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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

02MRZ2024
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Die BASF hat Ludwigshafen bekannt und reich gemacht. Zumindest einige, wie den Gründer Friedrich Engelhorn und seine Nachfahren. Etwa Marlene Engelhorn. Mit 31 Jahren hat sie von ihrer Großmutter Traudl ein Vermögen geerbt. Aber sie wird den Großteil der Millionen nicht annehmen. Riesige Summen einfach zu erben, das ist ungerecht, sagt sie und: "Es ist doch nicht gottgegeben, dass wenige viel bekommen und viele wenig."

Deshalb setzt sie sich unter anderem für eine Vermögenssteuer ein. "Die erste Steuer auf eine Erbschaft sollte nicht die Mehrwertsteuer auf meine neue Yacht sein", sagt Marlene Engelhorn und fordert "tax me now". Jetzt, sofort ist es an der Zeit, Superreiche anders zu besteuern. Das sagt sie etwa auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Wo sich jedes Jahr wieder zeigt: extreme Armut und extremer Reichtum nehmen zu. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt die Hälfte des weltweiten Vermögens, das meist weitervererbt wird.

Marlene Engelhorn will gerechter teilen und tut etwas bislang Einmaliges. In Österreich, wo sie lebt, verteilt sie 90 Prozent ihres Vermögens - etwa 25 Millionen Euro - an zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger. Das Verfahren wird wissenschaftlich begleitet. Und nun, ab März, entscheidet ein Bürgerrat „für Rückverteilung“, wer wieviel erhalten soll. Transparent und demokratisch. "Ich will nicht selbst entscheiden, was mit dem Geld passiert", sagt die BASF-Erbin, denn das, so ihre Begründung, wäre dann wie immer: Wer das Geld hat, hat die Macht. Das will sie ändern und hofft, andere tun es ihr nach. "Es ist doch nicht gottgegeben, dass wenige viel bekommen und viele wenig", meint sie.

Gott wird ihr kräftig zunicken. Und ich ebenso.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

01MRZ2024
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"Also die regieren nicht mehr lang", knurrt mein Vater vor der Tagesschau, „und dieser Scharfmacher aus Bayern will Kanzler werden. Was die Grünen da noch ausrichten, mal sehen…", sagt er und schaltet aufs zweite Programm. Viel mehr Programme gibt´s nicht - damals 1980.

Ich erinnere mich genau. Ministerpräsident Franz-Josef Strauß drängelt aus Bayern ins Kanzleramt gegen Helmut Schmidt und seine rot-gelbe Koalition. Gerade volljährig darf ich zum ersten Mal wählen; die Grünen treten zum ersten Mal an. Waldsterben, Ölkrise, Wirtschaftskrise, das gibt es schon. Dazu der kalte Krieg und die Frage, Mauern dicht oder Grenzen nach Osten öffnen?

Und das gibt’s auch: Scharfmacher-Sätze. "Ich bin deutschnational. Wir müssen von Deutschland retten, was zu retten ist.“ Wir brauchen „mutige Bürger, die die roten Ratten dorthin jagen, wo sie hingehören – in ihre Löcher.“ Das sagt damals Franz-Josef-Strauß - und mehr. Außenminister Genscher nennt er einen „marokkanischen Teppichhändler und jüdischen Geldverleiher".

1980 war ein hitziger Wahlkampf. Und ich mittendrin. "Geh wählen", sagt mein Papa, "man redet wieder vom Menschen jagen. Wähl die Demokratie! Misch dich ein. Mach´s Maul auf.“ Mit mir mischen sich damals 88 Prozent der Wahlberechtigten ein. Sie wählen Strauß nicht zum Kanzler, er scheitert mit seinem Scharfmacher-Kurs.

"Mach´s Maul auf", der Satz bleibt mir im Ohr, auch wenn mein Vater nicht mehr lebt. Dorfpfarrer, der er war, nie in einer Partei, aber immer parteiisch – für die Wahrheit, gegen Hetze, gegen die alten und neuen Nazis. Christsein hieß für ihn mit Martin Luthers klaren Worten immer auch, „Maul aufmachen“. Protestieren, demonstrieren wo nötig. So ist mein Vater in Gedanken auch jetzt dabei, in Speyer, in Neustadt, wo ich mit meiner 84jährigen Mutter rufe: „Nie wieder ist jetzt.“

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

29FEB2024
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„Warum muss ich eigentlich für alle sorgen?“, stöhnt die Frau heute früh. Ihre Kleine klebt am Boden, „ich will nicht in die Kita“, der Gatte ruft „wo ist ein sauberes Hemd“, der Große motzt am Kühlschrank, „Mama, hier gibt’s nix zu essen“, „mein Rollator ist weg“, krächzt Schwiegermama - da kötzelt der Kater auf den Vorleger. Der Gatte steigt drüber und rennt ins Bad. „Warum ich?“, schreit die Frau … und stutzt.

