Zeige Beiträge 1 bis 10 von 3197 »
Jérôme. Der Name hat sich tief in mein Herz eingeprägt. Dabei bin ich ihm nie persönlich begegnet. Ich habe keine Ahnung, wer er war, kenne weder sein Gesicht noch seinen Nachnamen. Trotzdem denke ich oft an ihn. Immer dann, wenn ich an dem kleinen Holzkreuz am Straßenrand vorbeifahre. Es ist blau und auf dem Querbalken steht in schwarzen Buchstaben sein Name: Jérôme.
Das Kreuz steht an der Stelle, an der er vermutlich gestorben ist. Auf der Straße, die ich fast täglich zur Arbeit entlangfahre. Wenn ich das Kreuz sehe, bin ich mit meinen Gedanken sofort bei ihm: Wer bist du gewesen, Jérôme? Was ist mit dir passiert? Wie hast du gelebt? Wen musstest du zurücklassen? Es muss Menschen geben, die ihn sehr vermissen, denn es stehen immer frische Blumen vor dem Holzkreuz. Seit Jahren schon.
Jérômes Kreuz macht mich traurig. Es ist eines von vielen an deutschen Straßenrändern. Allein 2024 sind fast 3000 Menschen im Straßenverkehr verunglückt. Das sind viele Kreuze. Das sind viele traurige Menschen. Viele Erinnerungen.
Ich finde diese Tradition gut und wichtig, Kreuze am Straßenrand aufzustellen. Sie erinnern nicht nur daran, dass hier ein Mensch sein Leben verloren hat, sondern sind auch eine optische Mahnung an alle, die daran vorbeifahren: Fahrt vorsichtig. Das Leben kann schnell vorbei sein. Runter vom Gas.
Auf mich wirkt so ein Holzkreuz viel eindringlicher als jedes Warnbanner. Auch mein Leben ist endlich. Und dann?
Ich hoffe, dass ich eines Tages alle wiedersehen werde, die mir auf dieser Welt so wichtig geworden sind. Dass wir uns alle wieder in den Armen liegen und glücklich sein dürfen. Gemeinsam bei Gott. Bis dahin wird mein Name auf der Erde zurückbleiben und an mich erinnern. Auf einem Holzkreuz oder auf einem Grabstein.
Bei dem Kreuz von Jérôme muss ich auch an all die Menschen denken, die ich verloren habe. Ich stelle nicht immer frische Blumen an ihr Grab, aber ich vermisse sie. Jeden Tag. Es tut weh, wenn ein Mensch geht und der Schmerz bleibt.
Ich hoffe, es stimmt, was man sagt, dass Liebe alle Grenzen überwindet. Auch die des Todes. Mein christlicher Glaube lässt mich darauf vertrauen, dass auch meine Seele den irdischen Tod überdauert, genauso, wie die Liebe. Auch daran erinnert mich das Kreuz am Straßenrand.
Es verspricht mir, dass geliebte Menschen nicht „einfach so“ aus dem Leben verschwinden. Solange ein Name auf einem Kreuz, einem Grabstein oder auch nur im Herzen eines Menschen geschrieben steht, bleibt er in Erinnerung. Das finde ich tröstlich und schön.
Jérôme, wer auch immer du warst, du stehst in meinem Herzen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41569„Wenn der Keks redet, hat der Krümel Pause!“ Das sagt meine Freundin ihrem Sohn Leo. Weil er uns mitten im Gespräch unterbricht. Ich muss lachen. Als ich Leo dann anschaue, bleibt mir das Lachen im Hals stecken. Der Kleine findet den Satz gar nicht lustig.
Das war doch nicht böse gemeint. Trotzdem beißt sich Leo auf die Lippen und scheint kurz davor, loszuweinen.
