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02DEZ2023
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Es war letztes Jahr, mitten im Advent. Ich stehe am Postschalter und rege mich auf, weil ich lange warten muss. Ich hab’s außerdem ziemlich eilig und die Päckchen sollen ja rechtzeitig vor Weihnachten ankommen. Ich bin gestresst, getrieben – und eigentlich sauer auf mich, dass ich so bin.

Jetzt ist wieder Advent. Morgen zünde ich die erste Kerze am Adventskranz an. Die Situation am Postschalter vom letzten Jahr fällt mir pünktlich zu Beginn der Adventszeit wieder ein. Vielleicht auch deshalb, weil mir das so oder ähnlich immer wieder passiert. Eigentlich wäre ich in solchen Stress-Momenten viel lieber gelassen. Weil ich sie ohnehin nicht ändern kann. Und weil sie mich Kraft kosten. Völlig unnötig. Damals habe ich mit einer Seelsorgerin darüber gesprochen, wie ich mich erlebt habe.

Ihre erste Frage war: „Sind Sie bereit für ein Experiment?“ Ich lasse mich darauf ein und bin überrascht. Ich soll die Situation zunächst genau so nehmen, wie sie war. In diesem Fall bedeutet das: bewusst erleben wie getrieben ich mich gefühlt habe und wie atemlos ich war. Ohne das zu bekämpfen und schrecklich zu finden. Das ist schwierig. Denn viel lieber will ich ja eben nicht fühlen, wie gestresst ich bin. Umso erstaunlicher, was ich dabei erlebe: Wenn ich zulassen kann, was ist, ohne das zu bewerten, werde ich schon ruhiger. Ich kann tief durchatmen und bei mir ankommen. Schon nach wenigen Minuten habe ich wieder fühlen können, dass ich mehr bin als diese Frau, die gerade gestresst und erschöpft am Postschalter steht. So als wäre ich aus einem engen, dunklen Raum durch eine Tür gegangen in einen anderen Raum, der grenzenlos ist, hell und still. Ich habe Abstand gewonnen zu der gestressten Frau. Und dieser kleine Abstand hat genügt, um ruhig zu werden und mich wieder lebendig zu fühlen.

Ich nenne diesen hellen Raum meine Mitte. Ich gelange zu ihm, wenn ich Situationen genau so nehme, wie sie sind. Es ist ein Raum in dem ich einverstanden bin mit mir. Es ist ein Raum, in dem ich erlebe, dass Gott in meinem Leben, in mir selbst da ist. Und dieses Ankommen bei mir selbst und bei Gott ist zutiefst adventlich.

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01DEZ2023
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Mein Adventskranz hat rote Kerzen. Jedes Jahr. Weil mir die Kombination aus Rot und Grün am besten gefällt. Der erste Adventskranz, den es jemals gab, sah ganz anders aus. Er ist auf einem alten Wagenrad entstanden und hatte nicht vier, sondern 24 Kerzen. Johann Hinrich Wichern hat ihn erfunden. Er war vor fast 200 Jahren evangelischer Pastor in Hamburg. Und hat dort für Kinder und Jugendliche aus den Armenvierteln Hamburgs eine Wohngemeinschaft gegründet. Er hat daran geglaubt, dass jeder Mensch von Gott gewollt und geliebt wird. Dass sich jedes dieser Kinder in seiner Wohngemeinschaft gut entwickeln wird, wenn es in einer liebevollen Umgebung aufwächst. Pastor Wichern hat Licht in das Leben von vielen Kindern gebracht. Dass er den Adventskranz sozusagen erfunden hat, ist einfach nur passend und eine echte Adventsgeschichte. Wie alle Kinder, bis heute, haben sich auch seine Kinder damals auf Weihnachten gefreut. Sie haben den Pastor oft gefragt, wie viele Tage es noch dauert bis zum Heiligen Abend. Deshalb ist er auf die Idee gekommen, ab dem 1. Dezember jeden Tag eine Kerze anzuzünden und den Kindern zu sagen: Weihnachten ist, wenn alle 24 Kerzen brennen.

