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SWR2 Wort zum Tag

06OKT2023
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Meine kleine Enkelin tanzt vor dem Spiegel und beobachtet sich, wie ihr Kleidchen im Rhythmus mitschwingt. Sie tanzt zu einem selbstgedichteten und -komponierten Lied mit einem etwas unverständlichen Text, das zu meinem Erstaunen in die deutlichen Worte mündet: „Und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Dazu wirft sie begeistert die Händchen in die Luft. Die Angelegenheit klärt sich. Das Kind war mit seinen Eltern in einem Gottesdienst und fand offenbar die Worte: „Und von Ewigkeit zu Ewigkeit Amen“ so faszinierend, dass sie sie in ihren eigenen Wortschatz übernommen hat. Und mehr noch: Sie hat ihnen eine eigene Bewegung zugeordnet, die diese Worte im Gottesdienst ganz gewiss nicht hatten. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gemeinde sich bei diesem liturgischen Antwortgesang begeistert im Kreis gedreht und mit den Armen gewedelt hat. Dabei würde das so gut passen! Dieser Gemeindegesang folgt im Gottesdienst auf den Psalm, und diese Psalmen wurden in ihrer Entstehungszeit mit Jubel und Bewegung und Tanz und Freude performt. So wie meine kleine Enkelin es gerade tut. Mit schwingendem Kleidchen und Ärmchen, die sich zum Himmel strecken und zugleich sichtlich begeistert vom eigenen Spiegelbild.

Ich könnte meiner Enkelin ewig dabei zuschauen, wie sie tanzt. Schade, dass das zu mir nicht mehr passt. Das fängt schon damit an, dass ich mich im Spiegel selten mit ähnlicher Begeisterung betrachten kann. Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, breche ich jedenfalls nicht in Halleluja-Rufe aus. Und Tanzen im Gottesdienst war auch nie wirklich mein Ding. Ich denke mir, dass das Halleluja dieses kleinen Engels bei unserem Schöpfer gut ankommt, trotz und mit der Portion Narzissmus vor dem Spiegel.

Doch meine Enkelin ist in ihrer Lebensfreude und ihrem Eifer irgendwie ansteckend.
Tja, und so haben schließlich zwei Menschen vor dem Spiegel getanzt. Ein sehr junger Mensch und ein sehr viel älterer. Wir hatten viel Spaß miteinander. Und ich bin mir sicher, dass Gott letztlich an uns beiden und unserem Halleluja seine Freude hatte. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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SWR2 Wort zum Tag

05OKT2023
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Jetzt können wir sie wieder erleben, diese zauberischen Herbststunden am Morgen zwischen Nacht und Tag, in denen der Nebel die Häuser umhüllt und vor den Wäldern auf den Wiesen liegt. „Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen“, so beschreibt Mörike in einem Gedicht diesen herbstlichen Zustand in der Dämmerung eines neuen Tages. Der Nebel verhüllt die Welt, zugleich birgt er eine Ahnung, Mörike meint: Eine Verheißung. „Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt.“ Mich erinnern die morgendlichen Nebelstunden und Mörikes Gedicht daran, dass unsere Wahrnehmung stets begrenzt ist und zugleich erfüllt von der Ahnung einer größeren Wirklichkeit. Was ich sehen kann, was ich mit meinen Sinnen und meinem Verstand erfassen kann, ist oft nicht ganz klar. Selbst mein eigenes Leben habe ich nicht immer in der Hand, und manchmal kommt es mir im Rückblick vor, als hätte ich meine Tage verträumt, manche Zeiten liegen wie im Nebel.

Sie machen mich daher bescheiden, diese morgendlichen Nebelstunden. Sie zeigen mir meine Grenzen. Sie erinnern mich daran, dass ich Geschöpf bin und in einer Schöpfung lebe. Dass es eine Zeit vor dieser Welt gab und eine Zeit nach mir geben wird. Auch wenn ich mir das gar nicht vorstellen kann wie es ist, wenn ich nicht mehr bin. Wer weiß, was ich einmal sehen werde, wenn der Schleier für mich fällt. Heute gilt:  Im Nebel ruhet noch die Welt.