Für ihn hat der Satz noch eine andere Botschaft. Er versteht: „Was du sagen willst, kann niemals so wichtig sein, wie das Gespräch zwischen Erwachsenen.“ „Deine Meinung und deine Bedürfnisse sind unwichtig, denn du bist klein und unwichtig.“ Puh, wie schlimm muss es sein, sowas zu hören. Vielleicht wäre es besser gewesen zu sagen: „Lass uns kurz ausreden, dann bist du dran und wir hören dir dann aufmerksam zu.“
Leo tut mir leid. Dabei werden Kinder öfter mal zum Schweigen gebracht. Egal mit welchen Sätzen. Sofort bin ich froh, dass sich meine Mama in meiner Kindheit an einem gegensätzlichen Vorbild orientiert hat. An dem eines Mannes, der gesagt hat: „Lasset die Kinder zu mir kommen.“ Dieser Mann heißt Jesus. Jesus hat das vor über zweitausend Jahren gesagt. Vor zweitausend Jahren!! Schon damals haben Erwachsene Kinder zurückgehalten. Auch sie haben gedacht, dass Jesus nicht von „bedeutungslosen“ Ansichten “kleiner Krümel“ belästigt werden sollte. Offenbar ganz überzeugt davon, dass es Menschen gibt, die nichts zu melden haben, Menschen, die man kleinhalten muss. Puh, was für ein toxischer Gedanke!
Mir gefällt es, dass Jesus keinen Unterschied macht zwischen Groß und Klein, sondern jedem gleichermaßen zuhören will.
Dass Menschen zum Schweigen gebracht und kleingehalten werden, gibt es in allen Generationen und Ländern. Besonders hart trifft das wohl Kinder und schwächere Menschen; Denen kann man leicht sagen: „Darüber spricht man nicht.“ „Für deine Gefühle und Meinungen ist jetzt keine Zeit.“ Man kann sie und ihre Probleme kleinreden. Ja und dann?
Niemand bleibt ewig ein Kind, aber geschwiegen wird weiter. Denn wenn man Regeln einmal gelernt und verinnerlicht hat, orientiert man sich oft sein Leben lang daran. Auch als Erwachsener. Viele verhalten sich dann so, wie es ihnen beigebracht wurde: schweigen, und geben es an die nächste Generation weiter.
Ich möchte meinen Kindern vermitteln, dass es wichtig ist, was Menschen sagen. Egal, wie klein sie sind oder wie klein sie sich fühlen. Deshalb achte ich darauf, sie wertschätzend zu behandeln, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen genau zuzuhören.
Gerade in Anbetracht der anstehenden Wahlen wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Menschen lernen, sich nicht klein zu machen. Eine Meinung zu haben und für das einzustehen, was sie als gut und richtig empfinden.
Demokratie lebt vom Sprechen miteinander. Nicht vom Schweigen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41568O je, ich hab keine Ahnung, wo ich gerade bin…. Eigentlich will ich nur einen kleinen Spaziergang machen, um den Kopf freizubekommen. Doch dann bildet sich auf einmal dichter Nebel. Er verschleiert alle Konturen und lässt mich die Landschaft nur noch grob erahnen. Hoffentlich bin ich noch auf dem richtigen Weg und komme am Ende an.
Ganz schön unheimlich.
Irgendwie aber auch spannend. Eigentlich ist mein Weg durch diesen Nebel geradezu sinnbildlich für meinen Weg durch das Leben. Genau wie hier im Nebel weiß ich auch im Leben oft nicht, was auf mich zukommt. Ganz besonders wenn sich Lebensphasen ändern. Wenn das erste Kind geboren wird und ich plötzlich Mutter bin. Wenn ich an einen neuen Ort ziehe oder eine neue Arbeitsstelle antrete. Keine Ahnung, was da auf mich zukommt und wie mein Leben dann weitergeht. Manchmal kann ich es mir grob vorstellen, aber vieles weiß ich erst, wenn es so weit ist.
Wie in dichtem Nebel lerne ich auch in meinem Leben mit jedem Schritt dazu, lerne Gefahren einzuschätzen und bewältigte Hindernisse hinter mir zu lassen. Ich traue mich, in schönen Momenten innezuhalten, und mein Leben zu genießen. Werde mutiger und sicherer.