Während es draußen immer dunkler wird, wird es drinnen mit jeder Kerze heller. Genau das passiert auch bei mir im Klassenzimmer. 24 Kerzenständer stehen ab dem 1. Dezember auf dem Tisch in der Mitte des Klassenzimmers. Aus Brandschutzgründen müssen es kleine LED Lichtlein sein. Morgens um acht zünden wir jeden Tag ein Licht mehr an und erleben, wie es im Klassenzimmer immer heller wird. Dazu darf immer ein Kind sein Adventssäckchen aufmachen. Dort findet es neben kleinen Leckereien ein Kompliment. Gute Worte, die dem Kind sagen, was wir an ihm schätzen und mögen. Alle Kinder sind gespannt, was da steht und immer leuchten die Augen. Denn da stehen Sätze wie: „Du hast eine gute Seele“ oder „Wir finden toll, dass du niemanden ausgrenzt“. Sätze, die davon erzählen, wie jedes Kind dazu beiträgt, dass unsere Gemeinschaft im Klassenzimmer gelingt. Es sind gute Worte, bei denen es den Kindern und mir warm um’s Herz wird. Und wir erleben, was mit dem inneren Licht gemeint ist, das in jedem Menschen wohnt.

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30NOV2023
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Putzen kann jeder. Sagt man so. Seitdem Frau Kara nicht mehr unser Klassenzimmer putzt, mache ich andere Erfahrungen. Frau Kara hat ihre Arbeit gerne gemacht. Sie hat gewusst, dass ihre Arbeit wichtig ist. Mindestens fünf verschiedene Männer und Frauen haben nach ihr den Job gemacht. Mehr oder weniger. Zuletzt ein Mann, mit dem ich mich kaum verständigen konnte. Er hat die Mülleimer geleert, die Papierhandtücher und den Seifenspender aufgefüllt. Hat sich bemüht. Das habe ich gesehen. Er hat den Boden nass gewischt aber dabei den Dreck eigentlich nur verteilt. Der junge Mann hat unglücklich auf mich gewirkt. Ich habe mich gefragt, wie er wohl lebt? Ob seine Familie in der Nähe ist? Was er in seiner Heimat gemacht hat? Gleichzeitig war ich stinksauer. Soll ich jetzt auch noch selber das Klassenzimmer putzen? Es kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Stadt keine Reinigungskräfte findet, die ihre Schulen ordentlich putzen. Leider ist es so. Weil kaum jemand diese Arbeit gerne macht. Sie ist hart, nicht gut bezahlt und, gesellschaftlich wenig anerkannt.

Dass es auch anders geht, zeigt eine Initiative in Berlin. Katharina Florian hat eine „Kehr-Revolution“ gestartet. Wertschätzung für Reinigungsarbeiten ist ihr Motto. Das wirkt sich auf die Bedingungen aus, unter denen die Frauen und Männer bei kehrwork1 arbeiten. Reinigungskräfte werden fest und sozialversichert angestellt. Sie erhalten einen fairen Lohn. Kehrwork als Firma ist zudem Teil eines politischen Netzwerks. Mitarbeiter*innen werden unterstützt, wenn sie einen Sprachkurs brauchen, psychosoziale Beratung oder eine Rechtsberatung. Katharina Florian ist eine Vorreiterin wenn es um soziale Nachhaltigkeit geht. Sie sagt: „Ich will versuchen herauszufinden, wie bereit wir als Gesellschaft sind, sozial nachhaltige Arbeitsverhältnisse zu schaffen in Bereichen, die wenig anerkannt und doch so wichtig sind.“

Tübingen ist weit weg von Berlin. Und ganz sicher arbeitet die Stadt Tübingen mit Reinigungsfirmen, die ihre Arbeitskräfte sozial versichert und fest angestellt haben. Aber das reicht nicht. Mir gefällt das Modell von Frau Florian: Menschen brauchen Anerkennung für das, was sie tun. Und sie haben Bedürfnisse, für die sie manchmal die Hilfe anderer brauchen. Wenn wir Reinigungskräfte auch so wahrnehmen, dann wäre es am Ende ein Gewinn für beide Seiten: Die Reinigungskräfte und die Klassenzimmer in unseren Schulen.

1 Kehrwork.de/bist-du-bereit-für-die-kehrrevolution

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29NOV2023
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Der Krieg im Nahen Osten beschäftigt mich. Jeden Tag. Ich war vor 18 Jahren zu einer Studienreise in Israel. Und habe hautnah erlebt, wie verhärtet der Konflikt ist. Sowohl im Gespräch mit Juden als auch im Gespräch mit Palästinensern habe ich so viel Schmerz und Trauer erlebt. In Tel Aviv habe ich einen Mann getroffen der durch einen Selbstmordattentäter der Hamas seine ganze Familie verloren hat. In Ostjerusalem habe ich eine palästinensische Familie kennen gelernt, deren Haus von Israelis platt gewalzt wurde. Es war schrecklich. Dass es trotz allem immer noch viele Juden und Palästinenser gibt, die friedlich miteinander leben, ist bemerkenswert.

