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SWR2 Wort zum Tag

06MRZ2024
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„Wo ist denn bloß die Zeit hin?“, frage ich mich manchmal, wenn ich auf die Uhr schaue. Der halbe Tag ist schon wieder vorbei und zu dem, was ich eigentlich machen wollte, bin ich noch gar nicht richtig gekommen. Immer wieder passiert mir das – und nur langsam und eher mühsam komme ich meinen Zeitfressern auf die Spur.

Aber dann bin ich plötzlich einem begegnet. Bei meinem Besuch vor ein paar Wochen in Cambridge stand ich auf einmal unmittelbar vor einem. An der Außenmauer des Corpus Christi College ist eine große Uhr angebracht – die „Corpus Clock“. Ganz oben auf dem Kunstwerk hockt ein widerliches Tier, eine Mischung aus Drache und Heuschrecke. Das Vieh frisst sich auf einem Zahnrad vorwärts. Mit jedem Ausgreifen seiner Krallen dreht es das Rad ein kleines Stück weiter. Dabei reißt es sein Maul im Sekundentakt auf. Chronophage heißt es auf Englisch. Zeitfresser. Er frisst die Sekunden – und mit ihnen die Minuten und Stunden. Unsere Lebenszeit. Das Kostbarste, was wir haben.

Vor dieser Uhr bekomme ich ein ziemlich klares Gefühl dafür, was es bedeutet, dass das Leben endlich ist. Manches ist unwiederbringlich vorbei. Die Uhr erwischt mich an einem sensiblen Punkt. Denn kurz vor der Reise hatte mir meine Freundin Fotos von unserem letzten gemeinsamen England-Aufenthalt geschickt. Gefühlt war das noch gar nicht lange her. 6 Jahre. Eben gerade erst. Und doch: Auf einmal sind die Haare grau und die eigenen Eltern alt. Wo ist denn bloß die Zeit hin?  

Time flies. Selten sehe ich das so plastisch wie dort. Es fühlt sich an, als würde der Zeitfresser mich selbst annagen. Das Kunstwerk hält aber auch noch eine andere Botschaft bereit: Noch selten habe ich eine so innovative Uhr gesehen. Sie kombiniert faszinierendes Ingenieurshandwerk und modernste Ästhetik; klassisch-goldene Farbe mit schicken blauen LEDs. „Nutz deine Zeit“ blinkt mir die Uhr entgegen, so vieles ist noch möglich … Mich darauf einzulassen, dass meine Lebenszeit endlich ist, das kann nämlich auch befreiend sein, kreativ werden lassen und mir helfen, manchen alten Trott zu durchbrechen.

Und was heißt das jetzt für meine alltäglichen Zeitfresser? Den Instagram-Account benutze ich gerade seltener. Und ich habe den ein oder anderen Besuch gemacht, bei Menschen, die mir wichtig sind. Die Zeit für das, was wirklich wichtig ist, die will ich meinen Zeitfressern nicht mehr ganz so oft ins Maul stopfen …

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SWR2 Wort zum Tag

05MRZ2024
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Im Chor singen wir gerade eine Messe von Giacomo Puccini. Ein kurzes, beschwingtes Stück daraus hat es mir besonders angetan. Es beginnt leise, mit nur wenigen Stimmen; andere kommen dazu; ein herrlich fröhlicher Walzer entwickelt sich. Das erwartet man nicht mitten in diesem geistlichen Werk. Das Stück steht am Ende des Glaubensbekenntnisses. Es vertont nur wenige Wörter „et vitam venturi saeculi“. Zusammen mit den Takten vorher heißt das „Ich erwarte … das Leben der kommenden Welt“. Kurzum, es handelt vom ewigen Leben. Puccini, der Opernkomponist, hat seine Hoffnung in dem Walzer musikalisch ausgemalt. Beim Singen fühle ich mich förmlich auf einen Ball versetzt. Menschen, die tanzen, sich freuen. Einer stößt mit dem anderen an. Nach wenigen Takten im Fortissimo folgt auch schon das Amen und das Ganze ist wieder vorbei.

Unser Chorleiter hat die musikalischen Bilder vor uns hingemalt und im Chor haben wir darüber gewitzelt. Von der ewigen Party bei Gott; wie sich frisch gewachsene Flügel wohl anfühlen und wie es sich damit wohl tanzt. Es wurde viel gelacht.