Die Einsicht in die eigene Begrenzung könnte traurig stimmen. Und manchmal ist das auch so. Doch Mörike erinnert mich daran, dass der Herbst seine eigene Stärke hat. Wenn sich die Nebel verzogen haben, brennt die Sonne nicht auf die Erde, vielmehr fließt ein warmes Licht durch die Welt. Mörike sieht, nach dem Nebel, herbstkräftig die gedämpfte Welt, in warmem Golde fließen.

Wie schön: Im warmen Golde fließen. Und herbstkräftig sein! So mag ich gerne durch diese Herbsttage gehen, mich und die Menschen und unser Leben darin sehen. Wir sind kostbare, zerbrechliche, wunderbare Geschöpfe, gehüllt in das Gold der Herbsttage. Herbstkräftig eben.

Dafür mag ich Gott dann auch herbstkräftig loben und ihm danken. Für die nachdenklichen Nebel-Stunden in der Dämmerung eines neuen Tages, für meine Träume, für den blauen, unverstellten Himmel und für das, was bleibt. Vor dem Nebel und nach dem Nebel. Im warmen Golde.

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SWR2 Wort zum Tag

23AUG2023
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Ich würde gerne mal eine Ausstellung verschwundener Dinge kuratieren. Die Idee dazu kam mir an dem Tag, als ich in Ephesus auf der Suche nach dem Tempel der Artemis war, einst eines der berühmten „Sieben Weltwunder“. Die kümmerlichen Überreste, auf die ich dann schließlich gestoßen bin, lassen heute nicht einmal mehr erahnen, warum Menschen einmal so fasziniert von diesem Bauwerk gewesen sind. Selbstverständlich hätte dieser Tempel also einen Platz in meiner Ausstellung der verschwundenen Dinge.

Doch auch ganz alltägliche Dinge würde ich aufnehmen: Z.B. Telefonzellen, die noch in meiner Kindheit ganz selbstverständlich zum Leben gehört haben. Oder Kinos mit frivolen Filmchen, die sind heute dank der ständigen Verfügbarkeit im Internet ebenso von der Bildfläche verschwunden wie Dampflokomotiven. Eine Sonderecke würde ich der Tupperware gönnen: Noch vorhanden, aber bereits angezählt. Ihr Aktienkurs ist komplett eingebrochen.

Manche Leute meinen, dass angesichts der unfassbar hohen Austrittszahlen auch die Kirche einen Platz in meiner exquisiten Ausstellung finden könnte, direkt neben der Tupperware: Noch vorhanden. Betonung auf: Noch. Auch mir scheint es unwahrscheinlich, dass es in fünfzig Jahren die Kirchen in ihrer jetzigen Form als Volkskirche mit flächendeckenden Versorgungsstrukturen noch so gibt. Noch unwahrscheinlicher finde ich aber die Vorstellung, dass es gar keine Kirche mehr gibt. Denn zum Wesen des Christentums gehört es, dass es immer neue Formen gefunden hat, die zu seinem Inhalt gepasst haben. Kirche ist in ihrer Form nicht so festgelegt wie eine Tupperdose. Wir sind heute zum Beispiel weit entfernt von den Katakomben, in denen die ersten Christen Gottesdienste gefeiert haben, ebenso aber auch vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Kirche ist nicht statisch, sondern lebt von Beziehungen, von den Menschen, die sich in ihr und für sie engagieren. Ich meine, dass sie deswegen eine Zukunft hat und auch für zukünftige Gesellschaften von Interesse und Relevanz sein wird.

