SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

26NOV2023
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Als Studentin war ich viel spazieren, um meine Gedanken zu sortieren. Oft hat es mich auf den verwunschenen Friedhof gezogen, der ganz in der Nähe war. Dort konnte ich meine Gedanken sortieren. Am Anfang war mir dabei noch etwas seltsam zumute. Heute mag ich Friedhöfe. Ich mag diese besondere Stille, die alten Bäume und die langen Alleen. Am Eingang jenes Friedhofs steht ein großer Torbogen. Dort sind Worte aus der Bibel zu lesen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Heute am Ewigkeitssonntag gedenken wir in der evangelischen Kirche der Menschen, die im vergangenen Jahr gestorben sind.

Die Wege auf dem Friedhof können lang sein. Für die Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, ist es ein schwerer Weg von der Trauerhalle zum Grab. Jetzt wird es endgültig: der Sarg mit Omi, mit dem Ehemann, mit der Tochter, mit dem Freund wird begraben. Die Arbeitskollegin kommt nie mehr wieder, der Platz des Klassenkameraden bleibt leer, die Nachbarin winkt nicht mehr vom Zaun rüber. Auf diesem Weg fließen viele Tränen. Als Pfarrerin habe ich unzählige Male Menschen auf diesem Weg begleitet. Egal, ob es brütend heiß war oder ob es aus Kübeln geregnet hat, wenn ich als Pfarrerin diesen Weg gegangen bin, war das für mich oft ein sehr nachdenklicher Moment, fast meditativ. Als Pfarrerin gehe ich den Weg zwischen dem Toten im Sarg oder in der Urne und den Lebenden.

Oft ist mein Blick auf die Grabsteine rechts und links vom Weg gefallen. Auf Blitzlichter von gelebtem Leben. Auf dem Friedhof drängt sich mir die Endlichkeit meines Lebens auf. Wenn ich an Grabsteinen vorbeigehe mit einem Geburtsjahr, das nach meinem eigenen liegt, berührt mich das besonders. Wie werde ich einmal sterben? - Wird da jemand sein, der meine Hand hält? Beim Weg an den Gräbern entlang hatte ich oft noch die Worte aus dem letzten Buch der Bibel im Ohr, die bei der Trauerfeier gelesen wurden: 

Gott wird bei den Menschen wohnen ... und wird ihr Gott sein;
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Diese Aussichten aus der Offenbarung des Johannes verändern meinen Blick auf die Vergänglichkeit. Wenn das Erste vergangen ist, dann wird Gott selbst den Trauernden die Tränen von den Augen wischen. Das hat mich oft getröstet.

Auf dem Friedhof und in diesen Novembertagen wird mir neu bewusst, dass mein Leben endlich ist. In der Bibel lese ich die Verheißung, dass Gott am Ende des Lebens auf uns wartet. Am Ende aller Tage wird der Tod nicht mehr sein und auch Leid, Geschrei und Schmerz werden ein Ende haben.

Im letzten Sommer bin ich den Weg von der Trauerhalle zum Grab anders gegangen. Betäubt und wie unter einem Schleier. Wir haben meinen Vater zu Grabe getragen. Dass er in diesem Jahr sterben würde, das hatten wir vor einem Jahr noch nicht kommen sehen. Wenige Tage vor seinem Tod habe ich ihn nochmal besucht. Dass es ein Abschied für immer würde, das habe ich nur sehr leise geahnt.

Die tröstlichen Worte der Pfarrerin drangen kaum in meine Seele. Die Musik hörte ich nur von Ferne. Ich sah vor mir den Sarg stehen, die Kränze und die Blumen, die wir als Familie ausgesucht hatten. „Befiehl du deine Wege“ haben wir gesungen und ich habe all meine Sehnsucht nach Halt in dieses Lied gelegt. Der Weg zum Grab fühlte sich so falsch an. Dass mein Vater da nun in die Erde versenkt wurde, dass sein Name auf dem Holzkreuz stand – all das fühlte sich so falsch an.

Heute, am Ewigkeitssonntag, wird auch der Name meines Vaters im Gottesdienst verlesen. Ich werde eine Kerze für ihn anzünden in einer Kirche, mir Zeit nehmen für die Erinnerung an ihn. Und ich denke dankbar an den Freund, der mir in den Tagen nach dem Tod meines Vaters täglich ein Bild schickte mit einer Kerze, die er für meinen Vater und für mich angezündet hatte. Das hat mich getragen. Wie die anderen behutsamen Zeichen von Nähe im richtigen Moment. WhatsApp-Nachrichten, Anrufe und Umarmungen. Es hat mich getragen, dass ich wusste und gespürt habe, dass Freundinnen und Freunde an mich gedacht haben und für mich gebetet haben.

Die Erinnerung heute, der Tod im Sommer und die Tränen, die sich manchmal unvermittelt ihren Weg bahnen – das alles ist leise und still.

Wieder habe ich die Worte aus der Bibel im Ohr: Und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. In dieses Bild lasse ich mich gern hineinfallen, wenn ich wieder einmal im freien Fall bin. Ich brauche die anderen, die mir sagen, dass sich Gott mir einmal behutsam zuwendet und eigenhändig die Tränen von den Augen und Wangen wischt. Behutsam und liebevoll. Die meine Hoffnung hochhalten, dass Gott die Tränen der Verzweiflung und der Trauer sieht, die durchweinten Nächte und meine zerkratzte Seele.

Irgendwann einmal werden die Spuren von Leid und Geschrei, von Schmerz und Wunden nicht mehr sein. Gott wird meine Seele heilen. Dann wird der Schmerz über die Abbrüche und Abschiede in meinem Leben nicht mehr sein. Ja, Gott selbst wird einmal einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Bis es so weit ist, muss ich mich meiner Tränen nicht schämen. Nicht auf dem Friedhof und auch sonst nirgends. Gott wischt sie eigenhändig ab. Auch heute, wenn ich so ganz anders als sonst über den Friedhof gehe.

Ich wünsche Ihnen einen tröstlichen Sonntag und eine gesegnete Woche.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38840
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