Der ewige Walzer bei Gott – es ist eines von unzähligen Bildern, in denen Christen im Lauf der Geschichte ihre Hoffnung zum Ausdruck gebracht haben: ein besonderes und sehr anschauliches Bild. Heute gehen wir zu Recht kritisch mit solchen Vorstellungen vom Paradies um. Manches ist höchstens im Scherz sagbar. Das Sprechen bleibt zögerlich, riskant geradezu. Ich will ja nicht naiv sein – und schon gar nicht anmaßend.

Ganz gleich, wie ich mich zu den christlichen Entwürfen stelle, die Fragestellung bleibt: Was gibt mir Hoffnung in meinem Leben? Und wie begegne ich dem Tod? Ich persönlich brauche lebendige Bilder, die ich dem Tod und der Zerstörung, die wir gerade erleben, entgegensetzen kann. Einen schönen Walzer zu tanzen, für mich gehört das zum lebendigsten, was das Leben zu bieten hat. Wenn es passt, dann wird mit jeder Drehung die Freude ein bisschen größer – Glückseligkeit, für mich ist ein Walzer dafür ein stimmiges Bild. Ein Moment, in dem ich spüren kann, dass da mehr ist als wir hier. Durch die Bewegung und die Musik verbunden zu sein mit etwas Größerem – für mich ist das ein Hoffnungsbild.

Angesichts all der Katastrophen in den Nachrichten werde ich Puccinis Walzer noch manches Mal fröhlich trällern – nicht als Vertröstung. Sondern weil er mich stark macht für alle Gangarten des Lebens: auch für beherzte Schritte oder schwierige Anstiege. Für das Leben – so herausfordernd und so schön es ist.

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SWR2 Wort zum Tag

04MRZ2024
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Manchmal komme ich als Pfarrerin aus einem Trauergespräch und denke „irgendetwas war komisch“. Mir fehlt dann das Gefühl dafür, wer die verstorbene Person wirklich war. Die Angehörigen haben mir zwar einiges erzählt, aber ich habe den Eindruck, etwas Wesentliches wurde nicht gesagt. So, als wäre die ganze Zeit ein riesiger Elefant mit im Raum gewesen. Und alle tun so, als bemerkten sie ihn gar nicht. Im Englischen gibt es den Ausdruck „the elephant in the room“, der Elefant im Raum: Das ist, wenn alle von etwas wissen und niemand darüber spricht.

Bei einem Besuch in Cambridge habe ich den sprichwörtlichen Elenfanten im Raum vor mir gesehen. Im Fitzwilliam Museum hängt ein Bild des niederländischen Malers Hendrik von Anthonissen: Zu sehen ist ein Nordseestrand an einem Wintertag. Im Hintergrund ein Kirchturm, vorne Menschengruppen. Viele blicken zur See. Bloß gibt es dort überhaupt nichts zu sehen! Zumindest bis vor einigen Jahren. Lange Zeit waren da bloß graue Wellen und man hat sich höchstens gefragt: „Was suchen die alle an diesem kalten Strand?“ Bis zu einer Restaurierung des Gemäldes im Jahr 2014. Dabei wurde mit viel Geschick ein überdimensionaler gestrandeter Pottwal freigelegt. Den schauen sich die Menschen am Strand an! Was für eine Entdeckung! Gemalt wurde das Bild gegen Ende des 30-jährigen Krieges. In der Zeit strandeten erstaunlich viele Wale an der Nordseeküste. Sie galten als Zeichen des Unheils und Schreckens. Während van Anthonissen sich mutig ausgemalt hat, wie das ausgesehen haben muss, wurde die Szene gut 100 Jahre später als zu anstößig empfunden. Mit der faszinierend-schauerlichen Schönheit des Wals, mit seinem traurigen Blick und der Unheilsbotschaft wollte man nichts mehr zu schaffen haben. Aus dem sichtbaren Wal am Strand wurde der sprichwörtliche „elephant in the room“.