Und wenn nicht? Ephesus und seine zerborstenen Säulen lehren mich Gelassenheit. Was zu starr ist, zerbricht eben. Was in Beziehung lebt, bleibt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Bibel auch in 2000 Jahren noch von Menschen gelesen wird, die sich von ihrer Botschaft faszinieren lassen. Und letztlich liegt die Angelegenheit, jedenfalls aus christlicher Perspektive, nicht in Menschen- sondern in Gottes Hand. Da weiß ich sie gut aufgehoben.

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SWR2 Wort zum Tag

22AUG2023
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Wann sind Sie zuletzt einem weisen Menschen begegnet? Ich finde, die Spezies ist rar gesät. Ich kenne viele intelligente Menschen, manche sind raffiniert und gewitzt. Aber weise? Ich stelle mir vor, dass in einer Talkshow die Position der Weisheit besetzt werden müsste. Keine einfache Aufgabe, zumal die Logik einer Talkshow eher auf Krawall gebürstet, denn auf Weisheit hin ausgerichtet ist. Dabei braucht diese Welt dringend Menschen mit dieser Kompetenz. Weisheit ist nämlich die Gegenlogik zum Krieg, meint Aleida Assmann. Die Kulturwissenschaftlerin betont, dass Weisheit darauf ausgerichtet ist, die sozialen Kräfte im Menschen zu stärken. Diese Stärkung hilft dann, Gewalt zu vermeiden. Ein weiser Mensch kennt kein Entweder-Oder. Die Weisheit ist in der Lage, Verschiedenes nebeneinander stehen zu lassen. Schon deshalb hebelt die Weisheit die einfache Logik des Kriegs aus, die die Welt in Freund und Feind einteilt und den Feind vernichten will. Der Krieg hat eine bequeme Logik, die Logik der Weisheit ist dagegen komplex, so vielfältig wie die Welt und das Leben der Menschen. Mir leuchten die Einsichten von Frau Assmann unmittelbar ein.

Wenn ich mich so damit beschäftige fallen mir tatsächlich zwei Menschen ein, die ich als weise bezeichnen würde. Ein Jesuit, bei dem ich jahrelang Exerzitien besucht habe. Und meine Großmutter. Wenn sie gesprochen haben, habe ich genau zugehört. Sie haben mich nicht bevormundet oder verurteilt, sondern wahrgenommen. Sie konnten übrigens beide auch gut zuhören. Sie waren lebensweise und lebensklug.

Immerhin: In einer großen Wochenzeitung gibt es inzwischen eine Kolumne, in der bekannte Zeitgenossen nach dem gefragt werden, was sie gerne früher gewusst hätten und gerne an die Mitwelt weitergeben möchten. Also so eine Art Weisheiten-Börse. „Die Beschäftigung mit der Antike schützt vor den Torheiten der Gegenwart,“ meint da einer. Derselbe Zeitgenosse hat noch den Tipp parat: Lass beim Kochen öfter mal die Sau raus. Nun ja.

Unsere so vielfältig bedrohte Welt braucht dringend weise Menschen. Mir scheint, Aleida Assmann ist auch eine von ihnen. Es lohnt sich, ihr zuzuhören. Sie macht mir Mut zur Logik der Weisheit. Eine Logik der sozialen Stärkung. Gegen die Logik des Kriegs.

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SWR2 Wort zum Tag

21AUG2023
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Manchmal erlebt man mitten am Tag eine kleine Sternstunde. Es ist wie die Ahnung einer fremden, wunderbaren Wirklichkeit. Sternstundenmomente brauchen besondere Räume. Einen stillen Wald, Licht, das sich durch die Baumwipfel bricht, eine alte Kirche. Und plötzlich geschieht es.

Sternstundenmomente sind Augenblicke vollkommener, fragloser Klarheit. Das Gefühl, eins zu sein mit sich und dem Universum. Christen sagen: Es sind Augenblicke von Gottesnähe, in denen sich spüren lässt, was das Heilige ist.