Auf dieser Studienreise damals habe ich Jehuda Bacon kennengelernt. Er hat den Holocaust überlebt, ist inzwischen 94 Jahre alt und lebt noch immer in Jerusalem. Nie wieder hat mich eine Begegnung mehr beeindruckt. Er war 13 als seine ganze Familie in deutschen Konzentrationslagern umgebracht worden ist. Bis heute erinnert er sich an alles, was er erlebt hat und spricht darüber. Ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe, ohne Hass. Wie er das geschafft hat? Er sagt, dass er damals begriffen hat: Unrecht geschieht immer an Menschen. Ganz gleich ob Israeli oder Palästinenser. Außerdem: Hass bringt uns nicht vorwärts und gibt auch keinen Sinn im Leben. Ein Buch über die Geschichte von Jehuda Bacon trägt den Titel: „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“ Als Christin und geboren als Deutsche nach 1945 habe ich mich längst entschieden: Mit Gewalt, Hass und Rache will ich keine Konflikte lösen. Das leitet mich bis heute. Auch bei meiner Arbeit in der Schule. Jeden Tag arbeite ich mit Kindern daran, wie wir Konflikte lösen können. Dass wir einen Streit verstehen und schauen, wer welchen Anteil daran hat. Wer wen um Entschuldigung bitten muss und gegebenenfalls für eine Wiedergutmachung sorgen muss. Dabei erlebe ich, wie viel Zeit und Energie wir auch für kleine Konflikte brauchen, wenn z.B. jemand ein anderes Kind beleidigt hat. Weil er dessen Namen veräppelt hat. Und sehr oft erlebe ich, dass die Kinder merken und spüren: Es ist befreiend, sich eben nicht zu rächen und zu hassen.

Jehuda Bacon, Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Gütersloher Verlagshaus 2016

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28NOV2023
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Ich war frisch umgezogen. Die neue Wohnung hat mir sehr gut gefallen. Von Anfang an. Gut ein Jahr habe ich da gewohnt. Dann hat mir die Vermieterin wieder gekündigt. Ich war echt schockiert. Schon wieder umziehen mit dem ganzen Stress der damit zusammenhängt. Glücklicherweise habe ich schnell eine neue Bleibe gefunden und auch den Umzug gut geschafft.

Im Rückblick habe ich dann gesehen, was mir in der alten Wohnung gar nicht gut getan hat und dass es besser war nochmal umzuziehen als zu bleiben. Die Vermieterin hat nebenan gewohnt und ich bin mit ihr überhaupt nicht klar gekommen. Irgendetwas habe ich ständig falsch gemacht. Mal hab ich das Auto falsch geparkt, mal die Lüftung im Bad zu lange laufen lassen. Am Ende war sie sogar überzeugt, dass ich von Dämonen besessen bin und hat den Treppenaufgang zu meiner Wohnung regelmäßig mit Räucherstäbchen gereinigt. Eigentlich verrückt. Aber ich habe es nicht geschafft, mich dagegen zu wehren. Stattdessen habe ich alles ausgehalten. Weil ich so verunsichert und gekränkt war.

Erst in der neuen Wohnung hab ich gemerkt, welche Last von mir abgefallen ist. Noch heute bin ich froh über die Kündigung. Es hat gedauert bis ich erkennen konnte, was ich meiner alten Vermieterin auch verdanke. Nie zuvor ist mir so bewusst geworden, was ich bereit bin zu ertragen. Bloß damit ich nicht noch mehr Ärger bekomme. Letztlich bin ich daran gewachsen. Noch immer merke ich nicht gleich, wenn ich etwas aushalte, das mich verunsichert oder sogar kränkt. Aber wenn ich das bemerke, versuche ich so schnell wie möglich etwas zu verändern.

Außerdem gehe ich inzwischen mit Menschen anders um, wenn sie mich einschüchtern oder wenn ich mich über sie aufrege. Ich weiß, ich muss sie nicht verstehen, ich kann sie auch nicht ändern. Ich muss sie nicht mögen. Ich darf mich ärgern und muss nichts auf mir sitzen lassen. Trotzdem muss ich sie nicht hassen. Und gleichzeitig kann ich versuchen zu verstehen, was ein anderer in mir auslöst. Warum ich so reagiere wie ich es tue. Und was ich daran verändern will.