Keine Lebensphase ist nur schön und einfach. Das ist normal.
Und manchmal bekomme ich Angst, gerade weil die Zukunft ungewiss oder das Leben besonders herausfordernd ist. Auch das ist normal.
Mein Lebensweg verlangt mir einiges ab, wie der Nebelweg auch. Kratzer und Schrammen bleiben bei beidem nicht aus. Trotzdem bin ich stolz auf jedes Hindernis, das ich gemeistert habe.
Auf meinem Weg durchs Leben habe ich zum Glück meine Familie und Freunde, die mich unterstützen und mich notfalls auffangen, wenn ich stolpere. Aber hier, bei meinem Spaziergang durch den Nebel? Da bin ich allein. Oder nicht?
Es ist seltsam: Ich kann kaum meine eigene Hand vor Augen sehen, trotzdem fühle ich mich begleitet. Meine Gedanken beginnen wie von selbst zu beten. Mein Glaube stellt eine Verbindung her, zu etwas, das mich durch den Nebel führt. Etwas, das ich genauso wenig sehen kann, wie die Dinge vor mir - von dem ich aber genauso intuitiv weiß, dass es da ist. Vielleicht ist es ein Schutzengel, vielleicht Gottes Hand, ich weiß es nicht. Aber ich fühle, dass ich darauf vertrauen kann, begleitet zu sein.
Solange ich Gott an meiner Seite und in meinem Herzen habe, kann ich mich nicht vollständig verlaufen. Er bleibt bei mir, auf meinem Nebelweg genauso wie auf meinem Lebensweg.
Und mit dieser Erkenntnis lichtet sich auf einmal der Nebel: vor mir und in mir.
Und auf einmal sehe ich klar.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41567Alles Gute zum internationalen Tag des Feuerlöschers! Der ist nämlich heute. Auch bei mir zu Hause steht einer griffbereit, aber ich hätte nie gedacht, dass der einen eigenen Feiertag hat. Sehr kurios. Obwohl - nur auf den ersten Blick.
So ein Brand entsteht nämlich schneller als man denkt. Da braucht nur ein kleiner Funke aus dem Ofen entwischen. Wie gut also, dass es in vielen Haushalten diese kleine, rote Flasche gibt, die seit nun 150 Jahren Brände und Katastrophen verhindert.
Ich wünschte, es gäbe so einen Feuerlöscher auch für meine Gefühle. Emotional funkt und zischt und brennt es bei mir auch manchmal gewaltig. Wenn ich mich ärgere zum Beispiel. Dabei ist es egal, ob ich mich über eine Person oder eine Situation aufrege. Ich spüre dann ganz genau, wie ich hitzig werde. Wenn ich so richtig sauer bin, wird mein Körper ganz heiß
und dann fällt es mir manchmal echt schwer, mich zu beherrschen.
Auch wenn mich etwas über einen längeren Zeitraum belastet, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle oder ein Streit ungeklärt bleibt. Dann spüre ich, wie das Problem in mir schwelt wie ein Glutnest. Und spätestens, wenn ich mich abends nur noch unruhig hin und her wälze, muss ich mir eingestehen: Meine Gefühle haben einen Brand gelegt.
Hach, wie wunderbar wäre da ein emotionaler Feuerlöscher, der – einmal den Auslöser gedrückt – alle Wut und allen Ärger runterkühlt. Leider gibt es so einen Feuerlöscher nicht. Also zumindest nicht in Flaschenform und nicht zu kaufen. Wobei – Es gibt schon ein paar Mittel, mit denen ich mein emotionales Feuer kontrollieren kann: Dem anderen genau zuhören zum Beispiel. Wenn ich kapiere, warum jemand so denkt, wie er eben denkt, kann ich ihn besser verstehen. Dann begreife ich seine Gründe und Motive und wir können viel sachlicher diskutieren; ruhig und vernünftig und eben nicht emotional explosiv.
Natürlich gibt es auch Meinungen und Haltungen, die bringen mich zwangsläufig zum Kochen.
