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Ich bin Manuela Pfann und nehme Sie heute Abend mit auf eine kleine gedankliche Reise. Ich habe in diesem Sommer einen Abend erlebt, der sich tief in mir eingeprägt hat. Der mir sehr gutgetan hat. Und ich hoffe, es tut auch Ihnen gut, wenn ich davon erzähle.
Denn, Nächte sind ja nicht immer gut und mir fällt es oft schwer einzuschlafen. Umso schöner ist der Beginn dieser Nacht gewesen:
Meine Freundin und ich sitzen draußen, vor dem Campingbus, hinter uns der Wald, vor uns die Weinberge. Unter uns liegt in der Abenddämmerung das Taubertal, ganz im Norden von Baden-Württemberg. Wir trinken ein Gläschen Wein und quatschen miteinander, der Himmel färbt sich nach und nach orange, das Licht wird weniger. Die Konturen der Felder und Bäume verlieren ihre Schärfe, alles verschwimmt und verschwindet allmählich. Zumindest für unsere Augen. Auf einmal merken wir: ohne nachzudenken fangen wir an zu flüstern. Weil der Tag sich verabschiedet und wir ganz leise mit ihm. Wir bleiben sitzen und schweigen – als hätten wir verstanden, dass wir jetzt nur noch Gäste sind in einer Welt, die uns sonst verborgen bleibt. Denn es dauert nicht lange, da schwirren Fledermäuse direkt über unseren Köpfen. Und plötzlich raschelt es im Wald hinter uns: Keine zwanzig Meter vom Bus entfernt steht ein junges Reh auf dem Feldweg. Und dann kommt noch eins und noch eins. Wir halten den Atem an, damit wir sie ja nicht erschrecken. Dann verschwinden sie fast lautlos in den Weinbergen.
Wir trinken aus und versuchen so leise wie möglich in unserem Camper zu verschwinden. Es ist tiefe Nacht, als ich nochmals aufwache, weil irgendwer auf unserem Dach unterwegs ist. Ein Vogel oder ein Eichhörnchen? Ich bin neugierig und will nachschauen. Aber ich bin natürlich viel zu laut. Als ich die Tür aufmache, sind alle weg, es ist wieder still. Und dann stoße ich ein lautes „Wow“ aus. „Guck Dir mal den Himmel an!!“ Meine Freundin kommt raus und da sind so viele Sterne, wie ich noch nie gesehen habe. Die Nacht ist klar, keine Wolke. Und: kein künstliches Licht, das stört.
Ich gehe zurück in den Bus und spüre eine tiefe Ruhe in mir, vielleicht so etwas wie Frieden. Ich überlasse die Nacht jetzt ganz der Schöpfung da draußen. Und fühle mich trotzdem als ein kleiner Teil von ihr. Unsere Welt ist großartig, wenn sie uns erreicht.
Ich wünsche Ihnen einen guten Übergang in die kommende Nacht und dann ein schönes Wochenende.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43213Es gibt Themen, die nehmen viel Platz in meinem Leben ein. Eines davon ist das Thema „Wohnen“. Ich bin schon zwölf mal umgezogen, aus unterschiedlichen Gründen. Mal Wohnung, mal Einfamilienhaus, mal Neubau, mal Altbau, mal gemietet, mal gekauft. Mit der Frage „Wie will ich denn nun wirklich wohnen?“ habe ich mich in den letzten Jahren intensiv beschäftigt. Denn ich will eigentlich nur noch einmal umziehen. Und dann anders leben als bisher. Wie das aussehen soll, das weiß ich schon ziemlich genau:
Das Wichtigste: Ich will in irgendeiner Form gemeinschaftlich leben. So, dass eine Begegnung mit anderen von Anfang an miteingeplant ist. Zum Beispiel in einem Quartier mit einem schönen, grünen Platz in der Mitte. Wo man gemeinsam gärtnern kann oder Boule-Spielen. Und am besten ist da ein Café direkt um die Ecke. Ich möchte zwar in einer eigenen Wohnung leben, aber im Haus oder Viertel, gibt es auch Gemeinschaftsräume: zum Feiern, zum Sport machen, ne Werkstatt, vielleicht sogar einen kleinen Büroraum.