Sternstundenmomente sind reine Geschenke. Niemand kann solche Augenblicke zwingen. Dennoch kann man etwas dafür tun. Die Stille suchen. Ein Schweigen aushalten. Natur auf sich wirken lassen oder heilige Räume.

Es gibt aber auch Menschen, die solchen Sternstunden lieber ausweichen mögen. Der große Dichter Mörike gehörte wohl zu dieser Sorte. „Wollest mit Freuden mich nicht überschütten...“ bittet er in einem Gedicht. Mörike hat gewusst, dass man Sternstunden nicht auf Dauer besitzt, sie sind Geschenke des Augenblicks. Um von tiefem Leid verschont zu bleiben, verzichtet er lieber auch auf die höchsten Freuden. Das Mittelmaß scheint ihm das Angenehmste: „In der Mitte liegt holdes Bescheiden“ war sein Fazit.

Sicher, der Abschied von der Sternstunde kann schmerzhaft sein. Auf der anderen Seite verpasst man auch viel, wenn man ihr bewusst ausweicht. Wollest mit Freuden mich nicht überschütten... Das wäre nicht mein Gebet. So bescheiden will ich gar nicht sein.

Ich möchte lieber, wenn auch nur für wenige, kostbare Augenblicke, den Himmel offen sehen. Denn oft genug muss ich doch auch einen Blick in schlimme Abgründe werfen, manche Menschen erleben gar die Hölle. Im Krieg. Auf der Flucht. In den Sternstunden-Augenblicken merke ich, dass die Hölle nicht das letzte Wort hat. Dass wir Menschen, auch wenn wir das nicht ständig merken, doch umgeben sind von einer größeren, berauschend schönen Wirklichkeit.

In Sternstunden-Augenblicken spüre ich das. Und diese Augenblicke hinterlassen Sternenstaub in meinem Leben. Da ist ein neuer Glanz. Darum:

Jeder Mensch darf ruhig darum bitten, mit Freude überschüttet zu werden, in kostbaren, besonderen Momenten. Warum nicht schon heute?

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SWR2 Wort zum Tag

12JUL2023
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In meiner Nachbarschaft gibt es einen wunderschönen Vorgarten. Üppig wuchern Rosen über den Gartenzaun und betören mit ihrem Duft. Zwei Feigenbäume tragen reichlich Früchte, Zitronenbäume leuchten gelb. Jedes Mal, wenn ich an diesem Garten vorbeigehe, erfreue ich mich an seiner Pracht. Ich schnuppere an den Rosen und genieße ihren Duft. Ich sehe auch viele andere Menschen, die vor diesem Garten stehenbleiben. Oft schon hatte ich mich gefragt, wieso jemand sich so viel Mühe mit einem Garten macht. Im Vorgarten steht keine Bank. Er ist offenbar nur aus Liebe zu den Pflanzen so schön angelegt. Oder – wer weiß – vielleicht aus Zuneigung zu den Menschen.

Häufig sieht es ja ganz anders aus. Da gibt es Vorgärten des Grauens, die lediglich aus Schottersteinen bestehen, zwischen denen Ziergräser ihr trübes Dasein fristen. Oder die Gärten sind abgeschlossen. Der verschlossene Garten, der hortus conclusus, ist ein wichtiges Thema der Kunst und biblisch angeregt. Im biblischen Hohelied heißt es (Hld 4, 12): Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester, meine Braut. Du bist wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten. In der bildenden Kunst des Mittelalters, die das Motiv des verschlossenen Gartens aufgreift, gehört die Rose unbedingt in einen solchen Garten, Mystiker und Künstler nehmen das auf – bis in die Gegenwart.

Doch hier, mitten in einem städtischen Vorgarten, blüht das Paradies nicht verborgen, sondern für alle sichtbar und stellt sich den Vorbeigehenden zur Verfügung. Die Rosen hängen über den Gartenzaun und spenden ihren Duft.

