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10DEZ2023
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Wie feiern Sie heute Advent? Mit Adventskranz und Kerzen, mit Weihnachtsmusik und Gebäck? So schön das auch ist, eigentlich braucht es nicht einmal das. Jesus sagt zum Advent: „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Luk 21,28)

Einfach mal das Kinn und den Kopf heben, aufatmen, aufsehen. Gott kommt auf mich zu, so verstehe ich den Advent. Hoffnung und Hilfe ist schon unterwegs.

Und das haben wir gerade jetzt so nötig. Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sie denn so umtreibt und was sie sich im Advent wünschen. Alle haben über Stress geklagt. Und dass ihnen gerade vieles große Sorgen bereitet. „Seit Corona gibt es Wolken“, hat es einer auf den Punkt gebracht, „und die Wolken verziehen sich nicht mehr“.

Ein anderer hat gesagt: „Im Trubel dieser Tage klingen keine süßen Glocken.“ Er aber sehne sich nach einem Advent, der Menschen anrührt, und sie auf Weihnachten vorbereitet. Es gehe doch „um einen mutmachenden Ton, der sich verbreiten kann“.

Mir ist dabei klar geworden, dass auch ich oft ganz andere Töne verbreite, unter vielem stöhne, statt aufzusehen und selbst ein Adventsbote zu werden.

Dabei ist mir das früher ganz gut gelungen, und es hat mir Freude gemacht. Vor einigen Jahren habe ich mich mit der Kirche sogar aufs Glatteis gewagt, um Menschen den Advent nahezubringen. Mit einer aufblasbaren Kirche sind wir am Sonntagmorgen ins Heilbronner Eisstadion, die Kolbenschmidt-Arena gegangen. Und mitten unter den Leuten, die zum Schlittschuhlaufen gekommen waren, haben wir auf dem Eis die aufblasbare Kirche aufgestellt.

Über die Lautsprecher haben wir sogar Glocken läuten lassen. Es waren die des Petersdoms in Rom. Und jedes Mal, wenn das Eis aufbereitet wurde, haben wir sie läuten lassen und zu Kurzgottesdiensten und Gesprächen eingeladen.

Es war beeindruckend zu erleben, wie viele Menschen auf der Suche nach dem echten Advent und Weihnachten waren. Ein junger Mann sagte: „Klasse, dass ihr da seid. Ich brauch das.“ Ein Junge mit Migrationshintergrund, er war etwa 10 Jahre alt, wollte mir unbedingt ein Jesuslied vorsingen, dass er gelernt hatte: Hallelu, Hallelu, Hallelu, Halleluja, preiset den Herrn...
„Kirche sollte viel öfter mitten ins Leben hineinkommen“, sagte ein anderer Mann und er meinte das sehr ernst. Eine Frau, die vor Jahren sehr harte Enttäuschungen erlebt hatte, auch mit der Kirche, sagte mir: „Ich will wieder neu anfangen. Das Beten und Singen heute hat mir Mut gemacht, es gibt mir etwas.“ Und ich habe gelernt, dass es manchmal nur einen kleinen Anstoß braucht, damit es Advent wird und Menschen den Mut finden, um den Kopf zu heben und aufzuatmen – auch ganz ohne Adventskranz und Gebäck.

Auf der Eisfläche fiel mir etwas auf, was ich bisher nicht so beachtet hatte. Wenn die Schlittschuhläufer über die glatte Oberfläche fahren, ziehen sie tiefe Rillen hinein, an manchen Stellen sogar richtige Furchen und wenn einer hart bremst, bleiben sogar Löcher im Eis. Und es sammelt sich der Eisstaub, fast wie Schnee backt er zusammen, bildet richtige Brocken und kleine Hindernisse. Die Läufer haben, bevor das Eis wieder neu aufbereitet wurde, fast nur noch nach unten und auf die Stolperfallen gestarrt, um ja nicht hinzufallen.

Als ich das beobachtete, wie die Schwünge vorsichtiger gefahren wurden und die Köpfe mehrheitlich gesenkten waren, dachte ich: So geht es auch vielen von uns. Böse und enttäuschende Erfahrungen ziehen Furchen und Rillen ins Leben, es wird immer holpriger, voller Schrunden und Unebenheiten, voller Wunden und Hindernisse.

Auch ein Leben kann holprig und schwierig werden. Da braucht es Menschen, die trösten und zuhören, die ermutigen und helfen, die heilen und begleiten, die helfen, dass man den Kopf wieder heben und aufsehen kann. Weil so die Lebensbahn auch wieder geglättet und bereinigt wird. Manchmal braucht es einfach einen ersten Schritt, eine freundliche Geste, eine Ermutigung, weil jemand allein nicht mehr hören oder gar beten oder singen kann. Weil die Hoffnung auf Gott verschwunden ist.

Im tiefsten Inneren warten viele nur darauf, dass sich etwas tut in ihrem Leben. Dass sich ein sicherer Weg auftut, ohne Furchen und Löcher. Aber sie können es nicht mehr glauben. Deshalb kommt Gott, kommt Jesus auf uns zu. Und deshalb bin ich, sind Sie gerufen auf andere zuzugehen, um den Advent ins Leben dieser Menschen zu bringen. Und sei es in einer aufblasbaren Kirche wie damals in dem Eisstadion.

Auch ein Adventskranz, Kerzen und Gebäck können das. Aber eigentlich geht es auch ohne, denn Jesus sagt zum Advent: Los jetzt. Es hat längst begonnen. „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Seht auf, lasst Euren Horizont weiten. Ich habe mich längst aufgemacht. Auch wenn Ihr selbst festsitzt, ich komme auf Euch zu, um Euch zu helfen. So verstehe ich Jesus.

Das wünsche ich Ihnen, ja uns allen, dass wir in dieser Adventszeit neu glauben, aufatmen und aufsehen – und Gottes Segen und Hilfe erleben.

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03DEZ2023
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Hoffnungszeichen

Der heruntergekommene Gott

Heute ist der erste Advent; in drei Wochen feiern wir Weihnachten. Ich bin aber noch gar nicht recht in Stimmung. In den Kirchen höre ich vom Gott des Friedens, den ich feiern soll – aber weltweit schlagen sich Menschen die Köpfe ein. Die Werbung sagt mir, was für tolle Geschenke ich kaufen kann – dabei haben so viele Menschen nicht mal das Nötigste zum Leben. Überall wird es vor Weihnachten gemütlich und heimelig – doch so viele sind einsam. Das passt nicht zusammen.

Vielleicht hilft es, nochmal genauer über Weihnachten nachzudenken. Da feiern wir, dass Gott „heruntergekommen“ ist. Ich mag so doppeldeutige Worte, denn die machen oft etwas klar: Gott ist heruntergekommen, bildlich gesprochen vom Himmel auf die Erde. Aber Gott ist auch in dem Sinn „heruntergekommen“, dass er auf Glanz und Gloria verzichtet. Er lässt sich voll und ganz auf die Probleme des Lebens ein. Das fängt schon bei seiner Geburt an: Es wird erzählt, dass Josef seine Frau Maria verlassen will, als die schwanger wird; denn das Kind ist nicht von ihm. Jesus wird im Stall geboren, in völliger Armut. Und kurz nach der Geburt muss die Familie fliehen, denn Herodes hat Angst um seine Macht und lässt alle Kinder töten. So geht es auch später weiter: Jesus umgibt sich mit dem Elend seiner Zeit, den armen, kranken und ausgegrenzten Menschen.

