesem Moment muss ich an meine jüdischen Bekannten aus unserem „interreligiösen Gesprächskreis“ denken. Ihnen würde es nicht einfallen, an ihrem Ruhetag, dem Schabbat, Kinderzimmer aufzuräumen und Bürokram zu erledigen.
Für sie ist der Schabbat „heilig“. Wenn wir als Gruppe eine gemeinsame Aktion planen, dann ist klar, dass dafür die Zeit des Schabbats von Freitagabend bis Samstagabend nicht in Frage kommt. Der Schabbat ist für sie ein Ruhetag, an dem jede Form von Arbeit verboten ist, damit der Mensch sich von den Anstrengungen der Woche erholen kann. Der Schabbat ist dazu da, sich losgelöst von den Zwängen des Arbeitsalltags mit geistigen Dingen zu beschäftigen, die Tora zu studieren, aber auch um Zeit mit der Familie zu verbringen und den Zusammenhalt zu stärken.
Für mich ist der Sonntag mein Ruhetag oder sollte es zumindest sein. Denn ich merke, dass ich hier nachlässig bin.
Jesus sagt: „Der Schabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Schabbat.“ Ich wende dieses Wort für meine Sonntage an und nutze sie oftmals auch dazu, Dinge zu erledigen, die ich innerhalb der Woche nicht geschafft habe. Ich mache das, weil ich in diesen Momenten glaube, dass es besser ist, die Dinge jetzt zu tun, auch wenn Sonntag ist. Einfach, weil sie irgendwann getan werden müssen und ich sonst keine Zeit finde.
Das ist praktisch, aber ich bin mir nicht sicher, ob es auch wirklich gut ist. Ich mag aufgeräumte Kinderzimmer, aber sie am Sonntag mit den Kindern aufzuräumen, stärkt bei uns in der Familie nicht den Zusammenhalt. Erledigte Mails und sortierte Unterlagen geben mir ein gutes Gefühl, aber manchmal denke ich am Sonntagabend, ein freier Tag morgen wäre schön.
Für dieses Wochenende bin ich fest entschlossen, mir meine jüdischen Freunde zum Vorbild zu nehmen. Gleich an heute Morgen werde ich mir überlegen, was alles noch unbedingt erledigt werden muss. Dann werde ich loslegen und machen so viel ich kann. Aber nur bis zum Abend. Dann höre ich auf, dann beginnt der Sonntag.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=33757Zeige Beiträge 1 bis 10 von 49 »