Neulich habe ich dann zum ersten Mal einen Mann gesehen, der im Garten gearbeitet hat. Ich habe mich erkundigt, ob er der Besitzer ist. Sehr zurückhaltend hat er das bestätigt. Es wirkte so, als hätte er die Befürchtung, ich würde mich gleich über die Rosen beschweren, die über den Zaun hängen oder über deren Dornen. Angst vor der typisch deutschen Beschwerdekultur. Ich habe mich stattdessen bedankt. Ich habe ihm erzählt, dass ich mich jetzt schon seit mehreren Jahren an seinem Garten erfreue und es gar nicht selbstverständlich finde, dass er so viel Arbeit investiert. Ja, er macht Arbeit, der Garten hat der Mann bestätigt. Sehr viel Arbeit. Ich hatte den Eindruck, ich bin die erste, die dafür Danke sagt. Der Mann hat sich sehr darüber gefreut.

Heute gilt mein Gruß allen, die aus ihren Vorgärten kleine Paradiese machen, sich selbst und anderen zur Freude. Sie bringen ein Stück Himmel auf unsere so bedürftige Erde. Ihnen gebührt Dank! Manchmal darf das Paradies auch gerne öffentlich sichtbar sein.

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SWR2 Wort zum Tag

11JUL2023
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Herbert Blomstedt ist ein weltbekannter, hoch angesehener Dirigent. Eine lebende Legende. Heute feiert er Geburtstag – er wird 96 Jahre alt und ist damit der dienstälteste Dirigent weltweit. Gerade tourt er auf einer umjubelten Tournee durch Deutschland. „Dirigent zu sein ist ein guter Beruf, um alt zu werden,“ meint Blomstedt und ist selbst der beste Beweis dafür.

Was ihn auszeichnet: Er kann gut zuhören, und er tut es gerne. „Wenn man einander gut zuhört, braucht man nur sehr wenig zu besprechen,“ meint er. Wo andere laut werden oder die große Geste pflegen, nimmt Blomstedt sich zurück. Wer, so wie ich, das Glück hat, ihm bei einem Konzert zu begegnen, erlebt einen großen, charmanten, sehr einfühlsam und mit sparsamen Gesten agierenden Herrn, dem man sein Alter wahrlich nicht anmerkt.

Zuhören können – das ist nicht nur eine Kunst, es ist auch eine Kultur, eine Haltung. „Nicht alles, was man hört, mag einem gefallen,“ stellt Blomstedt fest. Dennoch öffnet er seine Ohren. Denn: „Ein Dirigent ist nur ein Zuhörer.“ Gerade weil er zuhören kann, kann er die Musiker auch leiten und führen und den Klang prägen.

Blomstedt bedauert, dass seit den 1960er Jahren der Musikunterricht zugunsten technischer Fächer in den Schulen vernachlässigt wird. Wie gut, dass es einen neuen Trend zum Singen in Chören gibt. Kaum vorstellbar, dass ein Chor funktioniert, wenn alle sich gegenseitig nur anschreien. Es geht nur, wenn eine auf den anderen hört. Zuhören kann man lernen.

So wie Blomstedt das Geheimnis seiner Kunst schildert, könnte auch eine Definition von Seelsorge klingen. Zuhören können. Tatsächlich findet der Dirigent, dass Musik auch eine spirituelle Dimension hat, er selbst ist Christ.

„Ohne Kunst und Religion verkommt der Mensch zu einem intelligenten Tier,“ sagt er sehr pointiert. Mag sein, dass da nicht jeder inhaltlich mitgehen mag. Aber warum sollte jemand, der das Zuhören so kultiviert hat, nicht auch deutlich seine Meinung sagen.

Heute an seinem Ehrentag sei ihm eine Schar von Gästen gegönnt, die Lust haben, Herbert Blomstedt zuzuhören, wenn er von den vielfältigen Begegnungen in seinem langen Leben erzählt und von der Faszination der Musik. Ich selbst habe mich von ihm inspirieren lassen. Es ist so wichtig, die Ohren zu öffnen. Für Musik. Für andere Menschen. Ich finde mit Blomstedt: Auch für Gott.