Es sieht so aus, dass Gott die dunklen Situationen des Lebens tatsächlich kennt. Aber er wischt sie nicht einfach weg. Dass alles gut wird, verspricht er für später, auf das Ende des Lebens hin. Hier und jetzt sorgt er nur immer wieder für Lichtmomente in all dem Dunkel, für so kleine Happy Ends: Maria und Josef droht die Trennung; aber Josef läuft nicht weg. Er steht zu seiner Frau und gründet mit ihr eine Patchwork-Familie. Dass Maria ihr Kind nicht auf der Straße gebären muss, verdankt sie einem Wirt, der ihr seinen Stall überlässt. Der ist zwar armselig, strahlt aber durch die Menschen, die dort sind: Maria und Josef, die Hirten und die Könige. Wie diese Menschen miteinander umgehen, lässt den Schauplatz nebensächlich werden und verleiht ihm sogar einen gewissen Glanz. Auch die Flucht übersteht die Familie unbeschadet, denn Gott steht ihr bei.

Ich kann nicht sicher sagen, ob die Geburtsgeschichte Jesu damals genau so passiert ist. Aber denen, die sie aufgeschrieben haben, sind diese kleinen Happy Ends wichtig. Denn sie zeigen das Programm für das spätere Leben Jesu: er steht Menschen bei, hilft ihnen und holt sie aus der gesellschaftlichen Isolation heraus. Er schafft das Elend nicht ab. Aber er vertreibt ein bisschen von dem Dunkel, das ihm begegnet.

Ich glaube, darum geht es an Weihnachten: zu feiern, dass es Hoffnung gibt und das Dunkel am Ende nicht überwiegt. Ich bin vielleicht noch nicht ganz in Weihnachtsstimmung. Aber ich glaube, ich bin zumindest gut im Advent angekommen: mit jeder Kerze, die ich auf dem Adventskranz anzünde, und mit jeder Lichterkette, die ich ins Fenster hänge, mache ich mir klar, dass Gott da ist und dass er die Welt heller macht – damals und bestimmt auch heute.

 

Gott ist da, wo ich den Himmel greifen kann

Advent heißt, sich auf Weihnachten einzustimmen. Für mich bedeutet das in diesem Jahr vor allem, genau hinzuschauen und nach Spuren zu suchen, wie Gott heute da ist. Davon habe ich eben in meinen Gedanken zum ersten Advent erzählt.

In der Bibel wird berichtet, wie die Leute Jesus einmal danach fragen, wann Gott endlich das Dunkel und das Leid aus der Welt beseitigt. Er antwortet darauf: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Lk 17,21) Darin steckt für mich ein Hinweis, wonach ich suchen muss: das Reich Gottes ist ein großes Wort. Für mich heißt es einfach „Himmel“ und meint alles, was mir und wahrscheinlich auch anderen guttut: Ich will ernstgenommen und respektiert werden; angenommen sein, so wie ich bin, und nicht alleine, wenn ich mal Hilfe brauche. Ich will leben können ohne Angst und Sorgen und das gerne in einer gesunden Umwelt. Das heißt aber doch: Gott ist da, wo immer der Himmel für mich und andere greifbar wird. Man kann ihn spüren, wo immer jemand etwas dafür tut, dass all das wirklich wird.

Solche Menschen gibt es. Ich habe in den letzten Tagen sehr konkret nach ihnen gesucht, zusammen mit meinen Kollegen. Wir verschicken zu Weihnachten eine Grußkarte unter dem Leitwort: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Sie zeigt die 13 Kirchengemeinden, für die wir zuständig sind, und dazu 13 Porträts von Personen, die dort leben und die Welt dort ein wenig heller machen. Es ist unglaublich, wie bunt diese Karte geworden ist:

Alfred zum Beispiel; er verschenkt Zeit an Menschen, denen nicht mehr viel Zeit bleibt; er begleitet sie auf ihrem letzten Weg bevor sie sterben. Marlene betreut Menschen, die krank, behindert und nicht mehr in der Lage sind, für sich selber zu sorgen; sie geht für sie aufs Amt, ins Gericht oder zur Krankenkasse. Marcel ist nachts ansprechbar, wenn obdachlose Menschen etwas brauchen. Anja ist Familienpatin; sie bastelt und spielt mit Kindern, wenn deren Eltern das nicht können. Harald verlegt in seinem Wohnort so genannte „Stolpersteine“ und erinnert daran, was die jüdischen Mitbürger dort durchmachen mussten. Andere halten ältere Menschen mit Gymnastik fit, verkaufen fair gehandelte Waren oder tun etwas für die Umwelt.

Es heißt ja: an Weihnachten berühren sich Himmel und Erde. Für mich ist es in diesem Jahr zu wenig, einfach nur Lichter anzuzünden, das Haus zu schmücken und an das zu denken, was damals in Betlehem passiert ist. Ich nutze den Advent, um Spuren zu suchen, wo Menschen anderen Mut machen. Wo sie ihnen Hoffnung geben, weil sie sie wertschätzen und mit dem Päckchen, das sie tragen müssen, ernstnehmen. So wie Alfred und Marlene, Anja und die anderen. Und Advent heißt für mich am Ende auch zu schauen, wo ich vielleicht mein eigenes kleines Licht anzünden könnte, durch das Gott hier und heute ankommen kann.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten ersten Advent.

 

 

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26NOV2023
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Als Studentin war ich viel spazieren, um meine Gedanken zu sortieren. Oft hat es mich auf den verwunschenen Friedhof gezogen, der ganz in der Nähe war. Dort konnte ich meine Gedanken sortieren. Am Anfang war mir dabei noch etwas seltsam zumute. Heute mag ich Friedhöfe. Ich mag diese besondere Stille, die alten Bäume und die langen Alleen. Am Eingang jenes Friedhofs steht ein großer Torbogen. Dort sind Worte aus der Bibel zu lesen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Heute am Ewigkeitssonntag gedenken wir in der evangelischen Kirche der Menschen, die im vergangenen Jahr gestorben sind.

Die Wege auf dem Friedhof können lang sein. Für die Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, ist es ein schwerer Weg von der Trauerhalle zum Grab. Jetzt wird es endgültig: der Sarg mit Omi, mit dem Ehemann, mit der Tochter, mit dem Freund wird begraben. Die Arbeitskollegin kommt nie mehr wieder, der Platz des Klassenkameraden bleibt leer, die Nachbarin winkt nicht mehr vom Zaun rüber. Auf diesem Weg fließen viele Tränen. Als Pfarrerin habe ich unzählige Male Menschen auf diesem Weg begleitet. Egal, ob es brütend heiß war oder ob es aus Kübeln geregnet hat, wenn ich als Pfarrerin diesen Weg gegangen bin, war das für mich oft ein sehr nachdenklicher Moment, fast meditativ. Als Pfarrerin gehe ich den Weg zwischen dem Toten im Sarg oder in der Urne und den Lebenden.