Im Blick auf manches Gespräch nehme ich aus der Begegnung mit dem Bild ein Stück Neugier mit: Was steckt dahinter? Worum geht es hier wirklich? Seelsorge – die passiert für mich da, wo etwas sagbar wird. Sie ist ein Raum, in dem jemand ein verstörendes Erlebnis, einen traurigen Blick oder eine Unheilsbotschaft mit mir aushält und dabei nichts übertüncht oder ausradiert. Manchmal gilt es an einem wintergrauen Tag auch erst herauszufinden, worum es eigentlich geht. Das zuzulassen braucht Mut und es braucht Vertrauen. Man weiß ja nicht, wie das Gegenüber reagiert. Aber wo es gelingt, entsteht manchmal ein faszinierend-schönes Bild und ein neuer Blick für ganz alltägliche Lebens-Landschaften.

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SWR2 Wort zum Tag

20SEP2023
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„In unserem Flüchtlingslager habe ich einen Mann gesehen, der hat ein Kreuz um den Hals getragen. Ich hab ihn angesprochen. Er war sehr freundlich und hat uns geholfen. Wegen ihm haben wir es geschafft“, sagt ein Iraner in einem Interview.

Da war ein Mann, der hat ein Kreuz getragen. Offenbar hat sich der Mann auf der Flucht was erwartet von dem Mann mit dem Kreuz, genau weil der Christ war. Mich freuen diese Sätze. „Dazu ist Kirche doch da!“, denke ich.

Wenig später lese ich von evangelikalen Gruppierungen in den USA. Ihnen sei Jesus zu links und liberal. Predigten über Jesus seien nicht stark und konservativ genug (FR vom 23.08.). Sie zensieren auch Jesus-Worte: Die andere Wange hinhalten, Feinde lieben – alles, was irgendwie mit dem Kreuz zu tun hat, passt nicht in ihr Weltbild und wird weggekürzt.

Originäre Jesusworte als Teil christlicher Cancel-Culture, das finde ich pikant.

Jesus hat es den Leuten tatsächlich noch nie leicht gemacht. Viele Jesusforscher sagen: Je unkonventioneller und anstößiger Sätze sind, die die Bibel Jesus in den Mund legt, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich um echte Jesusworte handelt. Ihm solche Sätze anzudichten hätte sich keiner getraut.

Christinnen und Christen kommen um den historischen Jesus nicht herum – und der hat immer wieder den Rahmen gesprengt, in den man ihn stecken wollte. Genauso wie das Kreuz. So angepasst es als Halskette daherkommen mag: Es ist alles andere als das. Schon Paulus nennt das Kreuz einen Skandal. Es bricht mit der Logik von Gewalt und Gegengewalt – wie Jesus auch in seinen Worten damit gebrochen hat.

Manchen passt das nicht. Vor allem denen, die die gesellschaftliche Ordnung gerne hätten, wie sie immer schon war: Die Reichen oben, die Armen unten. Die Einheimischen oben, die anderen irgendwo – oder noch besser nirgendwo.

Wenn Menschen sich bewegen lassen von dem, was Jesus gesagt hat, dann rückt der einzelne Mensch in den Blick. Wie der Mann mit dem Kreuz sich hat berühren lassen von dem, was ihm begegnet ist.

Eine Kollegin hier in Heidelberg ist für mich auch so eine Person. Jede Woche arbeitet sie im Ankunftszentrum für Geflüchtete. Gerade organisiert sie ein Bildungsangebot für Kinder. Erwachsene versorgt sie mit Kleidung, Hygieneartikeln – und Hoffnung. Auch über sie sagen bestimmt einige: „Sie war sehr freundlich und hat uns geholfen – wegen ihr haben wir es geschafft.“ Genau dazu ist Kirche doch da!

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SWR2 Wort zum Tag

19SEP2023
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Diesen Sommer habe ich ein Fotobuch erstellt. Zum ersten Mal eine gedruckte Variante: Schöne Momente des Sommers, Wandern in den Alpen, ein Familienfest – alles ist festgehalten zum Anfassen und Aufschlagen. Wenn ich das Büchlein zur Hand nehme, spüre ich, wie sehr die Erinnerungen zu mir gehören – egal, was im Alltag gerade los ist.

Dieses Lachen, jenes Glas Sekt, „weißt Du noch?“ – schöne Augenblicke werden dadurch so wertvoll, dass sie einmalig sind. Ihren Geschmack und ihren Geruch, ihr Licht und ihren Klang auskosten und genießen – dabei helfen mir die Bilder.