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SWR2 Wort zum Tag

10JUL2023
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Das Glück ist manchmal für kleines Geld zu haben. Ich habe es ausprobiert. Mit meiner Enkelin. Sie ist ein großer Fan von Seifenblasen, und so habe ich ein kleines Döschen Seifenblasen gekauft, für einen Euro und 98 Cent. Weil meine Enkelin nicht gerade die Geduldigste ist – das hat sie mit ihrer Omi gemein – musste ich sofort und auf der Stelle die ersten Seifenblasen produzieren. Das war mitten in der Fußgängerzone, und die Kleine ist jauchzend den kleinen und großen Seifenblasen hinterhergelaufen. Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt so viele lächelnde Gesichter gesehen habe. Mitten im hektischen Treiben der Fußgängerzone gab es plötzlich eine Insel der Freude, der unbeschwerten Leichtigkeit. Die bunt schillernden Seifenblasen schwebten über dem Asphalt, eine flog sogar richtig weit nach oben Richtung Himmel.

„Wer ist der Größte im Himmel?“ haben die Jünger Jesus einmal gefragt. Jesus hat dann ein Kind gerufen und gesagt: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie dieses Kind werdet, könnt ihr den Himmel nicht erben.“ An diesem Tag in der Fußgängerzone habe ich verstanden, was Jesus damit gemeint hat. Es ist einfach himmlisch, wie Kinder sich der Freude am Leben, der Leichtigkeit eines Augenblicks unbeschwert hingeben können, wie sie jauchzen können über die Schönheit einer Seifenblase. Leider ist die Sache mit der Umkehr nicht so einfach, mir scheint sogar: Sie ist unmöglich. Ich bin kein Kind mehr. Und bei Seifenblasen denke ich zuerst an zerplatzte Träume. In der Tat war die Seifenblase in der humanistischen Literatur ein populäres Motto für die Vergänglichkeit. Ein Glasfenster aus dem 16. Jahrhundert zeigt zwei mit Seifenblasen spielende Kinder unter der Überschrift: Sic transit gloria mundi – so vergeht die Herrlichkeit der Welt.

Das ist sicher alles richtig und eine wertvolle und kluge Mahnung. Zugleich macht sie etwas madig, was ich mir nicht mehr madig machen lassen möchte: Die Freude am schillernden Augenblick, an der Freude, die ausstrahlt. Deshalb möchte ich es umgekehrt angehen und die Perspektive nutzen, zu der Jesus einlädt – und die mir meine Enkelin vorlebt! Es gibt wunderschöne, schillernd-glänzende Augenblicke im Leben, die zwar vergänglich, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb kostbare Glücksmomente sind. Manchmal ereignen sie sich mitten in Fußgängerzonen.

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SWR2 Wort zum Tag

03JUN2023
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Gerade haben sie in Frankfurt ein großes Fest gefeiert: Das Jubiläum des ersten deutschen Parlaments, das 1848 zum ersten Mal in der Paulskirche getagt hat. Tausende Menschen sind dort zusammengekommen, auch der Bundespräsident war dabei, es gab ein großes Musikprogramm. Alle haben den Anfang unserer Demokratie gefeiert, für die viele Menschen unter Einsatz ihres Lebens gekämpft hatten. Auch Künstler hatten sich damals eingesetzt und Wege geebnet, allen voran Ludwig van Beethoven. Seine 3. Symphonie, genannt Eroica, die Heroische, die er in den Jahren 1802/03 komponiert hatte, wurde zu einer Hymne der Bewegung. Schon Beethoven musste allerdings erleben, dass die Helden der Freiheit sehr schnell zu ihren ärgsten Gegnern werden konnten. Aus dem Freiheitshelden Napoleon wurde der Kaiser und Kriegstreiber. Und auch die hoffnungsvollen Anfänge der Frankfurter Paulskirche sind bald von den Fürsten wieder brutal zertreten worden. Sogar die Eroica selbst wurde von Leuten vereinnahmt, die mit den Idealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit rein gar nichts mehr zu tun hatten.