Oft ist mein Blick auf die Grabsteine rechts und links vom Weg gefallen. Auf Blitzlichter von gelebtem Leben. Auf dem Friedhof drängt sich mir die Endlichkeit meines Lebens auf. Wenn ich an Grabsteinen vorbeigehe mit einem Geburtsjahr, das nach meinem eigenen liegt, berührt mich das besonders. Wie werde ich einmal sterben? - Wird da jemand sein, der meine Hand hält? Beim Weg an den Gräbern entlang hatte ich oft noch die Worte aus dem letzten Buch der Bibel im Ohr, die bei der Trauerfeier gelesen wurden: 

Gott wird bei den Menschen wohnen ... und wird ihr Gott sein;
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Diese Aussichten aus der Offenbarung des Johannes verändern meinen Blick auf die Vergänglichkeit. Wenn das Erste vergangen ist, dann wird Gott selbst den Trauernden die Tränen von den Augen wischen. Das hat mich oft getröstet.

Auf dem Friedhof und in diesen Novembertagen wird mir neu bewusst, dass mein Leben endlich ist. In der Bibel lese ich die Verheißung, dass Gott am Ende des Lebens auf uns wartet. Am Ende aller Tage wird der Tod nicht mehr sein und auch Leid, Geschrei und Schmerz werden ein Ende haben.

Im letzten Sommer bin ich den Weg von der Trauerhalle zum Grab anders gegangen. Betäubt und wie unter einem Schleier. Wir haben meinen Vater zu Grabe getragen. Dass er in diesem Jahr sterben würde, das hatten wir vor einem Jahr noch nicht kommen sehen. Wenige Tage vor seinem Tod habe ich ihn nochmal besucht. Dass es ein Abschied für immer würde, das habe ich nur sehr leise geahnt.

Die tröstlichen Worte der Pfarrerin drangen kaum in meine Seele. Die Musik hörte ich nur von Ferne. Ich sah vor mir den Sarg stehen, die Kränze und die Blumen, die wir als Familie ausgesucht hatten. „Befiehl du deine Wege“ haben wir gesungen und ich habe all meine Sehnsucht nach Halt in dieses Lied gelegt. Der Weg zum Grab fühlte sich so falsch an. Dass mein Vater da nun in die Erde versenkt wurde, dass sein Name auf dem Holzkreuz stand – all das fühlte sich so falsch an.

Heute, am Ewigkeitssonntag, wird auch der Name meines Vaters im Gottesdienst verlesen. Ich werde eine Kerze für ihn anzünden in einer Kirche, mir Zeit nehmen für die Erinnerung an ihn. Und ich denke dankbar an den Freund, der mir in den Tagen nach dem Tod meines Vaters täglich ein Bild schickte mit einer Kerze, die er für meinen Vater und für mich angezündet hatte. Das hat mich getragen. Wie die anderen behutsamen Zeichen von Nähe im richtigen Moment. WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Umarmungen. Es hat mich getragen, dass ich wusste und gespürt habe, dass Freundinnen und Freunde an mich gedacht haben und für mich gebetet haben.

Die Erinnerung heute, der Tod im Sommer und die Tränen, die sich manchmal unvermittelt ihren Weg bahnen – das alles ist leise und still.

Wieder habe ich die Worte aus der Bibel im Ohr: Und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. In dieses Bild lasse ich mich gern hineinfallen, wenn ich wieder einmal im freien Fall bin. Ich brauche die anderen, die mir sagen, dass sich Gott mir einmal behutsam zuwendet und eigenhändig die Tränen von den Augen und Wangen wischt. Behutsam und liebevoll. Die meine Hoffnung hochhalten, dass Gott die Tränen der Verzweiflung und der Trauer sieht, die durchweinten Nächte und meine zerkratzte Seele.

Irgendwann einmal werden die Spuren von Leid und Geschrei, von Schmerz und Wunden nicht mehr sein. Gott wird meine Seele heilen. Dann wird der Schmerz über die Abbrüche und Abschiede in meinem Leben nicht mehr sein. Ja, Gott selbst wird einmal einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Bis es so weit ist, muss ich mich meiner Tränen nicht schämen. Nicht auf dem Friedhof und auch sonst nirgends. Gott wischt sie eigenhändig ab. Auch heute, wenn ich so ganz anders als sonst über den Friedhof gehe.

Ich wünsche Ihnen einen tröstlichen Sonntag und eine gesegnete Woche.

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19NOV2023
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Lebe jeden Tag

Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter. Der Satz hat mich immer geärgert. Es wäre nämlich vor allem ein trauriger Tag. Denn an meinem letzten Tag würde ich viele Dinge einfach lassen. Dinge, die das Leben reich und schön machen. Ich würde keine Urlaubspläne mehr schmieden, keine Besuche planen, keins von den Büchern mehr anfangen, die sich bei mir im Regal stapeln, keinen Radiobeitrag mehr schreiben. Wenn heute mein letzter Tag wäre, würde ich vieles von dem lassen, was ich mir schon so lange vorgenommen habe: Endlich die ganzen alten Unterlagen ausmisten, die ich warum auch immer aufgehoben habe, Joggen gehen, die Fliese im Bad austauschen, die zersprungen ist. An meinem letzten Tag hätte ich sicher Angst. Wäre wütend. Würde vielleicht unbedingt noch so vieles klären wollen. Keine richtig schöne Vorstellung.

Jetzt könnte man sagen: Der Satz ist ja ganz anders gemeint. Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter, das meint: Lebe intensiv, tue heute, was dran ist. Vertrösten und Verschieben gilt nicht. Versöhn dich heute und lass den Streit. Räume dein Leben so auf, dass du tatsächlich jeden Tag gehen kannst.

Dafür reicht aber auch eine alte Weisheit aus. „Nutze den Tag.“ Der Satz bringt auf den Punkt, um was es eigentlich geht. Dass ich jeden Tag und seine Chancen wahrnehme. Dass ich meine ja ziemlich begrenzte Lebenszeit gut gestalte. Dass ich ganz praktisch, durch das, was ich tue und sage, was ich lasse und denke, eine Antwort auf die Frage gebe: Was mache ich eigentlich aus meinem Leben?

„Carpe diem“ haben dazu die alten Römer gesagt. „Pflücke den Tag“, heißt das wörtlich übersetzt. Ein wundervolles Bild. Es macht deutlich: Jeder Tag liegt wie eine Blüte oder wie ein ganzes Sonnenblumenfeld vor mir. Voller Farbe, Licht und Duft. Den Tag zu pflücken heißt in diesem Bild: Den Tag zu ergreifen wie eine Blume, die mein Leben bunt macht. Den Tag zu sehen mit all seinen Blüten und Wundern und Sonnenstrahlen und Herbstgewittern. Da ist es dann egal, ob dieser Tag nur irgendeiner oder tatsächlich mein letzter ist. Wichtig ist nur, dass ich mich auf diesen einen Tag heute konzentriere. Damit er wie eine Blume vor mir seine Blütenblätter öffnet.

                                                

Gegen die Angst

Nutze den Tag. Mehr als nur ein Kalenderspruch. Ein Satz, der das Leben reicher macht. Darum geht es heute in den Sonntagsgedanken in SWR 4.