„Was bleibt ist die Erinnerung“ heißt es in oft in Todesanzeigen oder in Trauergesprächen. Manchmal schwingt darin etwas Antireligiöses mit – so als würde eine religiöse Sicht der Dinge bloß davon ablenken wollen, dass das Leben endlich ist und manches unwiederbringlich vorbei.

Bei Navid Kermani habe ich gerade schöne Sätze dazu gelesen: „Wir sind sterblich und damit menschlich, aber in unserer Einzigartigkeit – ja, ausgerechnet in unserer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit und Undwiederholbarkeit – sind wir Teil einer unendlichen Vielfalt und damit göttlich.“ (Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, 14) Ja, denke ich: Diesen einen Augenblick gibt es nur in meinem Leben. Diese eine Berührung passiert nur zwischen mir und dir. Die Eindrücke meines Sommers sind der eine kleine Ausschnitt aus einer unendlichen Zahl von Konstellationen, die möglich gewesen wären. Geworden sind es diese. Meine.

Weil es so schön war, bin ich dankbar dafür. Manchmal staune ich darüber. Im Danken und im Staunen binde ich das, was war, zurück an die unendliche Vielfalt, an Gott. Das ist der Wortsinn von Religion: Religio, das heißt im Lateinischen zurückbinden, anbinden – an etwas Größeres. Darin steckt das Vertrauen darauf, dass auch das Größere sich an uns gebunden hat.

Was bleibt ist die Erinnerung. Ja, stimmt. Aber nicht bloß meine. Was bleibt ist unsere und Gottes Erinnerung. Er kennt die unendliche Vielzahl seiner Möglichkeiten und gibt keine davon verloren. Er bewahrt sie in sich und hat damit auch für meine Erinnerungen und Erfahrungen Raum. Der Gedanke hilft mir, wenn ich Menschen beerdigen muss, an die sich keiner erinnern wird. Es hilft mir auch, wenn ich daran denke, dass in nur wenigen Generationen die Erinnerung an jeden von uns verblasst sein wird.

Aber das ist weit weg – erst einmal freue ich mich an meinem Fotobuch und wandere in Gedanken noch einmal zurück in einen herrlichen Sommer. Was bleibt ist die Erinnerung.

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SWR2 Wort zum Tag

18SEP2023
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Manchmal bügele ich Geschirrhandtücher. Dann wird es kritisch. Das passiert an Tagen, da wünsche ich mir mein Haus ordentlicher, als es ist, und die Welt übersichtlicher. Ich wünsche mir Ordnung – und wenn es die schon im großen Ganzen nicht gibt, dann bitte wenigstens in meinem Küchenschrank.

Den Wunsch, die Welt möge einfacher sein als sie ist – den nehme ich zur Zeit vielerorts wahr. Manche hören einfach keine Nachrichten mehr. Andere stürzen sich in eine kleine, überschaubare Aufgabe. Ich habe den Eindruck: Auch wenn Menschen plötzlich rechtspopulistisch wählen, steckt dahinter – neben manchem anderen – ein Wunsch nach Klarheit. Aber die hat dann einen hohen Preis.

Das, was die Welt so kompliziert macht, blenden Populisten nämlich aus. Als wäre alles in Wirklichkeit ganz einfach. Oder am besten so wie früher. Kein Wort fällt dann zu dem, was früher gar nicht besser war. Manchmal wird die Suche nach einer ewigen und einfachen Ordnung geradezu gefährlich. 

Die Theologie hat damit ihre Erfahrungen gemacht. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Rede von „Schöpfungsordnungen“ unter lutherischen Theologen beliebt. Ehe, Obrigkeit und Kirche galten als in die Grundordnung der Welt eingeschrieben. Im Nationalsozialismus haben manche Theologen die Zahl der Schöpfungsordnungen dann erweitert – um so etwas wie Volk und Rasse. Biblisch findet sich das nicht. Aber viele Menschen haben es geglaubt.  Was gottgegeben schien, entpuppte sich auf fatale Weise als willkürlich gesetzt. Auf eine Schöpfungsordnung, auf der ich mich ausruhen kann, hoffe ich also lieber nicht.