Ich habe gelernt: Auch Menschen, wie meine alte Vermieterin sind für mein Leben wichtig. Ich kann erkennen, dass sie mir die Möglichkeit eröffnen, zu wachsen.

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27NOV2023
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Es war nur ein kurzer Anruf am frühen Morgen. Danach ist alles anders. Annes alte Mutter war gestürzt. Anne ist eine Freundin und erzählt, was sie innerhalb kürzester Zeit organisieren muss. Schon die täglichen Besuche im Krankenhaus sind eine Herausforderung. Außerdem ist schnell klar, dass ihre Mutter nicht weiter alleine in ihrer Wohnung leben kann. Also muss Anne nebenbei noch einen Pflegeplatz suchen. Das alles, obwohl die Beziehung zu ihrer Mutter schwierig ist. Der eigene Alltag mit Arbeit, Haushalt, Mann und Kindern geht natürlich trotzdem weiter. Anne hat keine Chance durchzuatmen.

Wenn Eltern von einem Tag auf den anderen plötzlich pflegebedürftig werden, dann müssen Angehörige funktionieren. Egal wie die Umstände sind. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wo das so läuft. Das kann die eigenen Kinder betreffen, die plötzlich mehr unterstützt werden müssen als man gedacht hat. Das kann im Beruf sein, weil eine Kollegin von jetzt auf nachher ausfällt und ihre Arbeit trotzdem gemacht werden muss. Das kann auch nach einem Umzug oder einer Trennung sein, wenn man sich neu im Leben zurecht finden muss. Ich habe solche Situationen selbst oft genug erlebt. Zuletzt als meine Kollegin lange krank war. Ich weiß dann: Da komm ich nicht drum herum, da muss ich durch. Ich schaffe das auch immer irgendwie. Wenn ich Glück habe, gibt es noch jemanden, der sieht, was ich gerade leiste. Aber oft scheint das so normal, dass sich keiner wundert, wie ich das alles bewältige. So hat es auch meine Freundin erlebt. Bis ich ihr geschrieben habe: „Das ist gerade viel, was du aushalten und leisten musst. Ich wünsche dir, dass deine Mutter wertschätzen kann, wie du dich einsetzt. Und wenn sie das nicht macht, wünsche ich dir, dass du selbst würdigen kannst, wie du das alles hinkriegst. Selbstverständlich ist es nicht.“

Anne haben meine Worte gut getan, sagt sie. Sie konnte einen Moment inne halten und hat sich auch nicht mehr so schlecht gefühlt, wenn sie das eine oder andere einfach nicht gut genug hinbekommen hat.

Wir sind es nicht gewohnt, uns selbst zu würdigen, zu schätzen, wenn uns etwas gut gelingt. Oder wenn wir etwas ausgehalten haben, was nur schwer auszuhalten war.

Es ist gut das zu lernen: Immer wieder anerkennend auf sich selbst zu schauen.

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25NOV2023
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Von manchen Leuten sagt man: Die gehen zum Lachen in den Keller. Leute, die kaum mal eine Miene verziehen, auch nicht bei einem kleinen Witz oder einer spaßigen Bemerkung. Gar nicht leicht, so jemanden einzuschätzen.

Mein Eindruck ist aber, dass noch viel mehr Menschen zum Weinen in den Keller gehen und ihre Gefühle verstecken, wenn sie traurig sind. Wer traurig ist, ist verletzlich. Wahrscheinlich ist das der Grund. Wer weiß schon, wie die Umgebung darauf reagiert? Hilflos vielleicht, vielleicht sogar verständnislos. Oder irgendwer versucht krampfhaft, Trost zu spenden oder macht ein paar aufmunternde Sprüche… Dann doch lieber die Fassade aufrechterhalten, möglichst unbeschwert wirken – und zum Weinen später in den Keller gehen.