Nutze den Tag. Was dieser Satz meint, kann eine biblische Geschichte deutlich machen. Da ist ein reicher Mann, der sich auf eine Reise macht. Vorher ruft er seine Angestellten zu sich. Ihnen vertraut er einen Teil seines Vermögens an. Sie sollen mit dem Geld wirtschaften. Der eine legt das Geld riskant an, investiert in neue Unternehmen. Dank Glück und Geschick verdoppelt er ziemlich schnell das Geld. Ein anderer ist vorsichtiger. Aber auch er verdoppelt das Geld seines Arbeitgebers. Der dritte hebt alles von der Bank ab und verwahrt es sicher in einem Tresor. Als ihr Chef zurückkommt, wird abgerechnet. Von seinen ersten beiden Angestellten ist er begeistert. Der dritte dagegen erklärt: „Ich hatte Angst, das Geld zu verlieren. Angst vor dir. Aber zum Glück ist ja alles noch da.“

Ich hatte Angst. Das kenne ich auch. Die Angst, dass etwas schief geht. Angst, dass ich was falsch mache. Angst, dass hinter meinem Rücken über mich geredet wird. So eine Angst lähmt. Und dann tue ich nichts, nur damit nichts passiert. Da geht es mir wie dem dritten Mann.

Die Geschichte macht aber auch klar: Mit Angst, da kann ich nichts gewinnen. Ich will dem dritten Angestellten zurufen: Nutze den Tag. Mach was aus deinen Möglichkeiten. Und davon gibt’s es ja tatsächlich viele. Mit dem Geld kann der Mann was Sinnvolles kaufen. Oder auch alles spenden, Gutes damit tun. Denn offensichtlich verfügt sein Chef ja über genug Geld. Das wäre mal eine starke Aktion.

Mich fordert das auf, dass ich nach Möglichkeiten suche, aus Wenigem etwas zu machen. Aus wenig Geld, wenig Zeit, wenig Energie. Denn die tausend Situationen und Begegnungen, die tagtäglich da sind, die kann ich am Schopf packen. Kann etwas Gutes daraus machen. Auf dem Parkplatz ein paar Worte mit Bekannten wechseln, auch wenn ich es eilig habe. Meiner Frau eine Tafel Schokolade mitbringen, einfach so. Auf der Brücke mein Fahrrad anhalten und die Spiegelung im Wasser bewundern. Beim Telefongespräch mutig sein und ehrlich sagen, wie es mir geht.

Der Tag ist mir geschenkt, so wie in der Geschichte die drei Angestellten Geld bekommen. Es liegt auch an mir, etwas daraus zu machen.

Zu Mt 25, 14–30

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12NOV2023
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Wale beeindrucken mich. Buckelwale, Schweinswale oder die unfassbar großen Pottwale. Die hätte ich gerne einmal aus der Nähe gesehen. Im Sommer war ich dann endlich mal im Deutschen Meeresmuseum Ozeaneum in Stralsund. In einer großen Halle hängen Wale in Lebensgröße und aus den Lautsprechern erzählt eine Stimme ihre Geschichte. Immer wieder dröhnt das Heulen der Wale an die Ohren der Zuhörenden.

Plötzlich lärmen die Lautsprecher. Schiffsschrauben, Sonare und Baggerarbeiten sind lauter als die Wale. So muss es sich für sie unter Wasser anhören, und weil die Tiere der Lärm stresst, ziehen sie sich zurück. Für die Fortpflanzung kann der Lärm katastrophale Konsequenzen haben: Wenn sich ein Walbulle und eine Walkuh nicht mehr rufen können, wird es nichts mit der Paarung.

In den evangelischen Kirchen wird heute über ein paar Sätze des Apostels Paulus nachgedacht. Der hat sinngemäß geschrieben: Tiere, Pflanzen und Menschen seufzen, weil sie sterblich sind und fühlen, dass ihr Leben bedroht ist. Da dachte ich: So gesehen, klingen die Rufe der Wale wie langgezogene Seufzer. Ich bin nicht Dr. Dolittle; aber ein Teil von mir, versteht, was sie sagen: Es ist zu laut hier im Meer.

Und ich bin nicht der einzige, der ab und an die Sprache der Tiere versteht. Ein Mann hat mir mal von seinem Kater erzählt. Der hat sich jeden Tag morgens in einer Acht um seine Beine geschmiegt. Immer hat er miaut. Eines Tages – der Kater war schon älter – hat er aufgehört zu miauen. Auch die Acht um die Beine ist immer mal ausgefallen. Der Kater hat geräuschlos geseufzt. Der Tierarzt hat dann festgestellt: Der Kater ist krank. Der Mann hat mir dann gesagt: Eines Tages hat er mir in die Augen geschaut und ich wusste: Mein Kater sagt tschüss.

Ich denke aber auch an einen Förster in der Nähe von Mainz. Er sitzt mit mir zusammen in einer ehrenamtlichen Umweltgruppe. Er hat gesagt: Der Wald hat Stress. Laub fällt zu früh ab, manchmal schon im Spätsommer. Und ich finde: Laub im Spätsommer; da ist doch jedes Blatt ein Seufzer, der direkt ins Auge fällt.

Der Apostel Paulus hat mit bemerkenswerter Scharfsicht hingesehen: Nicht nur der Mensch, auch Tiere und Pflanzen kommunizieren ihr Leiden ganz deutlich. In dieser Frage ist die Erde einig. Oder, um es religiös zu formulieren: Da ist die Schöpfung eins. Und Paulus sagt: Tiere, Pflanzen und Menschen leiden gemeinsam.

Mir tut der Gedanke, mit Tieren und Pflanzen verbunden zu sein, richtig gut. Noch besser muss ich sagen: mit den Tieren und Pflanzen gerade jetzt verbunden zu sein. Dieser Gedanke gibt mir Hoffnung. Dass Paulus sagt: Vor Gott sind wir alle „eins“ ist ein Ausdruck für Verbundenheit, und die fehlt gerade häufig.  Jedenfalls ist das mein Eindruck.

Wir Menschen neigen ja dazu, uns den anderen Lebewesen etwas nüchtern zuzuwenden. Wir zählen, messen, katalogisieren. Und das ist natürlich auch gut und wichtig, um zu verstehen, was uns umgibt. Aber dabei kann der Gedanke verloren gehen, dass alle Lebewesen auf der Erde – also auch die Menschen – gemeinsam Gottes Schöpfung sind.

Denn es verändert unser Sprechen und Denken. Ein Baum wirft mit den Augen der Menschen sein Laub ab, weil er sich auf Dürre einstellt. Mit den Augen Gottes wirft er jedes Blatt mit einem Seufzer ab, dass sein Leben so schwer ist. Ein Mensch sieht: Der Lärm der Maschinen verdrängt den Wal in ruhigere Gewässer. Gott sieht: Der Wal seufzt ein letztes Mal lang und bleibt allein.

Zu fühlen, dass Menschen, Tiere und Pflanzen vor Gott eine Schöpfung sind, hilft, die anderen Geschöpfe zu verstehen. Ja, mehr noch! Es trägt dazu bei, dass wir Pflanzen und Tiere als uns ähnlich erkennen. Weil wir gemeinsam vor einem Gott stehen. Das kann helfen, den Umgang mit der Natur zu ändern. Denn sie hat das gleiche Lebensrecht vor Gott wie der Mensch.