Es gibt bereits Quartiere und Mehrgenerationenhäuser, die so funktionieren. Aber leider noch sehr wenige. Und: wer hier mitgestalten möchte, braucht viel Zeit und Geduld. Weil die Initiative meist von Privatleuten ausgeht. Ich habe mich vor kurzem einer Gruppe angeschlossen, die gerne genossenschaftlich bauen möchte – und die sucht seit fast fünf Jahren ein passendes Grundstück in der Stadt.
Investoren oder große Bauträger haben in der Regel wenig Interesse an dieser Wohnform. Der Grund ist einfach: Gemeinschaftsräume oder Hobby-Werkstätten können nicht wie eine Wohnung verkauft werden. Da geht Gewinn vor Gemeinschaft.
Und das ist nicht gut. Denn wir leben in eine Zeit, in der Kontakte und Begegnung so wichtig sind, wie schon lange nicht mehr. Ich möchte wissen, was in dem vorgeht, dessen Nachbarin ich bin. Und gut wäre doch, wenn keiner ohne Hilfe bleibt, der etwas braucht. Die Hemmschwelle miteinander zu reden ist beim Feierabendbier in der Werkstatt oder beim Spielen im Innenhof nicht allzu groß. So zu leben, ist nicht nur ein Weg raus aus der Einsamkeit. Das tut auch unserer ganzen Gesellschaft gut. Demokratie lebt von Begegnung und Austausch.
Das alles muss aber schon beim Bauen mitgedacht und geplant werden; damit es ganz einfach ist, einander über den Weg zu laufen. So gemeinschaftlich zu wohnen ist nicht nur meine schöne Vision, sondern eine dringende Aufgabe. Für Städte, Gemeinden, Kirchen – auch von Investoren würde ich mir das wünschen. Denn am Ende geht es um einen Gewinn für alle.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43212Es gibt Situationen im Leben, da frag ich mich: Bin ich noch auf der richtigen Spur? Stimmt die Richtung? Oder stehe ich gerade in einer Sackgasse? So ging es mir diesen Sommer. Da hatten sich eine ganze Menge Fragen im Laufe des Jahres angesammelt.
Nein, ich habe nicht auf alle eine Antwort gefunden. Aber ich habe eine wertvolle Erfahrung gemacht: Einfach weitergehen ist fürs Erste ein guter Rat. Der Weg durch ein Labyrinth hat mich darin bestärkt. Ich habe eines im Garten des Klosters Arenberg entdeckt, in der Nähe von Koblenz. Ein ziemlich großes. Wenn man langsam läuft, braucht man bestimmt sieben, acht Minuten vom Anfang bis in die Mitte.
Labyrinthe gibt es seit der Antike, in vielen Kulturen und Religionen. Auch im Christentum spielen sie eine wichtige Rolle: Wer durch ein Labyrinth geht, macht eine Art Pilgerreise. Immer wieder abbiegen zu müssen, oft nicht zu erkennen, wie der Weg verläuft - das steht für die Herausforderungen und Schwierigkeiten im Leben. Labyrinthe sind aber so angelegt, dass der verschlungene Pfad irgendwann zum Zentrum führt. Und genau das ist der Unterschied zu einem Irrgarten. Im Labyrinth kann ich mich nicht verirren. Es gibt ein Ziel, ich komme schon dort an, wenn ich weiterlaufe. Darauf kann ich mich verlassen.
Mir hat es gutgetan, durch das Labyrinth im Klostergarten zu gehen. Ich hatte den Eindruck, ich bin da mit meinen Fragen und Gedanken gut aufgehoben. Und konnte den Weg mit den Wendungen in meinem Leben zusammenbringen.