Trotzdem: Die biblische Schöpfungsgeschichte spricht mich gerade dadurch an, dass sie davon erzählt, wie Gott die Welt ordnet: Er scheidet Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land. Aus Tohuwabohu entsteht eine Ordnung, die Grenzen hat und gut tut. Sie dient dem Leben. Was dort erzählt wird, setzt einiges an Kreativität voraus – und es setzt große Kreativität frei. Kein Wunder also, dass die Wörter Schöpfung – „creatio“ – und unsere Kreativität in einem direkten Zusammenhang stehen. Gottes Schöpferhandeln ist kreativ: Es erschafft Neues – und es ermutigt uns Menschen kreativ zu sein.

Meine liebevoll gebügelten Geschirrhandtücher – sie geben mir eine Pause, Klarheit und Ordnung. Damit helfen meiner Kreativität auf die Sprünge. Und die wird gerade gebraucht – meine, Deine, Ihre. Damit die Welt wieder etwas mehr in Ordnung kommt. Die Handtücher sind aber bloß Mittel zum Zweck. Man sollte sie nicht zum allgemeinen Gesetz machen wollen. Auch wenn das früher immer so war.

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SWR2 Wort zum Tag

28JUN2023
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„Willst du mitkommen?“, fragt mich eine Freundin, die zu einem Vortragsabend geht. Ohne nachzulesen, worum es geht, sage ich zu. Meistens hat sie einen guten Riecher. Auf dem Weg in den Saal begegnet mir eine amerikanische Touristin. Kurz überlege ich, zu fragen, ob ich ihr helfen kann; dann lasse ich es bleiben.

Als es losgeht, tritt die vermeintliche Touristin ans Rednerpult. Sie ist die Referentin des Abends. Und der Titel ihres Vortrags heißt: „Mist, die versteht mich ja! Aus dem Leben einer Schwarzen Deutschen“. Ich fühle mich ertappt und begreife an diesem Abend zum ersten Mal, wie subtil Rassismus funktioniert.

Florence Brokowski-Shekete ist Lehrerin und Schulamtsdirektorin in Schwetzingen – und sie ist Schwarz. In ihrem Vortrag erzählt sie aus ihrer Kindheit in Buxtehude, von ihren nigerianischen Wurzeln und wie es ist, mit ihrer Hautfarbe in Deutschland erfolgreich zu arbeiten. Sie kann über sich selber lachen – oft bricht ihr Humor aber auch die schmerzhaften Erfahrungen, von denen sie erzählt.

Freundlich erklärt sie, wieso es so schwierig ist, wenn jemand sie fragt, woher sie kommt. Oft steht dahinter nämlich eine ganz andere Frage: „Wieso sprichst du muttersprachlich Deutsch, wenn Du doch schwarz bist“? Sie ist Deutsche. Sie ist hier großgeworden und ist hier zuhause. Wenn die Leute nicht akzeptieren, dass sie aus Buxtehude kommt, steht damit jedes Mal auch infrage, ob sie denn nun wirklich dazugehört. Anders fühlt es sich für sie an, wenn jemand sie nach ihren Wurzeln fragt – dann erzählt sie gerne, auch von Nigeria.

Ich habe an dem Abend viel gelernt – vor allem über mich selbst: über die Prägungen, die ich mitbringe. Und ich habe zum ersten Mal nicht nur im Kopf, sondern vor allem mit dem Herzen verstanden, warum dieses oder jenes rassistisch ist. Es geht um unbewusste Haltungen, die anderen weh tun und schaden. Das tatsächlich einmal zu fühlen, das hat für mich den Unterschied gemacht.

Jesus ist für mich ein gutes Beispiel von jemandem, der offen auf Menschen zugegangen ist und so wirklich etwas verändert hat: Als er den Juden ausgerechnet einen Samaritaner als Beispiel vor Augen stellt. Als er zu Zachäus hingeht, mit dem sonst nie jemand gesprochen hat. In meinen Augen ist es das einzige Mittel, das in all den gesellschaftspolitischen Unsicherheiten, in denen wir gerade stecken, wirklich hilft: Miteinander reden – respektvoll und auf Grenzen bedacht, aber auch offen und neugierig. Wie fühlt sich das für dich an, wenn ich dies oder jenes sage? Die Frage will ich mir noch mehr zu Herzen nehmen.

