Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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28FEB2024
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Es war in meiner Ausbildung zur Pfarrerin. „Ja, Kollegin“, sagt mein Mentor, „das war ein schöner Gottesdienst, aber denken Sie dran, Sie sind Frau“, er nimmt meinen Arm, raunt mir ins Ohr „dieses Wollkleid und Ihr Busen…“. Ich stutze, werde feuerrot, er grinst. Ich schweige, er ist mein Mentor. Jahre zuvor ist da mein Prüfer im Examen: „Na, was tragen Sie denn Schönes unterm Talar?“, fragt er und zwinkert mir zu. Ich schlucke und lächle, er ist mein Prüfer.

Da ist mein Orgellehrer. „Mehr Gefühl, das kannst du doch, Mädchen…“ Er steht hinter der Orgelbank, greift mir unter die Arme, führt meine Hände. Sein Atem ist schlecht. Ich weiche nicht aus, ich will Orgel spielen lernen. Da ist meine Schwimmlehrerin. Sie kneift mir in die Schenkel, „das kann was werden, bist ja´n halber Junge“ und zieht mir den Badeanzug straff. Die anderen lachen, ich sage nichts, sie ist mein Vorbild.

Da ist mein Sportlehrer. Quer durch die Halle wirft er den Schlüsselbund - heute auf meinen Po. „Das sind Muckis“, ruft er. Es tut weh, ich schreie nicht, sehe zu Boden. Ich schwärme ihn an, wie alle Mädels. Da ist mein Großvater. „Na, nun sprießen sie, die Knospen“, sagt er vor Freunden – und deutet auf meinen Busen. Das Lachen der Männer: bis heute in meinen Ohren.

Einige Szenen aus über 60 Jahren Leben. Vieles davon war „normal“ in den vergangenen Jahrzehnten und doch übergriffig. Wo beginnt sexualisierte Gewalt? In Familie, Schule, Sport, in jedem Bereich. Und besonders da, wo Macht im Spiel ist. Auch in meiner evangelischen Kirche – jüngst bekanntgeworden – sind es weit mehr Übergriffe als gedacht. Beschämend. Entschuldigen lässt sich rein gar nichts. Nur ehrlich aufarbeiten und weitere Fälle ernsthaft verhindern wollen. Darum: Achten wir gut und noch viel besser aufeinander – und vor allem auf die Kinder.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39410
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