Ich glaube, Christinnen und Christen sind von Paulus dazu aufgerufen, dieses Gefühl zu genießen. Die Verbundenheit und die Natur zu genießen – in all unserer gemeinsamen Vergänglichkeit. Wir sind gemeinsam Gottes geliebte Geschöpfe. Und wir dürfen hoffen, dass auch all die Narben, die der Mensch ihr geschlagen hat, eines Tages von Gott geheilt werden.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag und ruhige Tage in der kommenden stillen Zeit.

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05NOV2023
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Viele werden die Bilder nicht mehr vergessen. Das entsetzliche, unmenschliche Massaker, das die Terrororganisation Hamas an unschuldigen Israelis angerichtet hat. Dazu Menschen, die das weltweit, auch in unserem Land, bejubeln und für gutheißen. Und jetzt sehen wir die Opfer des Krieges auf beiden Seiten; getötete, verletzte, flüchtende Menschen jeglichen Alters, die wahrscheinlich genauso in Frieden leben wollten wie jeder von uns. Aber wie soll das gehen?

Ein jüdischer Freund erzählt mir von seiner Trauer und seiner Wut, Wut auch auf die eigene Regierung, die sich mit anderen Dingen beschäftigt hatte als mit einer vernünftigen und entgegenkommenden Siedlungspolitik. Er sagt mir, es gibt nur einen Weg: „Wir müssen die Rechte jedes Menschen in unserem Land achten, niemand darf als Mensch zweiter Klasse behandelt werden und jeder hat ein Recht auf Heimat und Sicherheit.“ Und das sage er zu den Israelis genauso wie zu den Palästinensern.

Ich bin überzeugt, solche Stimme gibt es auch auf der anderen Seite. Nicht alle Palästinenser wollen die Juden ins Meer jagen, wie es die Hamas in ihrem Programm stehen hat, nicht jeder Palästinenser ruft „Allah ist groß“ und zündet dabei eine Rakete, nicht alle sind Feinde Israels. Aber offensichtlich finden diese versöhnlichen Stimmen kein Gehör. Sie gehen unter in einem festgefahrenen Freund-Feind-Denken. Da gibt es nur schwarz-weiß und entweder-oder. Aber so gibt es keinen Weg zur Verständigung.

Ich bin seit vielen Jahren regelmäßig in Israel. In diesen Tagen denke ich oft an einen Reiseleiter, der uns auf einer Pilgerreise begleitet hat. Er erzählte uns von einem Mann, der mit zwei Körben beladen vom Markt kam. Weil er müde war, setzte er sich auf die Treppe eines touristisch wichtigen Gebäudes. Und dann hört unser Reiseleiter wie ein Kollege zu seiner Gruppe folgendes sagt: „Seht ihr den Mann dort mit den zwei Körben? Schaut an ihm vorbei, und dann nach rechts auf diesen wunderbaren romanischen Bogen“. In diesem Augenblick, so sagte unser Reiseleiter, sei ihm deutlich geworden: „Die Erlösung kommt nur dann, wenn der antike Bogen nicht wichtiger ist als der Mann, der für seine Familie auf dem Markt eingekauft hat.“

Jeder einzelne Jude, Muslim, Christ ist ein Geschöpf Gottes, jeder will gesehen werden, mit seinem Namen anerkannt und geschätzt sein, jeder braucht einen Ort, wo er selbstbestimmt und frei leben kann. Das ist ein Grundbedürfnis, das nicht zu verhandeln ist und ohne das ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist.

 

Ich durfte im Sommer einen Monat lang bei den Benediktinern am See Genezareth wohnen, ganz in der Nähe, wo heute leider viele ihre Dörfer verlassen müssen, um sich vor den drohenden Angriffen der Hisbollah zu schützen.

Ich habe mich in dieser wunderbaren Landschaft noch einmal mit der Botschaft beschäftigt, die Jesus dort verkündet und den Menschen erlebbar nahegebracht hat. Und dabei ist mir deutlich geworden, wie sehr Jesus einzelne Menschen im Blick hatte und wie einfühlsam und konkret er auf ihre Bedürfnisse eingegangen ist.

Immer wieder wird erzählt, wie gelähmte, handlungsunfähige, blockierte Menschen zu Jesus gebracht werden. Er schaut sie an, gibt ihnen Mut und Vertrauen und löst sie aus ihrer Lähmung, so dass sie wieder gehen und auftreten und leben können. Anderen öffnet er den Weg zurück in die Gemeinschaft und beheimatet sie neu im Miteinander mit ihren Nachbarn und Glaubensgenossen. Bei Jesus gibt es keine Namenlosen und Abgeschriebenen und darum durchbricht er so oft gesellschaftliche und religiöse Barrieren. Er will den Menschen zeigen, dass sie bei Gott einen Namen haben und einzigartig geliebt sind. Er kämpft gegen Feindbilder und Vorurteile und wird richtig zornig, wenn Gott für eigene Interessen missbraucht und beansprucht wird.

Gott sei Dank treten immer wieder Menschen in seine Spur und versuchen sein großes Anliegen mitzutragen. Ich denke zum Beispiel an die deutschen Ordensfrauen in Jerusalem, die gastfreundlich Pilger aufnehmen und vor allem einen großen Kindergarten leiten, der besonders von christlichen und muslimischen Kindern besucht wird. So tragen sie von Anfang an dazu bei, dass die Kinder und ihre Familien einander kennenlernen und sich begegnen. Feindbilder können ja nur wachsen, wenn man nichts voneinander weiß und in seinen eignen Grenzen bleibt.

Auch die Benediktiner auf dem Berg Zion wollen für alle Menschen offen sein. Sie suchen den Dialog mit den anderen christlichen Kirchen aber genauso mit ihren muslimischen und jüdischen Nachbarn. Sie sehen und erleben jeden Tag den Reichtum dreier großer Religionen, merken aber auch, wie herausfordernd und anstrengend der Dialog untereinander sein kann. Und dennoch! Sie bleiben auf ihrem Posten. Und hoffen weiterhin, dass Feindbilder überwunden werden und Menschen sich jenseits aller Grenzen als Geschöpfe des einen Gottes erkennen, der ein Gott für alle ist.

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29OKT2023
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Es ist fast schon zum Ritual geworden. Im Krankenhaus, in dem ich als Seelsorger arbeite. Bevor ich am Abend nach Hause fahre. Mein Besuch bei einer alten Frau.

Im Auf und ab ihrer Altersschwäche begegnen wir uns seit Wochen. Immer will die Patientin nach unserem Gespräch ihr Lied hören. Singen kann sie es schon lange nicht mehr. Die Luft fehlt. Doch das Lied ist tief drinnen in ihrem Herzen. Seit Kindheitstagen ist es ihr vertraut. Es ist das Lied vom Mond. Der aufgegangen ist. Den Sternen und dem Himmel. Hell und klar. Von den Menschenkindern, dem kranken Nachbarn und den Luftgespinsten. Das Lied das dazu einlädt sich am Abend in Gottes Namen zum Schlafen niederzulegen. Mein Handy kann ihren Wunsch erfüllen. Ein großer Chor singt das Lied unüberhörbar. Nur für uns beide. Fremde Klänge sind das im eher lauten Krankenhaus. Jetzt am Abend kommt es etwas zur Ruhe.