Rassismus und Extremismus in jeglicher Form, zum Beispiel. Die Gründe dafür werde ich nie verstehen. Trotzdem ist explodieren auch hier keine Lösung. In solchen Situationen ist es sogar besonders wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren, egal, wie bescheuert oder brandgefährlich ich eine Meinung finde.
Dann halte ich ganz bewusst inne, atme ein paar Mal ruhig durch oder spreche in Gedanken ein kurzes Gebet.
Das sind meine Tricks, meine kleinen Feuerlöscher, die mir helfen, in hitzigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.
Natürlich sind auch die kein Patentrezept. Nicht alle Brände kann ich verhindern – und das ist auch ganz normal, dass im menschlichen Miteinander mal die Funken fliegen.
Aber es hilft mir, wenn ich weiß, welche emotionalen Feuerlöscher ich zur Not habe, damit aus einem Funken kein Brand wird.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41566Ich bin immer gerne vorbereitet und habe deshalb für alles Mögliche eine Tasche gepackt. Für den Sport habe ich eine Tasche mit einem Handtuch drin und den Turnschuhen und einer Trinkflasche. Für die Chorprobe habe ich eine Tasche mit Noten und mit Bleistift und Marker, um mir in den Noten anzustreichen, was ich beim Singen beachten muss. Es ist praktisch, wenn ich mir bei einem Termin nicht erst noch alles zusammensuchen muss. Das Handtuch zum Sport würde ich vermutlich regelmäßig vergessen, wenn ich die Tasche jedes Mal kurz vorm Losgehen erst neu packen würde. Und was wäre das für eine Zeitverschwendung, wenn ich zu jeder Chorprobe immer erst noch die Noten zusammensuchen müsste! So bin ich fast ein bisschen stolz auf meine zeitsparende Systematik. Und versuche das auch sonst im Alltag so zu handhaben. Aber ich weiß schon, dass man meine fertig gepackten Taschen auch verstehen kann als ein Zeichen von Ängstlichkeit. Bloß nicht unvorbereitet sein! Und ja nicht die Kontrolle verlieren.
Ja, ich fürchte, je älter ich werde, umso ängstlicher werde ich und umso schwerer fällt es mir, einfach mal loszulassen, mich in etwas Neues zu stürzen und einfach zu vertrauen.
Als Jesus seine Jünger aussendet, um zu predigen und Kranke zu heilen, trägt er ihnen auf, nichts Überflüssiges mitzunehmen. Kein Geld, keine Vorräte. Die Aufgabe, die sie erfüllen sollen, ist wichtig. Und dafür müssen sie offen sein. Deshalb keine Planung, keine gepackte Tasche und keine Kontrolle über das, was kommt. Die Jünger sollen stattdessen ganz auf Gott vertrauen. Ich finde es mutig von den Jüngern, dass sie sich darauf einlassen konnten.
Vielleicht war es vor 2000 Jahren noch selbstverständlich, irgendwo unterzukommen und etwas zu essen zu bekommen. Vielleicht aber auch nicht. Aber damals wie heute ist es so, dass man sich nicht auf alles im Leben perfekt vorbereiten kann.
Als Jüngerin würde ich mit meinen gepackten Taschen bei Jesus vermutlich einiges Kopfschütteln auslösen. Und ich käme sehr in Erklärungsnot, wenn ich rechtfertigen müsste, weshalb es mir nicht so leicht fällt, die Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41529Die Zeit vor einer Wahl ist eine seltsame Zeit. Wahlkampf nennt es sich, was jetzt geschieht, wenn sich die Parteien um Aufmerksamkeit und Wählerstimmen bemühen. Ich hoffe ja, dass sie aufrichtig miteinander wetteifern. Aber vielerorts ist es wirklich ein Kampf. Und die Mittel, mit denen gekämpft wird, sind nicht immer fair.