Da steht Einer. Lächelt ihr zu, nimmt die Kleine hoch, holt Omas Rollator. Zaubert Frühstück für den Großen. Sieht, was nötig ist, sorgt für Leib und Seele. Und dieses Lächeln… kommt ihr bekannt vor. Es ist ihr Mann. Ja, so ist er, wenn er Zeit hat oder sich Zeit nimmt. Aber nein, der Gatte hetzt aus dem Bad - sie hat kurz geträumt. Alles beim Alten, alle wollen was von ihr.

„Warum muss ich für alle sorgen?“, schreit die Frau, gleich selbst auf dem Weg zur Arbeit - einer Arbeit, die wenigstens bezahlt wird. „Aber ich helfe dir doch, später trag ich den Müll raus, Schatz“, ruft Mann im Gehen und rennt aus der Tür zur Arbeit, besser bezahlt als ihre.

Soweit die Szene an einem typischen Morgen. Auch wenn viele Männer sich nicht mehr allein als Familienversorger sehen und sich mitsorgen wollen um Küche, Kind und Katze - noch ist es ein Traum.

Daran erinnert der Equal-Care-Day. Der Tag, an dem Care – Fürsorge – equal, also gleich verteilt werden soll. Dieser Tag ist heute, am 29. Februar. Nur alle vier Jahre steht er im Kalender. Denn Fakt ist: Männer müssten vier Jahre arbeiten, um so viel Care-Arbeit zu leisten wie Frauen in einem Jahr. Es gibt also noch viel zu tun. Es braucht gerechten Lohn für Frauen, mehr Mut für Hausmänner und Väter, mehr Wertschätzung für das „bisschen Haushalt“ – denn ja, es ist Sorge-Arbeit für Leib und Seele. Also: Take care.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

28FEB2024
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Es war in meiner Ausbildung zur Pfarrerin. „Ja, Kollegin“, sagt mein Mentor, „das war ein schöner Gottesdienst, aber denken Sie dran, Sie sind Frau“, er nimmt meinen Arm, raunt mir ins Ohr „dieses Wollkleid und Ihr Busen…“. Ich stutze, werde feuerrot, er grinst. Ich schweige, er ist mein Mentor. Jahre zuvor ist da mein Prüfer im Examen: „Na, was tragen Sie denn Schönes unterm Talar?“, fragt er und zwinkert mir zu. Ich schlucke und lächle, er ist mein Prüfer.

Da ist mein Orgellehrer. „Mehr Gefühl, das kannst du doch, Mädchen…“ Er steht hinter der Orgelbank, greift mir unter die Arme, führt meine Hände. Sein Atem ist schlecht. Ich weiche nicht aus, ich will Orgel spielen lernen. Da ist meine Schwimmlehrerin. Sie kneift mir in die Schenkel, „das kann was werden, bist ja´n halber Junge“ und zieht mir den Badeanzug straff. Die anderen lachen, ich sage nichts, sie ist mein Vorbild.

Da ist mein Sportlehrer. Quer durch die Halle wirft er den Schlüsselbund - heute auf meinen Po. „Das sind Muckis“, ruft er. Es tut weh, ich schreie nicht, sehe zu Boden. Ich schwärme ihn an, wie alle Mädels. Da ist mein Großvater. „Na, nun sprießen sie, die Knospen“, sagt er vor Freunden – und deutet auf meinen Busen. Das Lachen der Männer: bis heute in meinen Ohren.

Einige Szenen aus über 60 Jahren Leben. Vieles davon war „normal“ in den vergangenen Jahrzehnten und doch übergriffig. Wo beginnt sexualisierte Gewalt? In Familie, Schule, Sport, in jedem Bereich. Und besonders da, wo Macht im Spiel ist. Auch in meiner evangelischen Kirche – jüngst bekanntgeworden – sind es weit mehr Übergriffe als gedacht. Beschämend. Entschuldigen lässt sich rein gar nichts. Nur ehrlich aufarbeiten und weitere Fälle ernsthaft verhindern wollen. Darum: Achten wir gut und noch viel besser aufeinander – und vor allem auf die Kinder.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

27FEB2024
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„Weiß auch nicht genau, warum ich das mache mit der Notfallseelsorge“, sagt Freundin Claudia. Ich denke ja, sie kann nicht anders. Sie ist einfach gern für andere da, gefühlt Tag und Nacht. Wo immer sie gebraucht wird. Oder gerufen: ehrenamtlich, als Notfallseelsorgerin bei Unfällen, in Krisen oder Katastrophen. „Das ist immer schlimm, aber der Einsatz in Ludwigshafen neulich hat mich erschüttert“, sagt sie.        