Und an einer Wegstelle musste ich sogar schmunzeln, über mich selbst. Typisch Manuela, hab ich gedacht, warum immer so ungeduldig? Ich habe gesehen, dass ich noch eine ganze Runde laufen muss, um nur ein bisschen näher zur Mitte zu kommen. Und dann habe ich tatsächlich überlegt, einfach abzukürzen und eine Wendung zu überspringen.
Ich war froh, dass ich auf dem Weg geblieben bin. Denn am Ende ist etwas Überraschendes passiert. Völlig unerwartet stehe ich in der Mitte. Dass ich nach der nächsten Wendung am Ziel bin, das hatte ich nicht kommen sehen.
Das hat sich richtig gut angefühlt. So hoffnungsvoll. Bisweilen geschehen Dinge, mit denen ich nicht rechne. Einfach nur, weil ich weiterlaufe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43211Tante Trude ist schon lange tot. Sie ist vor über 20 Jahre gestorben und meine Erinnerungen an sie sind langsam verblasst. Mit ihr sind wir Kinder aufgewachsen. Sie war die Einzige aus der Großelterngeneration, die damals noch gelebt hat. Vom Kaiser hat sie uns immer erzählt, von den beiden Kriegen und dem Zeppelin. Und dann ist es ein Satz, der die Tante für einen Moment wieder in die Gegenwart holt. Weshalb und wer ihn gesagt hat, davon erzähle ich gleich.
Mein Bruder und ich sind im vergangenen Jahr nach Polen gefahren. Dort hatte die Familie unserer Mutter bis zum zweiten Weltkrieg gelebt – und dazu gehörte auch Tante Trude.
Wir kommen in dem polnischen Dorf an, in dem sie zuletzt zuhause war. Dort begegnen wir der Dorfältesten, Lucy, sie ist fast 100 Jahre alt. Laufen kann sie nicht mehr, sie liegt daheim im Bett, aber der Kopf ist klar und ihre Augen hellwach. Wir haben ein altes Foto mitgebracht. Darauf zu sehen: unsere Oma und ihre beiden Schwestern, eine davon: Tante Trude.
Wir erzählen, warum wir hier sind und dass wir hoffen, jemanden zu finden, der unsere Vorfahren noch gekannt hat. Uns von damals erzählen kann. Wir warten darauf, dass einer der Nachbarn übersetzt, der uns zu Lucy gefahren hat und ein bisschen deutsch kann. Doch das ist nicht notwendig. Lucy spricht Deutsch. „Ja ick bin doch Deutsche!“ sagt sie. Die letzte im Dorf. Das ist unser Glück, denn was dann passiert, ist unglaublich für uns: Lucys Reaktion auf unser Foto hat sich in etwa so angehört:
„Se kommen mir bekannt vor. Aber ick kann mir nich erinnern“. Mein Bruder und ich schauen uns an. Und haben beide sofort denselben Gedanken. Die spricht wie Tante Trude!
Dieses „ick kann mir, ick kann mir nich erinnern“ – das hat die genau so immer gesagt. Mit dieser Grammatik, die in unseren Ohren ein bisschen schräg geklungen hat. Wir hatten keine Ahnung, dass dieser Dialekt oder diese Sprachmelodie ein Zuhause hat. Und jetzt stehen wir da und trauen unseren Ohren kaum. Es ist, als ob Tante Trude an diesem Tag ganz lebendig bei uns ist. Da hatte sie also hingehört.