Wahlkampf gibt es auch in der Bibel. Sie erzählt, dass das junge Christentum vor fast 2000 Jahren jede Menge Konkurrenz hatte. Viele verschiedene Religionen und Weltanschauungen haben damals miteinander gewetteifert. Was hat es damals im römischen Reich nicht alles gegeben! Archaisches Brauchtum, der Vielgötterglaube der Griechen, die Naturreligionen Afrikas, politische Gruppen, Regierungen und Befreiungsbewegungen: Auch vor 2000 Jahren mussten Menschen sich entscheiden, was für ihr Leben gelten soll und wo sie dazugehören wollen. Im Wettbewerb der Religionen ist das Christentum damals eine leise, schwache Stimme gewesen. Und trotzdem sind immer mehr dazugekommen. Wahrscheinlich, weil sie sich, ihre Ängste und Hoffnungen hier wiedergefunden haben und Antworten bekommen haben auf ihre Fragen; und weil sie ihren Glauben in den jungen Gemeinden glaubwürdig leben konnten.
In der Bibel gibt der Apostel Paulus den frühen Christen einen Rat. In einem Brief schreibt er: Niemand soll mehr von sich halten, als sich's gebührt. (Röm 12, 3) Vielleicht war es nötig, dass Paulus das schreibt, weil es auch damals schon Leute gegeben hat, die sich für besser gehalten haben als andere: solche, die sich selbst in den Mittelpunkt gestellt haben; und die dabei aus den Augen verloren haben, worum es wirklich geht. Ich finde, Paulus gibt einen guten Rat: gegen Überheblichkeit und für den rechten Umgang miteinander.
Mich überzeugen Menschen, die sich mit Bedacht für eine Sache einsetzen, mehr als solche, die andere beschimpfen und geringschätzen.
Ein Rat, der auch in unseren Wahlkampf passt, finde ich: Klar sollen sich die verschiedenen Parteien miteinander messen – aber bitte um der Sache willen. Ich würde mir deshalb wünschen, dass es auch bei den politischen Wahlen heutzutage ohne Streit und Beschimpfungen, ohne Überheblichkeit oder Angriffe zugehen könnte. Damit die Menschen die Partei wählen, die mit Argumenten überzeugt und sie mit Bedacht vorbringt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41528Als Pfarrerin begleite ich oft Personen, die um einen geliebten Menschen trauern. Wenn wir die Beerdigung miteinander vorbereiten, nehme ich mir mit den Angehörigen Zeit, über den Verstorbenen zu sprechen. Dabei ist mir oft aufgefallen, dass manche Trauernden nicht nur über den Menschen reden, der jetzt gestorben ist. Oft kommen im Gespräch andere in den Blick: „Damals, als meine Oma gestorben ist…“, heißt es dann. Oder: „Ich erinnere mich, als wir meinen Onkel zu beerdigen hatten.“ Die Erinnerung an bereits erlebte Trauer kann helfen, mit der jüngsten Trauer zurechtzukommen. Weil die Menschen wissen: „Ich bin früher schon einmal mit dem Thema in Berührung gekommen. Ich weiß, wie es sich anfühlt.“
Als Seelsorgerin habe ich das für mich auf die Formel gebracht: Am Grab eines Menschen stehen wir nicht nur am Grab eines Menschen.
Einmal hat ein junger Mann sogar zu mir gesagt: „Ich habe schon oft um einen Menschen trauern müssen. Ich habe Übung darin.“ Das hat für mich gar nicht bitter geklungen oder verzweifelt sondern fast ein wenig hoffnungsvoll.
Gleichzeitig war es dem jungen Mann ernst. Denn auch wenn jeder Abschied anders ist, bin ich davon überzeugt: Alte Trauer, der Abschied von anderen, Vorerfahrung mit Trauer und Verlust und vieles andere mehr schwingt immer mit, wenn man sich von diesem einen Menschen hier und jetzt verabschiedet.