Eine Bombe wird entschärft. Hochhäuser müssen geräumt, die Bewohner beruhigt werden. Ein Rot-Kreuz-Zelt ist aufgebaut, für Essen gesorgt. Auch die Dame um die achtzig, wacklig auf den Beinen, muss ihre Wohnung verlassen. Mit Transportrollstuhl im Aufzug wird sie nach unten gebracht. Sie wirkt aufgewühlt. „Ich esse mit ihnen“, sagt meine Freundin und schiebt sie an den Tisch. „Lecker“, sagt die alte Dame, und weint in die Spaghetti Bolognese. „Seit fünf Jahren“, schnieft sie, „können Sie sich vorstellen, seit fünf Jahren hat niemand mehr mit mir zusammen gegessen“.

„Kannst du dir das vorstellen“, sagt Claudia, „da wohnen so viele Leute nebeneinander und sie ist immer allein“. Genau wie der Mann, der zunächst nicht aus dem Zimmer will, erzählt sie weiter. Seine Kinder leben in England und Asien, besuchen ihn ab und zu. Aus dem Hochhaus traut er sich aber nicht allein. Als auch er nach unten gebracht wird, blinzelt er in den Himmel, seine Stimme zittert: „Seit sechs Jahren das erste Mal wieder im Freien.“

Auf dem Rückweg aus Ludwigshafen hat sie geweint, meine Freundin. „Wahnsinn, wie einsam unsere Alten sind“, sagt sie, „mal miteinander reden, essen, spazieren gehen. Kostet nicht viel Zeit und ist so kostbar. Darum“, fällt ihr ein, „darum mach ich Notfallseelsorge. Ich seh´, was wirklich nötig ist – und das erdet mich.“

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

26FEB2024
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 „Ich hab ja jetzt einen Baum“, sagt Freundin Monika, „im Friedwald, wo ich begraben werden möchte.“ Und sie erklärt begeistert, dass sie nun zu Dritt sind. Drei Mädels um die 60, irgendwann tot, unter einem Baum.

Ihr Freundeskreis war verblüfft. Doch bald, erzählt Monika amüsiert, haben einige gefragt: Darf ich auch noch dazu? „Aber ich sag nur Ja, wenn ich denjenigen mag, man will ja nicht neben irgendjemand liegen“, sagt sie. Wir lachen. „Doch, ernsthaft“, meint Monika, „es geht auch um Bindungen. Wir Drei treffen uns immer im Oktober an unserem Baum, mit Kaffee und Zwetschgenkuchen. Und feiern, dass wir noch leben“. Ich stelle mir vor, wie sie ratschen und lachen. Und es dazwischen bellt. Drei Freundinnen mit ihren Hunden im Friedwald. Ein Oktoberfest der besonderen Art.

„Ein Freund kann sich noch nicht entscheiden, aber er sollte es bald tun“, sagt Monika. Recht hat sie. Die nächste Reise planen, das kann ich auch noch Last Minute. Die letzte Reise empfiehlt sich, etwas früher zu planen - zumindest mein Reiseziel. „Wo will ich die Ewigkeit verbringen, also okay, nur mein Körper“, sagt die Freundin, „aber es ist doch wichtig, sich das zu fragen.“ „Ja“, sage ich, „wichtig und wunderbar.“

Wie die Drei von der Baumgruppe das Leben feiern, genau da, wo es endet. Das ist wunderbar. Jede Minute genießen und wissen: Eines Tages wird mein Körper Humus, der Kreis schließt sich, das Leben über mir lacht weiter. Das Wort Humor kommt übrigens von Humus. Da stehen Freundinnen am Grab, vielleicht Sohn oder Enkelin, kichern, reden über mich, als ob ich noch lebe. Irgendwann später kennt mich niemand mehr. Ein Hund schnüffelt, ein Junge pflückt ein Schneeglöckchen von meinem Grab. „Hej, wovon träumst du gerade“, reißt mich Monika aus den Gedanken. „Vom Sterben“, lache ich.