Wir haben in diesen Tagen in Polen auf eindrückliche Weise erfahren: Heimat sind nicht nur Orte und Landschaften. Heimat ist auch Sprache und Dialekt. Heimat hat eine Melodie, die manchmal noch ein ganzes Jahrhundert nachklingt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43210Ich habe mich in eine Stadt verliebt! Sie liegt ganz im Norden von Deutschland; entdeckt habe ich sie, als ich im Herbst dort unterwegs war. Meine neue „Liebe“ heißt Arnis. Es ist die kleinste Stadt in Deutschland mit gerade mal 300 Einwohnern. Was mich an Arnis so begeistert? Die Lage und ein besonderer Weg. Arnis liegt auf einer Halbinsel, mitten in der Schlei. Die ist ein über 40 Kilometer langer Arm der Ostsee. Die Leute da leben fast alle in einer langen Straße, Haus an Haus und Garten an Garten. Und jeder Garten reicht bis ans Wasser. Und dann gibt es da diesen traumhaft schönen Rundweg um Arnis. Der hat eine lange Geschichte. Vor 300 Jahren war er ein Trampelpfad am Ufer. Die Bewohner haben ihn als Abkürzung zu ihren Booten genutzt oder wenn sie mit den Nachbarn schnacken wollten. So heißt das im Norden, wenn die Leute über den Gartenzaun miteinander reden.
Heute führt der einstige Trampelpfad direkt durch die Gärten der Bewohner „Wie toll ist das denn. Ich darf ganz ungeniert ein bisschen schauen, wie die Leute hier leben und die wunderschön gepflegten Gärten bestaunen.“
Ich denke an unseren Garten zuhause. Wir sind erst vor kurzem in ein Neubaugebiet gezogen und zwischen den Häusern gibt es eine große Gartenfläche. Ich finde das klasse, Kinder könnten durchspazieren und toben. Aber so bleibt es nicht. Gerade werden Grenzen gezogen und Hecken gesetzt. Ich hätte es nicht gebraucht. Aber so ist es halt vorgesehen.
Zurück in Arnis. Ich frage einen Einwohner, ob die offenen Gärten genutzt werden, zum Schnacken. Auch mit Fremden, die vorbeikommen. Das wäre doch wichtig, finde ich. Der sagt mir ehrlich: Mit den Nachbarn schon. Mit den Fremden selten. Denn im Sommer wird Arnis von Touristen überrannt. „Da brauchen wir unseren Rückzugsraum“, sagt er.
Das leuchtet mir ein. Und auch ich muss eingestehen, dass wir diesen Sommer nicht nur gute Erfahrungen gemacht haben mit dem da noch offenen Garten: Vor dem Haus haben regelmäßig Fremde geparkt und sind ungeniert über unseren Rasen spaziert. Und ein halbes Dutzend Hundehaufen haben wir auch weggemacht.
Ein offenes Haus, ein offener Garten, das ist also immer eine Gratwanderung. Und doch geht mir die schöne Stimmung in Arnis nicht aus dem Kopf, so ein klein wenig neugierig sein dürfen auf die Fremden hinter den schönen Gärten. Deshalb habe ich beschlossen: Ich werde im Advent zu Punsch in unseren Garten einladen, auf einen Schnack, über die Hecken und Zäune hinweg. Die Nachbarn auf jeden Fall und vielleicht auch die anderen, die gerade vorbeilaufen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43209„Wir sind Bettler, das ist wahr“. Das sind die letzten Worte im Leben von Martin Luther. Er hat sie am 18. Februar 1546 auf einen Zettel geschrieben, den man nach seinem Tod auf seinem Schreibtisch gefunden hat. Mich erstaunen diese Worte und sie berühren mich jedes Mal, wenn ich sie lese oder höre. „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Dabei hätte Martin Luther sich doch gar nicht als Bettler fühlen müssen. Schon materiell nicht. Als er starb, war er kein armer Mann, er hatte geheiratet, hatte Kinder geschenkt bekommen und wohnte in seinem eigenen Haus in Erfurt. Aber auch sonst hätte Martin Luther stolz sein können auf alles, was er in seinem Leben geschafft hatte. Er war Doktor der Theologie, er war mit den wichtigsten Männern seiner Zeit befreundet, er hatte viele theologische Bücher geschrieben und sogar die ganze Bibel in die deutsche Sprache übersetzt. Er hatte sich mit Kaiser und Papst gestritten und dafür gesorgt, dass die Kirche begonnen hatte, sich zu erneuern. Martin Luther war eine berühmte Persönlichkeit geworden und von vielen hoch geachtet und verehrt. Und trotzdem hat er am Ende seines Lebens so einen Satz gesagt: „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Ich glaube, er hat diesen Satz gesagt, weil er genau gewusst hat, dass es jetzt ans Sterben ging. Und er wusste: Wenn ich sterbe, dann nützt mir alles nichts mehr, was ich in diesem Leben geleistet und geschaffen habe. Wenn ich sterbe, muss ich alles zurücklassen: Mein Haus, meine Kinder, meine Bücher, meinen Doktortitel, mein Ansehen. Wenn ich sterbe, dann trete ich vor meinen Gott. Und Gott kann ich nicht mit meinen Leistungen beeindrucken, sondern ich bin auf Gottes Gnade angewiesen. Luther wusste, dass er am Ende seines Lebens Gottes Vergebung brauchen würde für alles, was er auch falsch gemacht und wo er anderen Menschen geschadet hatte. Und Luther hat manches falsch gemacht. Und manches in seinen Schriften geschrieben, das Unheil angerichtet hat.