Der Schwachpunkt auch des ehrlichsten Kampfes für die Freiheit des Menschen ist leider - der Mensch. Sogar menschliche Freiheitshelden haben die ungute Tendenz, ihre Macht irgendwann wichtiger zu finden als die Freiheit ihrer Mitmenschen, für die sie einmal angetreten sind. Und auch Musik ist nicht davor gefeit, vereinnahmt zu werden.

Demokratie ist kein Selbstläufer, das hat auch der Bundespräsident betont. Sie braucht aktiven Einsatz. Das ist ganz im Sinne Jesu. Im Matthäusevangelium sagt er: Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener; und wer unter euch der Erste sein will, der sei euer Knecht, so wie der Menschensohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse.

„Zur Freiheit hat euch Christus befreit“ fasst Paulus das später zusammen.

Ich bin mir sicher, schon die ersten Christen haben dazu gesungen. Lieder von Freiheit und Menschenwürde.

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SWR2 Wort zum Tag

02JUN2023
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Das deutsche Adjektiv frei stammt von einer indogermanischen Wurzel ab, die unter anderem gern haben und lieben bedeutet. Das ist eine sehr tiefsinnige Erkenntnis, die uns unsere deutsche Sprache da aufzeigt. Freiheit wächst aus Liebe, die Wurzel der Freiheit ist die Liebe. Das mag nun alle erstaunen, die bei Freiheit zuerst an völlige Unabhängigkeit denken. Doch eine solche Freiheit ohne Bindung an andere ist schiere Illusion. Kein Mensch kann ohne andere Menschen leben. Ausnahmslos jeder und jede braucht vom ersten Atemzug an andere Menschenwesen, um zu leben und sich zu entwickeln. Wirkliche Freiheit entsteht dann, wenn man diese Beziehungen leichtfüßig leben kann, so selbstverständlich wie einen Atemzug. Wirklich frei ist man erst, wenn man liebt. So liebt, dass man sich selbst vergisst.

Naturgemäß ist das kein Dauerzustand. Vielleicht wäre das auch gar nicht zu ertragen, wer weiß… Jedenfalls denken auch liebende Menschen immer wieder mal nur an sich, sind egoistisch und stellen ihre Bedürfnisse an die erste Stelle. Aber alle, die schon einmal geliebt haben oder lieben, kennen den Effekt, dass man aus Liebe Hunger, Durst, Schlaf und sogar die eigenen Wünsche vernachlässigen kann. Und das ist tatsächlich die größte Freiheit, die wir Menschen erleben können: wenn wir uns selbst vergessen können. Man nennt das auch: Hingabe. Es ist die Erfahrung, völlig befreit zu sein von egoistischen Gefühlen. Manche Menschen erleben das auch in ihrer Beziehung zu Gott.

Aus christlicher Perspektive hat Jesus eine solche Freiheit vorgelebt. Wer nur auf sich und seine Bedürfnisse schauen kann, der verliert sein Leben, sagt Jesus im Lukasevangelium. Wer jedoch sich selbst vergessen und lieben kann, der gewinnt sein Leben. So ist es wirklich: Das Leben fühlt sich anders an, wenn ich lieben kann. Reich, besonders, einzigartig, kostbar. Ich finde es übrigens besonders schön, dass man diesen Zustand völliger Freiheit nicht kaufen kann. Zu lieben und geliebt zu werden ist reines Geschenk.

Zeiten der Liebe sind die kostbarsten Momente unseres Lebens. Wer sie einmal kennengelernt hat, weiß, was es heißt, wirklich frei zu sein.

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