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06AUG2022
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„Sommer ist cool, wenn´s so heiß ist“, sagt Jannis, mein Patensohn. Wir schleichen bei rund 40 Grad durch Speyer. Hosenkaufen. Mit Zwölf sind die Beine immer länger als die Jeans. „Wow, look at that.“ Um uns herum wird geplappert, geshoppt und fotografiert. „Cheri, arrete´…“ „Ej, das ist französisch“, sagt Jannis, „fast wie im Urlaub“. Er ist begeistert.

„Hoi, waar is de kerk, die Dom?“, fragt mich einer in Flipflops. Auf seinem T-Shirt steht „make the world cool again.“ „Juste doorgaan“, antworte ich, „geradeaus zum Dom.“ Ein breites Grinsen unterm Lockenkopf und er geht weiter, „dank je wel“. Jannis staunt. „Ich hab doch mal in Holland studiert“, erkläre ich. „Ui, toll. Hast du sein tolles Shirt gesehen?“, meint er. „Ja, lass die Welt wieder abkühlen oder so“, rufe ich über den Straßenlärm und denke kurz darüber nach, was das heißen soll.

Klar, aufgeheizt ist die Erde, das Klima und oft auch die Stimmung in diesen Krisentagen. „Make the world cool again.“ Das wär‘s. Mit kühlem Kopf dafür sorgen, dass die Schöpfung weiteratmet - das ist wirklich dran. Aber schon stehen wir im stickigen Laden. Und der Große probiert sich durch die Jeans. Gefühlte Stunden später meint er „die oder die?“. „Komm“ sage ich, „wir nehmen einfach beide.“

„Nein, ich wachse doch schnell da raus“, kommt sein roter Kopf aus der Kabine, „denk an den Fußabdruck. Make the world cool again – ans Klima denken, oder?“ Ertappt. „Okay. Hast recht, das sage ich ja selbst immer.“ Als ich an der Kasse stehe, meint er: „Dank je wel. Ich kann fast schon holländisch. Der Typ war jedenfalls cool.“ Ich umarme ihn fest. Und hoffe, er umarmt unseren wunderbaren blauen Planeten - gemeinsam mit uns „Alten“ und all den coolen Kindern dieser Welt.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

05AUG2022
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„Das darf jetzt nicht wahr sein“, bricht es am Telefon aus ihr heraus, ich hab gerade erst meinen Namen gesagt. „Du? Du rufst an?“ Gleich will ich mich verteidigen, äh, ja, die Zeit, es war immer was Anderes, aber ich hab endlich mal hören wollen, wie es dir geht… Das will ich in der Tat, denn Ariane ist eine Nette und sie sprudelt gleich weiter: „Du rufst heut morgen an, und gerade heute Nacht hab ich von Dir geträumt!“
„Echt?“ Ich kann´s kaum glauben, sie auch nicht.

Sie erzählt den Traum. Wir lachen. Und können nicht fassen, dass unser letzter Kontakt schon zwei Jahre her ist. Was hast du gemacht, wie geht’s deiner Familie … Als hätten wir erst gestern geredet. Wie früher, im Büro. „Weißt du eigentlich, wie sehr Du mich aufgebaut hast, damals?“, fragt sie. Ariane ist an eine andere Arbeitsstelle versetzt worden, ohne zu wissen, warum. „Ich hab gedacht, ich wäre zu nix mehr gut“.

„Unsinn, bei uns warst du genau richtig“, sage ich, „wie hätten wir das Projekt ohne dich geschafft?“ Sie hat sich superschnell eingearbeitet damals. „Du warst echt die Rettung“, lache ich. „Ach was“, sagt sie, „so gut bin ich nicht. Du hast mir einfach viel zugetraut, das war so ansteckend – du warst ein Engel für mich“. Als ich auflege, fühle ich mich echt beschwingt.

Du glaubst nicht, was du für mich getan hast. Wie oft ist das wohl so. Wie oft sind wir Engel füreinander, ohne es zu ahnen. Weil wir genau zur rechten Zeit da sind, weil wir anderen gut tun, einander unterstützen. Und manchmal fällt so ein Engel wirklich aus heiterem Himmel. Seit kurzem arbeiten Ariane und ich wieder zusammen. „Hättest du mir nicht was zu tun geben können, das ich wirklich kann?“, fragt sie neulich. Und das, nachdem sie sich einmal mehr fix in ein neues Projekt gewühlt hat. Ich lächle sie nur an. Und denke: Echte Engel merken oft nicht, dass sie welche sind.