Darum hat Luther gewusst: Er wird vor Gott wie ein Bettler stehen, angewiesen auf Gottes Gnade und Vergebung. – „Wir sind Bettler, das ist wahr“. Ach, was bilde auch ich mir manchmal so viel ein auf das, was ich tue und leiste und habe und kann. Aber vor Gott trete auch ich einmal mit leeren Händen. Dann hoffe ich darauf, dass Gott auch mir meine Schuld vergibt und mich trotz all meinem Versagen umarmt und sagt: „Willkommen, mein geliebtes Kind, in meinem Reich“.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43143Was man aus einem Tonklumpen so alles machen kann! Ich habe im vergangenen Sommer zum ersten Mal an einem Töpferkurs teilgenommen. Und aus dem ersten feuchten Klumpen Ton, den mir die Künstlerin in die Hand gedrückt hat, habe ich eine Schale geformt. Daraus esse ich jetzt morgens mein Müsli. Ein Freund von mir hat aus seinem Tonklumpen einen Weinbecher gemacht. Und meine Frau hat sich gleich höhere Ziele gesteckt: Sie hat aus ihrem Ton einen großen Vogel mit langem Hals und spitzem Schnabel geschaffen. Der sitzt jetzt in einem Blumentopf in unserem Wintergarten. Der Fantasie sind beim Arbeiten mit Ton keine Grenzen gesetzt, eher der eigenen Begabung. Ich finde es darum faszinierend, dass in der Bibel auch von Gott als Töpfer gesprochen wird. Und von uns Menschen als Ton. So jedenfalls sagt es der Prophet Jeremia im Alten Testament. (Jer 18,6)
Nach meinem Töpferkurs im Sommer ahne ich ein wenig, was Jeremia damit meint. Er sagt: Ich bin als Mensch kein Zufallsprodukt, sondern ich bin gemacht, geformt und geschaffen worden von einem himmlischen Töpfer. Und der hat sich vorher genau überlegt, wie ich aussehen soll und zu was ich nütze sein soll. Mir hilft das, denn manchmal bin ich ja mit mir selbst nicht zufrieden und ich denke: Wenn ich doch nur sportlicher wäre, oder besser aussehen würde oder klüger wäre oder mehr Begabungen hätte. Ich schaue dann in den Spiegel und kann mich selbst gar nicht leiden. Aber das Bild vom Ton und dem Töpfer richtet mich wieder auf: Gott hat mich geformt und er hat sich richtig Mühe mit mir gegeben. Ich bin deswegen trotzdem nicht perfekt und ich habe so manche Risse und Macken, die es mir manchmal schwer machen. Aber das macht nichts. Gott kann trotzdem mit mir etwas anfangen. Und dann denke ich auch daran, wie stolz ich war, als ich meine Müslischale fertiggetöpfert hatte und wie vorsichtig ich jetzt damit umgehe. Und mir wird klar, dass das bei Gott genauso ist. Auch Gott ist stolz darauf, wie er mich geschaffen hat.