„Ich habe Übung darin.“ Hat der junge Mann gesagt und hat gemeint: Alte Gefühle klingen mit. Vielleicht auch Unerledigtes. Empfindungen, die früher schon da waren und die er vielleicht jetzt aussprechen kann. Aber auch das, was tröstet und Mut macht. Für den jungen Mann war das so als ob seine verstorbene Oma ihm jetzt über die Schulter schauen und ihn trösten würde. Als würde sie sagen: „Schau, den Abschied von mir, so traurig dich das auch gemacht hat, den hast du mit der Zeit ganz gut hinbekommen. In Gedanken bin ich an deiner Seite.“
Auch wenn jede Trauererfahrung anders ist: Wir stehen nie nur am Grab EINES Menschen; und von jedem Grab nehmen wir etwas mit, was die Seele darin übt, mit dem Verlust umzugehen. Und das kann helfen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41527„Lass es gelingen, Gott!“ Das ist das Stoßgebet des fünfzehnjährigen Felix Mendelssohn Bartholdy. Der war ein deutscher Komponist und lebte am Anfang des 19. Jahrhunderts. Von ihm stammt der berühmte Hochzeitsmarsch, der gerne bei Hochzeiten erklingt. Bei leidenschaftlicher Chorsängerin wie mir auch sehr bekannt: sein Oratorium Elias. Er war noch sehr jung, als er als Komponist schon erste große Erfolge hatte. Was mich sehr beeindruckt: Als er als 15-jähriger eine Symphonie komponiert hat, hat er oben auf das Notenblatt die Abkürzung L.e.g.G. geschrieben. Das bedeutet: „Lass es gelingen, Gott“.
Eigentlich ist das gar keine Widmung, sondern ein Gebet. Dem jungen Komponisten mag es durch den Kopf gegangen sein, dass er selbst es nicht wirklich bestimmen kann, was aus seiner Komposition wird. Ob sie gut klingt; ob die Zuhörer sie mögen; ob seine Lehrer sie akzeptieren. Vor allem aber: ob sein Werk der Ehre Gottes dient. Mendelssohns großes Vorbild war nämlich Johann Sebastian Bach. Und der hat seine Musik vor allem zu Gottes Ehre geschrieben.
Soli deo Gloria – allein Gott die Ehre. Das hat Bach immer auf seine Notenblätter geschrieben. Mendelssohn hat seinem großen Vorbild nachgeeifert. Und hat gleichzeitig seinen Erfolg noch deutlicher in die Hände Gottes gelegt: „Lass es gelingen, Gott.“
Manches kann man als Komponist gewiss lernen und trainieren. Manches ist aber auch vom Zeitgeist abhängig und von vielem anderen, was man nicht beeinflussen kann. Mich beeindruckt, dass das Felix Mendelssohn Bartholdy offenbar schon mit fünfzehn Jahren bewusst gewesen ist und dass er sich deswegen Gott anvertraut hat.
Später hat Mendelssohn seine Widmung geändert und hat auf seine Kompositionen die drei Buchstaben „H.d.m.“ geschrieben.
Hdm – Hilf du mir. Anscheinend ist seine Beziehung zu Gott immer persönlicher geworden. Felix Mendelssohn Bartholdy war als Künstler sehr begabt und sehr erfolgreich. Aber er hat das offenbar nicht einfach sich selbst zugeschrieben, seinem Fleiß oder seinem Können, sondern auch Gottes Hilfe. Komponieren wollte er zu Ehren Gottes.
Ich finde, diese Haltung spürt man, wenn man seine Musik hört.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41526Der Tag gestern heißt in der kirchlichen Tradition Mariä Lichtmess und ist das offizielle Ende der Weihnachtszeit. Auch für mich. Und mein Lichterkettenwirrwarr. Seit gestern steht meine Kiste mit den Christbaumkugeln und der Lichterkette nun endlich wieder auf dem Dachboden. Die übrige Weihnachtsdeko habe ich schon längst aufgeräumt. Aber was ich immer bis zum letzten Moment hinausschiebe, ist das Aufwickeln der Lichterkette. Die kommt zwar schon in der zweiten Januar-Woche grabsch grabsch vom Baum runter.
