SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

05NOV2023
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Viele werden die Bilder nicht mehr vergessen. Das entsetzliche, unmenschliche Massaker, das die Terrororganisation Hamas an unschuldigen Israelis angerichtet hat. Dazu Menschen, die das weltweit, auch in unserem Land, bejubeln und für gutheißen. Und jetzt sehen wir die Opfer des Krieges auf beiden Seiten; getötete, verletzte, flüchtende Menschen jeglichen Alters, die wahrscheinlich genauso in Frieden leben wollten wie jeder von uns. Aber wie soll das gehen?

Ein jüdischer Freund erzählt mir von seiner Trauer und seiner Wut, Wut auch auf die eigene Regierung, die sich mit anderen Dingen beschäftigt hatte als mit einer vernünftigen und entgegenkommenden Siedlungspolitik. Er sagt mir, es gibt nur einen Weg: „Wir müssen die Rechte jedes Menschen in unserem Land achten, niemand darf als Mensch zweiter Klasse behandelt werden und jeder hat ein Recht auf Heimat und Sicherheit.“ Und das sage er zu den Israelis genauso wie zu den Palästinensern.

Ich bin überzeugt, solche Stimme gibt es auch auf der anderen Seite. Nicht alle Palästinenser wollen die Juden ins Meer jagen, wie es die Hamas in ihrem Programm stehen hat, nicht jeder Palästinenser ruft „Allah ist groß“ und zündet dabei eine Rakete, nicht alle sind Feinde Israels. Aber offensichtlich finden diese versöhnlichen Stimmen kein Gehör. Sie gehen unter in einem festgefahrenen Freund-Feind-Denken. Da gibt es nur schwarz-weiß und entweder-oder. Aber so gibt es keinen Weg zur Verständigung.

Ich bin seit vielen Jahren regelmäßig in Israel. In diesen Tagen denke ich oft an einen Reiseleiter, der uns auf einer Pilgerreise begleitet hat. Er erzählte uns von einem Mann, der mit zwei Körben beladen vom Markt kam. Weil er müde war, setzte er sich auf die Treppe eines touristisch wichtigen Gebäudes. Und dann hört unser Reiseleiter wie ein Kollege zu seiner Gruppe folgendes sagt: „Seht ihr den Mann dort mit den zwei Körben? Schaut an ihm vorbei, und dann nach rechts auf diesen wunderbaren romanischen Bogen“. In diesem Augenblick, so sagte unser Reiseleiter, sei ihm deutlich geworden: „Die Erlösung kommt nur dann, wenn der antike Bogen nicht wichtiger ist als der Mann, der für seine Familie auf dem Markt eingekauft hat.“

Jeder einzelne Jude, Muslim, Christ ist ein Geschöpf Gottes, jeder will gesehen werden, mit seinem Namen anerkannt und geschätzt sein, jeder braucht einen Ort, wo er selbstbestimmt und frei leben kann. Das ist ein Grundbedürfnis, das nicht zu verhandeln ist und ohne das ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist.

 

Ich durfte im Sommer einen Monat lang bei den Benediktinern am See Genezareth wohnen, ganz in der Nähe, wo heute leider viele ihre Dörfer verlassen müssen, um sich vor den drohenden Angriffen der Hisbollah zu schützen.

Ich habe mich in dieser wunderbaren Landschaft noch einmal mit der Botschaft beschäftigt, die Jesus dort verkündet und den Menschen erlebbar nahegebracht hat. Und dabei ist mir deutlich geworden, wie sehr Jesus einzelne Menschen im Blick hatte und wie einfühlsam und konkret er auf ihre Bedürfnisse eingegangen ist.

Immer wieder wird erzählt, wie gelähmte, handlungsunfähige, blockierte Menschen zu Jesus gebracht werden. Er schaut sie an, gibt ihnen Mut und Vertrauen und löst sie aus ihrer Lähmung, so dass sie wieder gehen und auftreten und leben können. Anderen öffnet er den Weg zurück in die Gemeinschaft und beheimatet sie neu im Miteinander mit ihren Nachbarn und Glaubensgenossen. Bei Jesus gibt es keine Namenlosen und Abgeschriebenen und darum durchbricht er so oft gesellschaftliche und religiöse Barrieren. Er will den Menschen zeigen, dass sie bei Gott einen Namen haben und einzigartig geliebt sind. Er kämpft gegen Feindbilder und Vorurteile und wird richtig zornig, wenn Gott für eigene Interessen missbraucht und beansprucht wird.

Gott sei Dank treten immer wieder Menschen in seine Spur und versuchen sein großes Anliegen mitzutragen. Ich denke zum Beispiel an die deutschen Ordensfrauen in Jerusalem, die gastfreundlich Pilger aufnehmen und vor allem einen großen Kindergarten leiten, der besonders von christlichen und muslimischen Kindern besucht wird. So tragen sie von Anfang an dazu bei, dass die Kinder und ihre Familien einander kennenlernen und sich begegnen. Feindbilder können ja nur wachsen, wenn man nichts voneinander weiß und in seinen eignen Grenzen bleibt.

Auch die Benediktiner auf dem Berg Zion wollen für alle Menschen offen sein. Sie suchen den Dialog mit den anderen christlichen Kirchen aber genauso mit ihren muslimischen und jüdischen Nachbarn. Sie sehen und erleben jeden Tag den Reichtum dreier großer Religionen, merken aber auch, wie herausfordernd und anstrengend der Dialog untereinander sein kann. Und dennoch! Sie bleiben auf ihrem Posten. Und hoffen weiterhin, dass Feindbilder überwunden werden und Menschen sich jenseits aller Grenzen als Geschöpfe des einen Gottes erkennen, der ein Gott für alle ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38728
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