Anfang dieses Jahres ist mein Vater gestorben. Auch ich werde seither von Traurigkeit begleitet. Und seither geht es mir ganz ähnlich: Ich fühle mich verletzlich. Und ich jemandem von meinem Verlust erzähle, merke ich, wie schwierig es für mein Gegenüber sein kann, darauf zu reagieren. Also versuche auch ich, so „normal“ wie möglich rüberzukommen. Nicht nur, weil ich verletzlich bin, sondern auch, weil ich ja Erwartungen habe. Ich möchte so gerne, dass die anderen verstehen, was in mir vor sich geht. Aber ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Ich trauere schließlich auf meine Weise – und mein Gegenüber ist vielleicht ganz anders gestrickt. Manche Menschen trauern mit Tränen – andere ohne. Die eine möchten gerne viel erzählen, andere ziehen sich lieber ein wenig zurück. Schon meine Geschwister trauern anders als ich – und anders als meine Mutter. Wir reagieren völlig unterschiedlich. Das macht es für unsere Umgebung nicht leichter. Innerhalb meiner Familie, aber auch nicht – unter uns.

Also doch besser zum Weinen in den Keller gehen? Nicht riskieren, den anderen zu verletzten? Ich denke: Nein. Denn dann würden wir allein unserer Trauer verstummen. Dann wäre jeder von uns allein. Ich möchte lieber das Risiko eingehen und etwas von dem zeigen, was in mir vorgeht. Ich möchte das Risiko eingehen, und es nicht übel nehmen, wenn jemand anders reagiert, als ich das vielleicht gerne hätte.

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24NOV2023
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Jakob ist auf der Flucht vor der Rache seines Bruders Esau. Er ist müde. Als er auf einem Feld sein Haupt auf die nackten Steine legt, fällt er in einen tiefen Schlaf. In seinem Traum sieht er eine Leiter, die bis in den Himmel reicht und auf der „Engel auf- und absteigen“ (1.B.M. 28: 12). Was meint die Tora mit dem Begriff „Engel“ überhaupt? Engel heißt auf Hebräisch „Gesandter“. Er ist also derjenige, der G-ttes Willen auf Erden ausführt, und wird daher in der Bibel oft als G-ttes Bote, „Mal’ach Elokim“ bezeichnet. Rabbiner Mosche Luzzatto, der im 18. Jahrhundert in Italien lebte, meinte, dass Engel übernatürliche oder auch reale Wesen sind, die eine bestimmte Mission G-ttes erfüllen. Jeder Mensch kann also ein Engel sein, wenn G-tt ihn auswählt.

Im Psalm 34 lesen wir: „Wer den Herrn (…) ehrt, den umgibt Sein schützender Engel ….“ (Psalm 34:8) D.h. der Allmächtige wacht ständig über diesen Menschen, und G-ttes Bote, sein „Engel“ ist immer an seiner Seite.

In der Tora hat ein Engel nur eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen und entschwindet dann für immer. Im Fall Jakobs sind die Engel auf jeden Fall aber „Boten G-ttes“, die der Allmächtige dazu bestimmt hat, Jakob zu schützen und ihm zu helfen. Nicht zufällig denkt der Erzvater an diese Engel, wenn er später seine Nachkommen so segnet: „Der Engel, der mich vor allem Bösen beschützt hat, segne diese Kinder   (…), dass sie zahlreich werden auf Erden“! (1.B.M. 48:16) Diesen Toravers sprechen traditionsbewusste Juden in ihrem Nachtgebet vor dem Einschlafen.

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23NOV2023
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Am kommenden Sonntag ist Totensonntag, auch Ewigkeitssonntag genannt. Ich werde an diesem Tag wieder einmal in meinem alten Heimatort in die Kirche gehen, denn dieser Sonntag gehört dem Gedenken an die Verstorbenen. Ich möchte hören, wie der Name meines Vaters im Gottesdienst vorgelesen wird. Mein Vater ist im Januar gestorben. Deshalb wird sein Name verlesen werden, zusammen mit den Namen all der anderen Gemeindemitglieder, die dieses Jahr gestorben sind.

Ich habe mich selbst gefragt, warum das für mich so wichtig ist: in diesen Gedenkgottesdienst zu gehen, den Namen meines Vaters selbst zu hören und zu sehen, wie der Pfarrer eine Kerze für ihn anzünden wird. Das letzte Mal, dass mein Vater in einem Gottesdienst genannt wurde, das war bei seiner Beerdigung, begleitet von den Worten: Gott hat Dich bei Deiner Taufe zu neuem Leben berufen. Einige Jahre davor hat ihn der Pfarrer zusammen mit dem Namen meiner Mutter genannt: beim Gottesdienst zu ihrer Goldenen Hochzeit. Er hat den beiden damals ganz persönlich Gottes Segen zugesprochen, wie auch schon 50 Jahre davor, als sie kirchlich geheiratet haben. Bei seiner Konfirmation hat mein Vater seinen eigenen Namen in der Kirche gehört, zusammen mit dem Versprechen Gottes, dass er ihn auch als Jugendlichen und Erwachsenen immer begleiten wird, so wie er es von Anfang an getan hat. Wie er es schon bei seiner Taufe versprochen hat.