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04AUG2022
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„Ein Glück, stell dir vor, meine Tochter kann mir Stammzellen spenden“. Es ist fünf Uhr früh. Stockdunkel. Die Stimme am Telefon schwach. Es ist Erik, ein Freund von mir. Und er scheint glücklich. Vor zwei Jahren hat sein Unglück begonnen. Da fällt das Wort das erste Mal: Krebs. In der Lunge. Und ich falle damals aus allen Wolken. Mehr noch Erik. Er fällt aus seinem Himmel voller Geigen - Musiker, der er ist. Doch er ist zuversichtlich: „Ich werde wieder spielen“, das war sein Satz. Sein fester Vorsatz.

Und tatsächlich: Eines Tages, nach langen Monaten Behandlung, schmiegt er die Violine wieder an den Hals. Er spielt, zaghaft und zittrig. Vielleicht zittere ich auch selbst. Weil ich die Bandage sehe an seinem Unterarm. „Ach ja, die Lymphe, das wird bleiben. Aber ich bin gesund“, meint er. Sitze ich im Dunkeln, ist der HERR mein Licht, sagt der Prophet Micha in der Bibel (Micha 7,8). Erik würde das genauso sagen, er sieht überall einen Lichtschimmer. 

Doch vor vier Monaten fällt zum zweiten Mal dieses Wort: „Krebs - diesmal im Blut“. Und gleich kommt eins zum anderen: OP, Chemo, Corona. Erik liegt auf Intensiv, ich rechne mit dem Schlimmsten, sende Stoßgebete und höre nichts und wieder nichts von ihm. Bis zu diesem Morgen um fünf. „Ein Glück, stell dir vor, meine Tochter kann mir Stammzellen spenden“. Ein Ostersatz ist das, mitten im Hochsommer. Neues Blut heißt neues Leben.

„Was für ein Glück“, sagt er, der Unglücksmensch. Unglaublich. Als ich auflege, dämmert es. Ich gehe in die Küche, taste nach dem Kaffeeautomaten und suche mit dicken Augen die CD. Vivaldi, vier Jahreszeiten – der Sommer - gespielt auf der Geige. Draußen steigt die Sonne auf, kühl noch. Aber ich ahne, heute wird es heiß - und hell. Sitze ich im Dunkeln, ist der HERR mein Licht. Ich denke an Erik und lächle in meinen Kaffee.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

03AUG2022
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„Ich war glaub ich, nicht anfassbar…“, sagt ein älterer Mann mit Zopf am Nebentisch zu zwei Freunden. Sofort denke ich an Missbrauch - schlimm genug, warum eigentlich. An diesem lauen Sommerabend in einem Lokal nahe am Speyrer Dom. „Nicht anfassbar.“ Ich höre nur Wortfetzen aus dem Männer-Gespräch. Aber es geht mir wie vielen in diesen Zeiten, man ist hellhörig bei dem Thema.

Offenbar war er eins der Kinder in der Engelsgasse – dem Kinderheim, das in die Schlagzeilen geraten ist – wurde aber selbst nicht missbraucht. „Mich hat aber niemand angefasst“, sagt er. Aber: Es fasst alle an, dieses Thema - und bleibt doch unfassbar. Was leiden die Kinder von damals bis heute. Und es leiden all diejenigen mit, die offen aufklären wollen, die auf Reformen drängen. Oder frustriert die katholische Kirche verlassen.

Warum spreche ich darüber, als evangelische Pfarrerin, darf ich das überhaupt? Lange war klar: nein, das ist Sache der anderen, der da drüben am Speyrer Domplatz – da wo das Bistum unserer Landeskirche genau gegenübersitzt. Psst, kehre vor deiner Haustür, hat es geheißen. Aber Menschen machen keinen Unterschied. Und: Der Kehricht der katholischen Kirche, so ein Zeitungskommentar, ist so groß, dass er auch vor die Türen der anderen Konfessionen gekehrt wird.

Und mehr noch: Das Thema Missbrauch geht uns Evangelische ebenso an. Auch bei uns gibt es Fälle sexualisierter Gewalt. Auch wir müssen das Unfassbare verhindern. Und viel mehr darüber sprechen. Wir haben viele Menschen verloren – auch, weil sie bei uns längst nicht mehr finden, was sie suchen. Das spüren wir jeden Tag. Täglich Austritte – aus Wurschtigkeit oder Wut. „Die müssen ganz neu anfangen in der Kirche, offen reden und nix auslassen, auch nicht, was sie Gutes tun“, sagt der Mann mit Zopf nun laut. Die anderen nicken. Ich ebenfalls.

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