Ich schaue in das faltige Gesicht der Frau. Letzte Sonnenstrahlen streifen es. Entspannt hört sie zu. Zufrieden. Mit halb geschlossenen Augen. Irgendwie daheim. Bis zur letzten Strophe. Dann lächeln wir beide uns an, sprechen ein kurzes Gebet und verabschieden uns. Bis morgen. Schlafen sie gut, sage ich. Das genügt ihr.

Wer ist eigentlich glücklicher nach unseren Begegnungen. Sie oder ich!? Ich glaube wir beide sind es gleichermaßen. Und was ist das Besondere an der Begegnung zwischen der alten Frau und mir?

Mein Besuch bei ihr tut mir gut. Das Lied vom Mond der aufgegangen ist gefällt auch mir. Ohne viele Worte findet mein Tag im Krankenhaus ein gutes Ende. Zufrieden und dankbar bin ich.

Ich und Du. So lautet der Titel eines 1923 erschienen Buches des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Im Anfang ist für Buber, den gläubigen Juden, nicht etwa Gott, oder das Wort, oder der Urknall. Im Anfang ist für ihn allein die Beziehung. Wirkliches Leben ist bei ihm immer Beziehung und Begegnung von ICH und DU, wie er sagt. In Abgrenzung zu einer distanzierten Haltung, die Martin Buber ICH und ES nennt. Denn wenn wir einem Menschen begegnen, können wir ihn auch für eigene egoistische Zwecke benutzen. Wir benutzen dann eine Beziehung nur, um etwas zu erreichen. All das beschreibt Buber als die ICH-Es Haltung.

Die ICH-DU Beziehung dagegen ist sehr anspruchsvoll. In dieser Beziehung begegnen sich Menschen unmittelbar. Hier will ich kein Ziel erreichen. Und verfolge auch keinen Zweck. Immer geht es um den Anderen in seiner Gesamtheit. Um seine Würde. Immer bleibt der Andere mir ein Geheimnis. Ohne Vorbehalt versuche ich mich in ihn hineinzuversetzen. In seinen Augen entdecke ich mich irgendwie selbst. Meine eigene Würde. Meine Sehnsucht nach Gesundheit. Nach dem Freund und der Freundin, die einfach nur da sind.

Immer wenn ich das Krankenzimmer der alten Frau verlasse bin ich dankbar und beschenkt. Das war so eine ICH-DU Begegnung, sage ich mir dann.

Mein Krankenbesuch am Abend. Seit Wochen schon. Fast ein Ritual. Die Begegnung mit der alten Frau. Heute wird im katholischen Gottesdienst ein Text aus der Bibel vorgelesen, der vielen Christen sehr vertraut ist. Auch dort geht es um Begegnung zum Nächsten. Um die Frage wie Beziehungen gelingen.  Erzählt wird wie ein frommer Schriftgelehrter zu Jesus kommt und ihm eine Frage stellt:  Welches Gebot bei all den vielen Gesetzen ist das Wichtigste? Jesus antwortet souverän: "Du sollst deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich bei Jesus nicht voneinander trennen. Sie sind für ihn zwei Seiten einer Medaille. Davon erzählt sein Leben uns Christen bis heute. Und auch für Martin Buber ist alles wirkliche Leben Begegnung. Begegnung zwischen Menschen und genau darin auch Begegnung mit Gott. Denn Gott ist für ihn, wie er sagt, das ewige DU. Gott, wie Buber ihn versteht, ist in allen liebevollen und wertschätzenden Begegnungen nämlich immer schon da. Er ist so etwas wie der Ursprung aller guten Begegnungen zwischen Menschen.

Vielleicht macht uns das im Krankenzimmer ja so dankbar und glücklich. Ohne es zu wissen, oder auszusprechen. In der allabendlichen Begegnung kommen wir uns nahe. Beim Lied. Im Gespräch. Beim Gebet zum Abschied. Uns und damit auch Gott. Dem ewigen Du.

Haben Sie viel Zeit für gute Begegnungen heute am Sonntag. Gott und Menschen nahe.

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22OKT2023
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„Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“ Das hat der Pfarrer bei meiner kirchlichen Hochzeit vor fast 30 Jahren vorgelesen. Der Satz steht in der Bibel. Jesus hat ihn in einem Streitgespräch mit Gelehrten gesagt. Die wollten von ihm wissen, ob ein Mann sich von seiner Frau scheiden lassen kann. Seine Antwort: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“

Nun, wir haben es nicht bis zur Silberhochzeit geschafft. Nach 24 Ehejahren haben mein Mann und ich uns getrennt, im 26. Jahr wurde unsere Ehe geschieden. Ich erinnere mich an den Termin beim Heidelberger Amtsgericht: eine ziemlich nüchterne Angelegenheit. „Sie sind ja beide noch jung“, meinte die Richterin zum Schluss, „und können noch einmal von vorn beginnen“. Das sollte wohl ein Trost sein. Ich war 52 und gehörte nun also auch zu denen, deren Ehe gescheitert war. Lange habe ich gedacht, dass mir das nicht passieren könnte. Schließlich hatten wir viele gute Jahre gehabt, drei Kinder bekommen und großgezogen, uns jahrelang einen Job geteilt und uns gegenseitig unterstützt. Und bei vielen kirchlichen Trauungen haben wir den Brautpaaren, die vor uns standen, diesen Satz vorgelesen: „Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.“

Dass die Wirklichkeit oft ganz anders aussah, haben wir natürlich auch erlebt. Auch in unserem Umfeld und Freundeskreis häuften sich im Lauf der Jahre die Scheidungen. Dass auch wir mit unserer Beziehung am Ende waren, keine Liebe mehr füreinander aufbringen konnten und nur noch wenig Verständnis, haben wir lange nicht wahrhaben wollen. Wir doch nicht! Wir hielten uns für Profis, mit allen Wassern gewaschen, immer noch trotz vieler Herausforderungen ein gutes Team, wenn es drauf ankam. Sich einzugestehen, was uns fehlte, tat weh, es voreinander auszusprechen, noch viel mehr, und schließlich zu merken, dass wir den Punkt verpasst hatten, an dem wir das Ruder noch einmal hätten herumreißen können und wollen, war schmerzhaft. Am Ende hat dann doch nicht der Tod, sondern der Tod unserer Liebe uns geschieden.

Und ich habe mich gefragt, ob ich mit meiner Scheidung nicht nur an meinen eigenen Ansprüchen, sondern auch an Gottes Gebot gescheitert bin. Ich meine: Nein. Denn der Satz „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“ steht noch in einem größeren Zusammenhang.

Wenn Jesus sagt: „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“, dann hat er nicht zwei Menschen vor dem Traualtar im Blick, sondern die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Dort wird nämlich erzählt, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat zu seinem Ebenbild. Mann und Frau sind also gemeinsam Gottes Abbild. Und sollen entsprechend miteinander umgehen. Dabei ist die Liebe das Größte, was Menschen erfahren und einander schenken können. Deshalb plädiert Jesus für die lebenslange Ehe als Schutzraum für diese Liebe. Aber Menschen scheitern mit ihren Ansprüchen und an ihren Versprechungen. Auch in ihren Beziehungen. Auch in der Liebe. Auch in einer Ehe. Deshalb lässt Jesus die Möglichkeit der Scheidung gelten - als Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes.

