SWR4 Abendgedanken
Mit ein paar alten Fotos sitzen wir im Auto, mein Bruder und ich. Auf meinem Schoß liegt eine Papierlandkarte von Polen; ein paar Orte habe ich eingekreist. 850 Kilometer liegen vor uns. Es ist Frühsommer 2024 und wir zwei sind aufgebrochen in ein fremdes Land; um ein Stück Familiengeschichte zu suchen. Wir haben keine Ahnung, was wir davon noch finden werden und was uns dort genau erwartet. Das kleine Dorf Miedzichowo ist unser erster Halt. 1945 stand auf dem Ortschild noch der Name „Kupferhammer“.
Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, da mussten alle Deutschen das Dorf verlassen und wurden vertrieben. Polen aus dem Osten wurden dahin umgesiedelt. Meine Mutter gehörte zu den Flüchtlingen, meine Oma, der Uropa, die ganze Familie. Wie so viele, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten gelebt haben, mussten auch sie ihr Elternhaus zurücklassen und fort aus der Heimat. Aufbrechen zu einem unbekannten Ziel.
Wir sind angekommen in Miedzichowo und laufen die Dorfstraße entlang. Es ist ein schönes Dorf. Mit einem neuen Dorfplatz, die Fassade der Kirche ist gestrichen. Einen kleinen Laden gibt es auch. Und dann klingeln wir am Elternhaus meiner Mutter. Wir haben es tatsächlich gefunden, es steht noch! In diesem roten Ziegelsteinhaus ist sie 1942 geboren. Ein Pitbull kläfft am Zaun, eine ältere Frau kommt raus und mustert uns. Ihr Sohn kommt dazu, von oben bis unten tätowiert. Sie sprechen kein Englisch oder Deutsch, und wir kein Polnisch. Über den Gartenzaun rüber zeigen wir den beiden unsere Fotos. Unsere Mutter ist darauf zu sehen, vor genau diesem Haus. 1984 stand sie da, hat geklingelt - aber keiner hat aufgemacht.
Die Frau und ihr Sohn schauen die Fotos an. Mit Hilfe des Google-Übersetzers werfen wir ein paar Worte übers Gartentor: Mama hier zuhause, Opa Bäcker, Backstube hinterm Haus, drei Kinder, vertrieben nach dem Krieg.
Dann sperrt der Sohn den Pitbull ein und die Mutter öffnet uns die Türe. Wir stehen derjenigen gegenüber, deren Vater 1946 in dieses Haus eingezogen ist. Wenige Monate, nachdem unsere Familie aus Kupferhammer fliehen musste. Die ältere Frau schaut uns an und fragt schließlich: „Kaffee?“
Es ist Platz am Tisch auf der Terrasse für beide, die Einheimischen und die Gäste, die Besitzer des Hauses und für uns, die Nachfahren der Eigentümer. Und für den Geist Gottes. Denn den spüre ich da, wo alte und neue Wege zusammenkommen. Wo es um Frieden und Versöhnung geht, wo die Angst schwindet und wo Menschen sich verständigen.
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