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SWR2 Wort zum Tag

27JUN2023
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In den Pfingstferien war ich in Venedig. Ich habe mich verliebt in diese Stadt. Drei Tage war ich wie high und habe alles in mich aufgesogen: die Landschaft und die prächtigen Bauwerke, die Kanäle und die Kunst – alles, was Menschen an diesem Bilderbuchort erschaffen haben. Ja, die Touristenmassen sind fürchterlich. Aber all der Rummel konnte meine Begeisterung nicht schmälern: So beeindruckend war es, was es dort zu entdecken gab.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Die Frage schoss mir manchmal durch den Kopf. Worte aus Psalm acht sind das, der die Schönheit der Welt lobt und nach der Stellung des Menschen darin fragt. Der Psalmbeter kleckert in seiner Antwort nicht, er klotzt: 6Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, […] 7Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.

In Momenten wie dort in Venedig kann ich mich dem Lob anschließen: Großartig ist der Mensch und das, was er schaffen kann! Dann führt mich ein Spaziergang am Ufer der östlichen Altstadt entlang. Auf einmal stehe ich vor einem überdimensionalen Kriegsschiff; davor Soldatinnen und Soldaten in Ausgehuniform. Ein roter Teppich ist ausgerollt. Hoch über der Lagune thronen Kanonen. Der Anblick verstört mich. Ein kleines Schild erklärt, in welchen Kriegsgebieten das Schiff gerade unterwegs war. Jetzt ist die Stadtgesellschaft eingeladen, das Schiff zu besichtigen – als wäre es ein Museum.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Wo ich eben noch gestaunt habe, erschaudere ich. Im Mittelalter war das Gelände, an dem ich stehe, die erste industrielle Schiffsfabrik. Hier ließen die venezianischen Fürsten die Schiffe bauen, mit denen sie die Welt eroberten. „Arsenale“ heißt es auf Italienisch. Waffenarsenal – nicht nur der Begriff hat von hier aus die Welt erobert. Den Dichter Dante Alighieri hat das Fabrikgelände sogar zu seiner Darstellung der Hölle in der göttlichen Komödie inspiriert.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Himmel und Hölle – nicht nur in Venedig, sondern auch in uns Menschen liegen diese Gegenden ganz nah beieinander. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Das war in der Geschichte so, das ist heute so. Wir sind zum Schönsten und zum Schrecklichsten in der Lage. Gefährlich für die Welt wird es, wenn wir in unserem Handeln die Schattenseiten nicht mehr sehen. Gefährlich wird es aber auch, wenn wir das Staunen verlernen und den Blick für Schönheit verlieren. In Venedig kommt beides zusammen. Nicht nur deswegen ist die Stadt die Reise wert.  

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SWR2 Wort zum Tag

26JUN2023
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Ich liebe die deutsche Sprache. Ein Grund dafür sind die vielen Möglichkeiten, Hauptwörter zusammenzusetzen und so ganz neue Wörter zu schaffen. Zum Beispiel Beziehungswohlstand. Das Wort habe ich vor kurzem erst gelernt. Es bezeichnet einen Reichtum an Beziehungen. Was es in guten Beziehungen zu finden gibt, das kann man mit Geld nicht kaufen: das Gefühl dazuzugehören, die Gespräche, das Lachen, der gemeinsame Alltag. Umgekehrt geht Armut oft damit einher, von Beziehungsmöglichkeiten ausgeschlossen zu sein. Ich denke an die Frau im Pflegeheim, die kaum Besuch bekommt. Oder an die Mutter, die sich schämt, die Spielkameraden ihrer Kinder in die Wohnung zu lassen. Wer in diesem Sinne arm ist, bleibt außen vor.

Dass wir Menschen vor allem Beziehungswesen sind, gehört zentral zum christlichen Menschenbild. Der Augustinermönch Richard von Sankt Viktor nennt eine Person schon im 12. Jahrhundert ein „Voneinander-und-Füreinander-Sein“. Personen kommen voneinander her, und sie sind aufeinander hin angelegt. Sie kommen auch von Gott her und sind auf ihn hin angelegt. Dieses Denken unterscheidet sich grundlegend von Ansätzen, die sagen: Eine Person macht aus, dass sie vernunftbegabt ist oder sprachfähig, wie sich das seit der Aufklärung immer mehr durchgesetzt hat. Wenn aber dann jemand seinen Verstand verliert oder seine Sprache, dann bleibt mir eigentlich nur noch zu sagen: Das ist doch kein Leben mehr! Ich habe den Satz schon oft gehört, an Pflegebetten, im Trauergespräch. Ich denke ihn manchmal auch selbst, wenn ich mir vorstelle, dass es mir so gehen könnte. Aber ich weigere mich, dieser Angst das letzte Wort zu lassen. Und das ist nicht nur als Pfarrerin, sondern vor allem als Christin auch mein Job.