Gott als Töpfer und ich als Ton. Eine schöne Vorstellung. Sie hilft mir an Tagen, an denen ich mich mal wieder nicht leiden kann. Ich denke dann: Wenn Gott sich an mir freut, darf ich das auch.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43142Frohe Weihnachten wünsche ich. Nein, nicht Ihnen, liebe Hörer, sondern den Menschen in Venezuela. Denn die haben tatsächlich schon jetzt im Oktober Weihnachten gefeiert. Warum? Weil ihr Präsident das mit einem Dekret so bestimmt hat. Als Begründung hat er gesagt, er wolle dem Volk eine Freude bereiten. Andere sagen, dass er mit dieser Anordnung von innenpolitischen Problemen ablenken wollte. Wie auch immer: In Venezuela war schon im Oktober Weihnachten. Komisch ist das schon. Auf der anderen Seite vielleicht auch wieder nicht, denn wir feiern an Weihnachten ja die Geburt Jesu Christi. Und in der Bibel steht an keiner Stelle, an welchem Tag oder in welchem Monat Jesus geboren wurde. Und weil das niemand weiß, gab es in den ersten 400 Jahren unserer Zeitrechnung viele verschiedene Geburtstermine über das ganze Jahr verteilt. Warum also könnte Jesus nicht auch im Oktober geboren sein?
Weihnachten kann man im Grunde zu verschiedenen Zeiten feiern. Das liegt auch daran, dass die Botschaft von Weihnachten das ganze Jahr über von Bedeutung ist. An Weihnachten feiern wir, dass Jesus geboren ist und wir glauben, dass damit Gott selbst auf die Erde gekommen ist und Mensch wurde. Das ist eine aufregende Botschaft: Wir haben keinen Gott, der irgendwo im Himmel über uns thront, weit weg von unserem menschlichen Leben und unserem Glück und Leid. Sondern wir haben einen Gott, der uns ganz nahe ist und selbst Glück, Leid, Liebe, Trauer und den Tod kennengelernt hat. Ihm ist nichts Menschliches fremd. Darum kann ich darauf vertrauen, dass dieser Gott mir in jeder Lebenssituation nah ist und mich und meine Sorgen versteht. Ich kann zu ihm beten und glaube, dass er mir nahe ist und mich hört. Keine andere Religion kennt solch einen Gott, der so menschlich ist. Diese Botschaft hat an jedem Tag im Jahr Bestand. Und darum ist es im Grunde egal, wann wir seine Geburt als Mensch feiern. Nur: für die eigenen politischen Ziele sollte niemand Weihnachten missbrauchen. Und was mich betrifft: Mir ist der traditionelle Termin im Dezember sowieso viel lieber. Immerhin feiert dann fast die ganze Welt. Das verbindet uns miteinander über Länder und Nationen hinweg.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43141Ich liebe das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“. Vor allem die dritte Strophe. Da dichtet Matthias Claudius: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, sie wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“ Ich finde, in diesen Worten steckt eine tiefe Wahrheit. Denn wie oft bilde ich mir ein Urteil über ein Thema oder einen Menschen und sehe dabei nur die Hälfte.
Das ist mir jetzt wieder bewusst geworden. Ich habe in der letzten Zeit oft gelesen und in Nachrichten gehört, dass die Jugendlichen heutzutage rücksichtsloser und egoistischer seien als früher. Sie seien laut, sie grölen nachts herum und stehen im Bus nicht mehr für ältere Menschen auf. So habe ich das immer wieder gehört. Und natürlich habe ich Erfahrungen gemacht, die dazu gepasst haben.
Aber jetzt weiß ich: Das ist nur die halbe Wahrheit. Als ich vor einiger Zeit mit der S-Bahn nach Karlsruhe gefahren bin, da hat an einer Haltestelle eine ältere Frau mit einem Rollator versucht, noch die Bahn zu erreichen. Aber sie war noch so weit weg, dass sie keine Chance hatte. Das konnte jeder sehen. Es war ein junger Mann, der von seinem Sitz aufgestanden ist und sich in die Tür der Bahn gestellt hat. Er hat sie so lange blockiert, bis die ältere Frau den Einstieg erreicht hatte.