Ich habe zum Glück durch meine Scheidung keinerlei Nachteile erfahren und noch nicht einmal scheele Blicke geerntet. Aber es ist noch gar nicht so lange her, da war das auch in Teilen der evangelischen Kirche noch ganz anders. Da haben Kirchenvertreter verzweifelten Männern und Frauen den Beistand verweigert. Obwohl sie nach dem Vorbild Jesu doch gerade den Menschen nahe sein sollten, die unter ihrem Versagen und ihrer Schuld leiden, die sich selber Vorwürfe machen und die schmerzhaften Folgen ihres Handelns tragen. Schon Martin Luther hat die Tür dafür geöffnet, bei dieser Frage sinnvolle und humane Lösungen zu finden, dadurch dass er die Ehe als „ein weltlich Ding“ angesehen hat. Nichts Vollkommenes. Für die menschliche Wirklichkeit des Misslingens muss es eben auch menschliche Regelungen geben.

Ich habe übrigens inzwischen ein zweites Mal geheiratet. Ja, ich will es noch einmal versuchen. Der lebenslangen Liebe noch einmal eine Chance geben. Bis dass der Tod uns scheidet.
Und Ihnen, ganz egal in welchen Beziehungsverhältnissen Sie gerade leben, wünsche ich einen gesegneten Sonntag:

Wer in seiner Ehe glücklich ist, sei dankbar dafür.
Wer trotz Unvollkommenheiten an einer Ehe festhält, möge spüren,
was diese Haltung Gutes in sich birgt.
Wer in einer Beziehungskrise steckt, bemühe sich,
die tieferen Gründe zu verstehen und suche sich Unterstützung,
um, wenn irgend möglich, die Liebe zu retten.
Wessen Ehe zerbrochen ist,
der wisse sich dennoch mit großer Barmherzigkeit von Gott angenommen.
Wer alleine lebt und sich nach einer Beziehung sehnt, verzage nicht.
Wer sich für die Lebensform des Alleinlebens entschieden hat,
möge sich als vollständigen und gesegneten Menschen erfahren.
Und wer einen Menschen seines eigenen Geschlechtes liebt, lasse seine Liebe leuchten.

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15OKT2023
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Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Das tut sie natürlich unentwegt. Aber ich meine, sie hat sich in den letzten zwanzig Jahren zu ihrem Nachteil verändert. Wenn ich hinschaue, wie wir miteinander umgehen, dann finde ich: Der Ton ist rauer geworden. Böse Worte fallen schneller als früher. Und vor allem: Die Bereitschaft, das zu tolerieren, was anders ist als ich selbst, schwindet zunehmend. Schnell werden dann Gräben gezogen. Hier die Guten, dort die Bösen. Das macht es einfacher, wenn man nicht genauer hinschauen und differenzieren muss. Eine moderne Gesellschaft wie die unsere, in der viele verschiedene Menschen zusammenleben, weil sie aus unterschiedlichen Teilen der Welt kommen, weil die Lebensentwürfe heute viel komplexer sind als früher und wir all das jeden Tag über die weltweiten Medienkanäle präsentiert bekommen, die verlangt naturgemäß mehr Toleranz. Ohne Debatten, also ohne ein fortwährendes Hören und Sprechen und Verstehen - und das immer wieder von neuem - geht es nicht mehr. Demokratie funktioniert nur so. Und weil ich als Christ meinen Beitrag dazu leisten will, dass wir das gut hinbekommen, deshalb spreche ich hier darüber, werbe für mehr Toleranz. Um des Gemeinwohls willen! Trotzdem scheint es für viele bequemer zu sein, an der eigenen Meinung starr festzuhalten, statt sich mit anderen auseinanderzusetzen.

Dass es um die Toleranz schlecht bestellt ist, ist aber gleichzeitig auch falsch, wie alles, was pauschal gesagt wird. Wenn ich mir anschaue, was inzwischen alles möglich ist, staune ich. Männer laufen händchenhaltend durch die Stadt. Bis auf einige Ewiggestrige juckt das keinen. Unter den Jüngeren verschwimmen die Grenzen zwischen Jungs und Mädchen zum Teil unübersehbar. Was früher klar männlich oder weiblich war, spielt dafür, wie sie sich selbst sehen, nur noch eine untergeordnete Rolle. Das finde ich gut.

Schwierig wird es mit der Toleranz erst dann, wenn sie negative Konsequenzen für andere hat. Also dann, wenn jemand zuerst an sich selbst denkt und sich dabei Dinge herausnimmt, die Folgen für andere haben. Wenn also das Recht des Einzelnen, seine Individualität an oberster Stelle steht. So, als ob jede und jeder machen kann, was er will. Ich erlebe das in vielen Alltagssituationen. Wenn am Bahnsteig die Ersten schon einsteigen, bevor die Ankommenden den Zug verlassen haben. Oder wenn Verkäuferinnen mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit der Kundschaft, obwohl die Schlange immer länger wird. Mag sein, dass ich in bestimmten Situationen auch überempfindlich bin, dann mag es ratsam sein, erst mal durchzuatmen, bevor ich reagiere. Trotzdem muss ich nicht alles dulden. Es gibt Grenzen bei der Toleranz. Ich darf sagen: „Das ist rücksichtslos, egoistisch. Das will ich nicht. Sie sind nicht allein auf der Welt, sondern teilen die Welt mit anderen. Bitte denken sie auch an die.“

Ich spreche heute hier in den SWR4-Sonntagsgedanken über Toleranz. Weil ich es in einer Demokratie für besonders wichtig halte, tolerant zu sein.

Ich habe die Sorge, dass unser Zusammenleben zunehmend intoleranter wird. Und damit meine ich nicht, dass wir verschiedene Meinungen haben, das ist gut so. Ich meine den Stil, das Wie. Mir fällt das zum Beispiel auf, wenn ich für meine Einstellung zu einem bestimmten Thema heftig angegriffen werde. Wenn es um den Klimaschutz geht, und ich dazu etwas im Radio sage, zum Beispiel. Schnell wird dabei die Sachebene verlassen, ich werde beschimpft und als Mensch angegriffen, obwohl mein Gegenüber mich gar nicht kennt. Niemand braucht so zu denken wie ich. Es ist mir sogar wichtig zu wissen, wie andere darüber denken, und die Debatte dazu darf ruhig auch hart geführt werden. Aber menschenfreundlich. Und dazu gehört es für mich, nicht zu verletzen, sondern die Unterschiede auszuhalten. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir das in unseren politischen Debatten und den Diskussionen vor allem in den Internet-Medien wieder üben und praktizieren müssen. Zum Wohl unseres Zusammenlebens in einer offenen Gesellschaft. Deshalb verbinde ich meine Gedanken heute ausdrücklich mit dem Aufruf zu mehr Toleranz.