Das gilt umso mehr als mir immer wieder auch andere, schöne Beispiele begegnen: Der strenge Familienvater etwa, der in seiner Demenz seine Liebe endlich zeigen kann. Wir Menschen sind Voneinander-und-füreinander -Seiende. Das hängt nicht davon ab, was wir können oder leisten. Es ist uns zugesprochen mit dem Moment, in dem wir sind, bis zu unserem letzten Atemzug.

Eine der wichtigsten Aufgabe von Kirche und Gemeinde liegt für mich deshalb darin, der Beziehungsarmut etwas entgegenzusetzen.

Am letzten Samstag haben 13 Ehrenamtliche aus ganz Heidelberg den Kurs „Seelsorge als Begleitung“ abgeschlossen. 1,5 Jahre lang haben sie Grundlagen der Seelsorge gelernt. Engagiert und sensibel machen sie jetzt Besuche – an Geburtstagen, im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Sie tragen zum Beziehungswohlstand der Menschen bei – und werden dabei selbst oft reich beschenkt.    

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SWR2 Wort zum Tag

21SEP2022
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In meinem Garten sind gerade Walnüsse, Äpfel, Birnen und Quitten reif. Ohne dass ich irgendetwas dafür getan hätte. Ich finde das jedes Jahr wieder erstaunlich und freue mich über die Birne im Müsli oder über den Apfelkuchen. Dass das einfach alles so wächst – das ist schon ein ziemliches Wunder.

Für viele Bauern sah das mit der Ernte dieses Jahr anders aus. Der Mais ist vertrocknet, die Weizenernte war in manchen Regionen irre schlecht und die Winzer hatten in den letzten Jahren mit Pilzen und Schädlingen zu kämpfen, die es hier über eine lange Zeit gar nicht gab. „Erntedank? Fällt 2022 aus!“ hat die Süddeutsche Zeitung deswegen schon Mitte September getitelt.

Als ich in der Ausbildung zur Pfarrerin war – das ist noch keine zehn Jahre her – da hieß es immer mal, das Erntedankfest sei heute für die meisten Menschen ja kaum noch verständlich. Das hat mich schon damals nicht überzeugt. Ich komme aus einem Weingut und manche meiner tiefsten geistlichen Erfahrungen hängen mit der Ernte zusammen. Auf einem Anhänger voller schöner Trauben nach einem Tag Weinlese heimfahren – ich kann mir kaum eine tiefere Erfahrung von Dankbarkeit vorstellen.

Ich habe den Eindruck: Dieses Jahr ist besonders spürbar, welche Erfahrung hinter dem Erntedankfest liegen. Denn gute Ernten sind eben nicht selbstverständlich. Wir können uns bemühen, aber wir haben es nicht in der Hand. Auf einmal merken viele ganz deutlich, wie das ist, wenn die Ernte schlecht ist.

Deswegen finde ich: Erntedank sollte dieses Jahr nicht ausfallen: Ganz im Gegenteil. Ich glaube nämlich, dass der Dank für die Ernte viel mehr Menschen angeht als diejenigen, die ihn in Gottesdiensten stellvertretend für alle andern feiern. Statt also nur an einem Tag danke zu sagen, wie wäre es, wenn wir in diesem Jahr eine ganze Erntedankzeit ausrufen? Ich stelle mir vor, dass die nächsten zehn Tage lang, also bis zum Erntedankfest, einmal alle darauf achten, was andere für sie geerntet haben: All die Kartoffeln und Salatköpfe, die Zucchini und Tomaten, das Getreide, die Kaffeebohnen, den Tee und den Reis. Auch die Baumwolle, aus der unsere Kleider gemacht sind, und das Holz für unsere Möbel. Ich glaube, wir würden nochmal stärker wahrnehmen, wie sehr wir abhängen von dem, was wächst. Nicht nur im Garten hinterm Haus, wo ich mich über Äpfel und Birnen freue. Vermutlich würden wir tatsächlich ein bisschen dankbarer und damit auch behutsamer unseren Lebensgrundlagen gegenüber sein. Und das, das wäre doch ein guter Anfang.    

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