Mein Vater war ein Mann, der viel nach Gott gefragt hat, der gebetet hat, dem aber auch Glaubenszweifel nicht fremd gewesen sind. Aber er hat immer gewusst, dass er getauft ist – auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Dass Gott ihn begleitet, das ganze Leben hindurch und zu ihm sagt: Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen – du gehörst zu mir.

Ich denke, deshalb ist es mir so wichtig, am Sonntag den Namen meines Vaters im Gottesdienst zu hören. Und zu sehen, wie der Pfarrer eine Kerze für ihn anzünden wird und auf den Taufstein stellen wird. Meinen Vater, und all die anderen, für die Morgen eine Kerze angezündet werden wird, hat Gott selbst mit ihrem Namen gerufen. Sie gehören zu ihm, von Anfang an, das ganze Leben hindurch und darüber hinaus. Das Licht der Kerzen erinnert daran. Von diesem Licht möchte ich morgen etwas mitnehmen. Einen Hoffnungsschimmer, ein wenig wärmenden Trost. 

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22NOV2023
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Ich habe es schon ein paar Mal erwähnt: manchmal geht mir mein Glaube ein Stück weit verloren. Liebe Hörerinnen und Hörer, von Ihnen habe ich manchmal schon die Rückmeldung bekommen, dass man das merkt. Und auch, dass manche von Ihnen irritiert sind, dass eine Pfarrerin das sagt. Was - hat man mich schon gefragt - hat das in einer kirchlichen Radioandacht zu suchen?

Ich kann das verstehen. Andererseits weiß ich genau, dass ich mit meinen Zweifeln nicht allein bin. Ich bin nicht die einzige, der es schwerfällt, Gottes Spuren im Leben zu finden, selbst wenn ich noch so sehr danach suche. Ich fühle mich mit einem Mann aus der Bibel verbunden, der einmal zu Jesus gekommen war auf der verzweifelten Suche nach Hilfe. Ein Vater mit seinem schwer kranken Kind . Er selbst war hilflos. Alle, die er gefragt hatte, waren hilflos. Und nun hat der Vater vor Jesus gestanden, hat gefleht: „Hilf meinem Sohn, wenn Du kannst.“ – „Was soll das heißen, wenn du kannst?“ Hat Jesus ihn gefragt. „Alle Dinge sind möglich, dem, der glaubt.“

Glaube an mich, vertraue mir – sagt Jesus zu dem Mann – dann wird dein Kind gesund. Es liegt bei dir. „Ich glaube“ hat der verzweifelte Vater darauf hin gerufen. Und weiter: „Hilf meinem Unglauben.“ Er wollte glauben – so gerne – und konnte einfach nicht.

Ich fühle mich diesem Menschen sehr nah. Wie er da steht, voller Verzweiflung und Hoffnung. Gefangen zwischen Hoffen und Zweifeln. Wie es aus ihm herausbricht: „Ich glaube – hilf meinem Unglauben.“ Und Jesus hilft. Das Kind ist gesund geworden.

Wie erleichtert der Vater gewesen sein muss: Dass Gottes Gnade eben doch nicht an ihm und seiner Glaubensstärke hängt. Dass Gott hilft, und dass Gott da ist für ihn – selbst, wenn er daran zweifelt.

Ich fühle mich diesem Mann aus der Bibel sehr nah. Und ich weiß, dass er und ich, dass wir nicht die einzigen sind, denen manchmal der Glaube ein Stück weit verloren geht. Zu glauben und zu vertrauen ist schwer, wenn das eigene Kind krank ist oder man selbst. Oder wenn man mit den schweren Seiten des Lebens einfach nicht zurechtkommt. Manchmal ist man zerrissen zwischen Vertrauen und Zweifel. Zum Glück lässt Gott sich davon nicht abschrecken. Er ist trotzdem da – selbst, wenn das manchmal kaum zu glauben ist.

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