Aber das ordentliche Aufwickeln muss dann noch eine Weile warten – bis Mariä Lichtmess. Die Lichterkette und ich, wir verwickeln uns jedes Jahr aufs Neue in ein nahezu hoffnungsloses Durcheinander, und die Lichter der Weihnacht verwandeln sich in ein lästiges Kuddelmuddel. Ich habe mir schon kleine Lehrfilme im Internet angeschaut und versucht, damit zu kapieren, wie man so eine Lichterkette daran hindern könnte, sich zu verwirren. In dem Lehrfilm sieht das immer ziemlich einfach aus. Im wirklichen Leben ist das Einpacken der Lichterkette vom Weihnachtsbaum für mich jedes Jahr ein Geduldsspiel.
Das passt für mich zu dem, was ich aus der Weihnachtszeit mit in den Alltag herübernehme: Das Glitzern und Leuchten von Lichterketten und Christbaumschmuck ist stimmungsvoll und freundlich.
Aber so richtig komplett wird es doch erst dadurch, dass es gelingt, die Stimmung mitzunehmen und geduldig zu entwirren, was sich nach Weihnachten wieder als kompliziert herausstellt. Das gilt für das Alltagsleben im Allgemeinen und für meine Lichterkette im Besonderen.
Es kann schon mal eine Stunde dauern, bis ich die Kette endlich einigermaßen gleichmäßig aufgewickelt und in der Kiste verstaut habe. Und eine Zeitlang habe ich dann das Gefühl, dass ich jetzt etwas von der aufgeräumten und feierlichen Weihnachtsstimmung in den Rest des Jahres mit herübergerettet habe.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41525„Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“ sagte die alte Frau. Dieses Gespräch liegt einige Jahre zurück, aber ich werde es nie vergessen. Sie hat mir erzählt, dass sie endlich den Mut hatte zu einer speziellen Traumatherapie. Und trotz ihres Alters hat sie diese Therapie versucht. Danach hat sie sich so viel leichter und glücklicher gefühlt. „Zum ersten Mal in meinem Leben“ sagte sie. Und noch einmal: „Warum bloß habe ich das nicht schon früher gemacht?“
Ach, was sollte ich darauf sagen? Sie hat eine Menge unternommen in ihrem langen Leben, um die Gespenster ihrer Kinderjahre loszuwerden. Schlimme Erfahrungen in der Familie, die sich eingebrannt haben in ihre Seele und ihre Erinnerungen. Und vieles von den Hilfen, die sie sich gesucht hat, hat ihr auch geholfen. Sie hat sich weiterentwickelt, weitergesucht, aber trotzdem auch weitergelitten. Sie war eine fromme Frau, und ihr Glaube hat ihr auch sehr geholfen. Immer. Und trotzdem blieben da quälende Erinnerungen an diese frühen Verletzungen. Auch als ältere Frau konnten die ihr ganz überraschend immer wieder den Boden unter den Füßen wegreißen.
Aber dann hörte sie von neueren Methoden der Therapie traumatischer Erfahrungen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal eine Therapeutin zu suchen. Sie hat den Mut gehabt, sich noch einmal mit ihrer Seele und ihrem Leben auseinanderzusetzen. Und da ist auf einmal ein ganz neues Lebensgefühl entstanden. Weil sie in der Therapie geübt hat, wie sie besser mit den Gespenstern in ihrer Seele umgehen kann. Von da an fühlte sie sich wohler. Und freier.
Und man konnte es sehen in ihrem Gesicht, in den Augen, in der Körperhaltung. Diese Entwicklung mitzuerleben war auch für mich wie Weihnachten und Ostern zusammen. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Inzwischen ist diese Frau verstorben. Aber ich hüte ein Geschenk von ihr, eine kleine Figur, die mir kostbar ist. Die erinnert mich an diese Frau. Und sie erinnert mich daran, dass es nie zu spät ist, sich mit den Abgründen in der eigenen Seele auseinanderzusetzen. Mit Gottes Hilfe und der Hilfe fachkundiger Menschen.
Und ganz kindlich denke ich: Auch Gott hatte seine Freude daran, sie so neu zu erleben!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=41437Zeige Beiträge 1 bis 10 von 3197 »