So viel Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft hätte ich von dem jungen Mann nicht erwartet. Und ich war auch ein wenig beschämt: Ich hätte das ja auch tun können. Und ich habe gemerkt: Das mit der angeblichen Rücksichtslosigkeit von jungen Leuten ist gar nicht die ganze Wahrheit. Das gibt es manchmal. Ja. Aber es gibt mindestens so oft das Gegenteil. Viele junge Menschen sind sehr wohl freundlich und hilfsbereit. Ich will mir das merken. Denn ich denke viel zu oft, ich wüsste genau, wie andere Menschen sind und warum sie so sind. Ich verurteile sie dann schnell in meinem Herzen, ohne sie und ihre Lebensgeschichte zu kennen. Ich denke, was ich sehe, ist die ganze Wahrheit. Aber oft ist es nur die halbe Wahrheit. Darum lohnt es sich, einen zweiten Blick zu wagen. Wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme, die mir fremd sind, dann verstehe ich sie manchmal besser. Und wenn ich genauer hinsehe, dann mache ich neue Erfahrungen. Ja, es stimmt einfach, was Matthias Claudius sagt: Manches ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=43140Gestern habe ich Zeit geschenkt bekommen. Und nicht nur ich; wir alle: eine ganze Stunde, weil die Uhr in der Nacht von drei auf zwei Uhr zurückgestellt worden ist. So hatte der Sonntag ausnahmsweise 25 Stunden und ich einen längeren entspannten Abend. Natürlich weiß ich, dass ich die Stunde wieder hergeben muss. Wenn im Frühjahr die Uhr wieder auf Sommerzeit vorgestellt wird, dann wird mir die Stunde wieder weggenommen, und das ist weniger angenehm und so mancher leidet darunter. Trotzdem denke ich: Wie schön wäre das, wenn ich selbst die Zeit hin und herstellen könnte, so wie ich es brauche. Wenn ich im Stau stehe oder beim Arzt im Wartezimmer festsitze, würde ich die Zeit gerne öfter mal eine Stunde vorstellen. Und wenn ich einen wundervollen Augenblick erlebe, von dem ich mir wünschte, dass er nie vergeht, dann würde ich gerne die Zeit für eine Weile anhalten. An einem Tag, an dem ich mit meiner Arbeit einfach nicht fertig werde, wünsche ich mir, ich könnte dem Tag noch zwei Stunden hinzufügen. Aber ich weiß ja: Das geht nicht. Ich kann die Zeit nicht verändern, auch meine Lebenszeit nicht. Als ich ein Kind war, konnte es mir mit dem Größer-Werden nicht schnell genug gehen. Und als erwachsener Mann hätte ich die Zeit manchmal gerne angehalten. Doch jetzt, wo ich älter werde, begreife ich mehr und mehr, dass ich auch meine Lebenszeit nicht in den Händen habe. Sie ist begrenzt.
Jesus hat einmal gefragt: „Wer von euch kann dadurch, dass er sich Sorgen macht, sein Leben auch nur um eine Stunde verlängern?“ (Mt 6,27) Die Antwort darauf lautet natürlich: Niemand! Ich bin nicht der Herr über meine Zeit. Ich kann sie nicht schneller laufen lassen und ich kann sie nicht aufhalten. Aber ich kann etwas anderes: ich kann darauf vertrauen, dass meine Zeit nicht einfach so abläuft, sondern geborgen ist in Gottes Hand. Und Gott weiß, wieviel Zeit ich brauche. Für jeden Tag und für mein ganzes Leben. In diesem Vertrauen kann ich jede Minute und jede Stunde als Geschenk begreifen und mich darin üben, meine Tage bewusst zu leben. Dabei hilft mir auch ein Satz, den die englische Ärztin Cicely Saunders gesagt hat: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“.
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