SWR2 Wort zum Tag
Der Film „Der Club der toten Dichter“ hat mich als Jugendlicher sehr berührt. Ein Zitat aus dem Film ist mir geblieben. Es geht so: „Im Wald zwei Wege boten sich mir dar, ich wählte den, der weniger betreten war, und das veränderte mein Leben.“ Es sind die letzten Zeilen aus dem Gedicht „The Road Not Taken“ des US-amerikanischen Dichters Robert Frost – zugegebenermaßen in einer sehr freien Übertragung.
Das Zitat habe ich lange Zeit so verstanden: Immer wieder im Leben werde ich an Abzweigungen kommen, wo ich nur einen der beiden Wege nehmen kann. Spannender scheint es zu sein, denjenigen zu nehmen, der etwas weniger betreten ist, d.h. mich für das zu entschieden, was außergewöhnlicher ist, etwas, das nicht so viele Leute machen.
Bei meinem letzten Spaziergang im Wald ist mir noch was dazu eingefallen. Immer wieder in meinem Leben komme ich in ähnliche Situationen, wo ich mich entscheiden muss, wie ich mich verhalte. Ich ärgere mich zum Beispiel wie sich ein Kollege mir gegenüber verhalten hat. Entweder schlucke ich wie üblich meinen Ärger runter, denke, was soll‘s, reg dich nicht auf, das ist es nicht wert. Das wäre der Weg des geringeren Widerstandes. Oder aber ich probiere etwas Neues, vielleicht auch etwas Unangenehmeres: Ich spreche ihn darauf an und sage ihm, dass ich mich über ihn geärgert habe.
Einer der beiden Wege ist in der Regel der, den ich häufiger betrete. Ich nehme ihn, weil ich mich auf ihm sicher fühle, weil er mir entspricht oder weil ich meine, dass ich bisher auf ihm auch nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht habe. Aber tatsächlich verzichte ich dadurch auf den zweiten Weg und damit auch auf die Chance, zu entdecken, was mich auf ihm erwartet.
Möglicherweise stellt sich der Weg als viel angenehmer heraus als ich gedacht habe: Mein Kollege entschuldigt sich; er wusste gar nicht, dass mich sein Verhalten so nervt. Oder aber der Weg bietet mir einen neuen Ausblick: Mein Kollege vertraut mir an, dass er privat gerade sehr unter Druck steht, und ich kann ihn jetzt besser verstehen. Oder im Gespräch merke ich, welche Anteile ich an unserem Konflikt habe. Vielleicht fordert der Weg viel von mir, aber am Ende bin ich stolz, wenn ich merke. Wow, ich hab’s geschafft.
Eine Erfahrung mache ich auf alle Fälle: dass ich tatsächlich eine Wahl zwischen diesen beiden Wegen habe. Dass ich nicht auf den einen ausgetretenen festgelegt bin. Und zwischen zwei Wegen entscheiden zu können, gibt mir innere Freiheit und das verändert mein Leben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=38807