Helfen würde dabei vor allem, etwas gelassener, weniger aufgeregt miteinander umzugehen. Es steht ja nicht die Welt auf dem Spiel, wenn wir streiten. Wie wir dahin kommen? Mit mehr Vertrauen. Das kann man nicht machen, aber man kann Erfahrungen damit sammeln, die Vertrauen stärken. Vertrauen ist für mich das A und O, überall wo Menschen zusammenleben. Wenn es angekratzt ist, fehlt nicht mehr viel und es wird Intoleranz daraus. Ich finde, es gibt so etwas wie vertrauensbildende Maßnahmen, die dabei helfen können:

Ich unterstelle dem, der anders denkt nicht, dass er mich damit angreifen will. Ich erkläre ihn nicht zum Feind.

Ich versuche so gut es geht, auf der sachlichen Ebene zu bleiben, mich nicht als Mensch angegriffen zu fühlen, und auch nicht persönlich zu werden, wenn ich antworte.

Ich sende Signale aus, dass ich an einer offenen, gerne auch kontroversen Debatte interessiert bin. Und ich begründe das auch: Nur gemeinsam kommen wir einem Kompromiss, einer Lösung näher. Das schaffe ich gar nicht allein.

Und ich übe mich darin, einen langen Atem an den Tag zu legen, geduldig mit anderen und mir selbst zu sein. Ich sage: Wir können immer nochmals anfangen, es immer noch besser machen. Wir sind noch lange nicht fertig.

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08OKT2023
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Welcher Weg führt zum guten Leben? Und wie weit ist das? Da gibt es ja leider keine Schilder wie: „Bad Kreuznach 55 km“, „Neckargemünd 9 km“, „Maulbronn 3 km“. Die gibt es schon deshalb nicht, weil sich wohl jeder Mensch etwas anderes vorstellt unter „gutem Leben“.

„Hauptsach gudd gess!“ sagen sie im Saarland. Da merkt man die Nähe zu Frankreich! Obwohl: ein gut gedeckter Tisch, nette Leute drum herum – der Morgen wird lang oder der Abend sehr spät: dass das gutes Leben ist, darauf können sich bestimmt viele einigen! Überhaupt: Familie, Freunde, alle um einen Tisch. Zusammen sein mit Menschen, die mir am Herzen liegen. Man ist einen Herzschlag auseinander, keine paar Kilometer! Dafür braucht es keine Hinweisschilder!

Bloß: Wenn es so einfach wäre – warum ist es dann in Wirklichkeit oft so kompliziert? Warum ist der Weg oft so weit? Die Leute, die uns nicht liegen, die sind oft so weit entfernt, die Gräben so tief … Ach, was sag ich: Manchmal ist auch der Weg zu den Freunden furchtbar weit! Und manchmal schafft man den Weg selbst in der eigenen Familie, im eigenen Haus nicht …

Ein überflüssiger Streit, eine dumme Rechthaberei, die liegen dann dazwischen. Meistens über irgendeine völlig unwichtige Kleinigkeit. Die aber in dem Moment wichtiger scheint als alles andere. Wichtiger als die Liebe, als die Freundschaft, wichtiger als das jahrelange, vertraute Zusammenleben. Da endet der Weg dann – wie ein richtiger Weg vor einem Abgrund, einem hohen Berg oder einem breiten Fluss.

Dann stellt sich die Frage plötzlich doch wieder: Wie geht’s hier zum guten Leben? Wie weit ist das? Und wie überwinde ich die Hindernisse am besten? Mit den Ratgeberbüchern dazu kann man eine ganze Bibliothek vollstellen. Dabei sind die Ratgeber im Internet noch gar nicht mitgezählt!

Da überlege ich mir: Die meisten von uns haben doch irgendwann mal die Zehn Gebote gelernt. Könnte es damit nicht gehen? Nicht töten, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis ablegen, nicht haben wollen, was anderen gehört – darauf könnten sich doch die meisten verständigen, oder nicht?

Na ja, sagt da jetzt vielleicht einer. Kommt wieder drauf an, was du unter „gutem Leben“ verstehst. So mit Moral und Geboten kommst du doch nicht weit in dieser Welt. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Ohne Ellenbogen geht es einfach nicht.
Dir wird im Leben nichts geschenkt, bestätigt eine andere. Sorg erst einmal dafür, dass es dir gut geht. Dann kannst du dich um andere kümmern. Aber stimmt das? frage ich mich. Ist das nicht der beste Weg dafür, sich nur um sich selbst zu kümmern? So nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist doch an alle gedacht?! Ist das der Weg zum guten Leben?

Die 10 Gebote in der Bibel sind als Regeln fürs Leben gemeint. Vielleicht denken Sie jetzt: Ach, da kommt die Kirche wieder mit der Moral um die Ecke. Die alte Spaßbremse. Die Spielverderberin.

Klar, ein Spiel soll Spaß machen. Und damit es allen Spaß machen kann, braucht es Spielregeln. Und die Spielregeln in der Bibel, die hat übrigens nicht die Kirche erfunden! Die stehen in der jüdischen Bibel – die hat die Kirche als Teil ihrer Bibel übernommen. Und die Juden, die feiern an diesem Wochenende ein fröhliches Fest: Simchat Tora, Freude an der Tora, Freude an Gottes Weisung mit all ihren Geboten und Geschichten.

Ein Freudenfest für die Spielregeln des guten Lebens! Eine Party für die Regeln, mit denen an alle gedacht wird!
Erst dann ist es doch ein richtiges Fest. Wenn alle mitfeiern können. Wenn niemand traurig bleiben muss, wenn niemand Angst haben muss. Erst das ist doch wirklich gutes Leben! Alle werden satt, alle haben Spaß. Vielleicht schaffen wir das nie so ganz. Doch wir versuchen es immer wieder. Gerade in den wirklich großen Festen. Den Volksfesten. So wie dem Münchner Oktoberfest, das vor ein paar Tagen zu Ende gegangen ist.

Leider geht gerade auf solchen Festen immer wieder einiges schief. Menschen schlagen über die Stränge und schaden anderen und sich selbst. Das wissen wir – und freuen uns trotzdem jedes Jahr wieder neu auf das große Fest. Unsere Feste sollen uns für alles entschädigen, was sonst nicht so gut läuft. Das klappt natürlich nicht. Aber wir versuchen es immer wieder.

Genau das ist der Punkt, wo wir Regeln brauchen. Gebote. Wegweiser. Das Fest ist erst ein richtiges Fest, wenn alle wirklich mitfeiern können. Wenn keine Angst und kein Kummer die Freude trübt. Das Spiel macht erst Spaß, wenn sich alle an die Regeln halten. Ich finde, das ist eine richtig gute Idee: ein eigenes Fest für die Regeln!

Welcher Weg führt zum guten Leben? Ich glaube sicher: kein Weg, den ein Mensch nur für sich geht. Das gute Leben – das ist nichts nur für einen oder für wenige. Die Bibel erzählt immer wieder davon, wie Gott Menschen aus Angst und Leid befreit. So fängt schon das erste Gebot an: „Ich bin dein Gott, der ich dich aus Ägypten befreit habe, aus der Sklaverei.“ Das ist der Weg. Das Fest ist erst ein Fest, wenn alle mitfeiern können. Wenn keiner zurückbleibt.

So wünsche ich Juden und Jüdinnen heute ein schönes Fest der Freude an der Tora! Und uns allen einen gesegneten Sonntag!

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