SWR2 Wort zum Tag

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06MRZ2024
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„Wo ist denn bloß die Zeit hin?“, frage ich mich manchmal, wenn ich auf die Uhr schaue. Der halbe Tag ist schon wieder vorbei und zu dem, was ich eigentlich machen wollte, bin ich noch gar nicht richtig gekommen. Immer wieder passiert mir das – und nur langsam und eher mühsam komme ich meinen Zeitfressern auf die Spur.

Aber dann bin ich plötzlich einem begegnet. Bei meinem Besuch vor ein paar Wochen in Cambridge stand ich auf einmal unmittelbar vor einem. An der Außenmauer des Corpus Christi College ist eine große Uhr angebracht – die „Corpus Clock“. Ganz oben auf dem Kunstwerk hockt ein widerliches Tier, eine Mischung aus Drache und Heuschrecke. Das Vieh frisst sich auf einem Zahnrad vorwärts. Mit jedem Ausgreifen seiner Krallen dreht es das Rad ein kleines Stück weiter. Dabei reißt es sein Maul im Sekundentakt auf. Chronophage heißt es auf Englisch. Zeitfresser. Er frisst die Sekunden – und mit ihnen die Minuten und Stunden. Unsere Lebenszeit. Das Kostbarste, was wir haben.

Vor dieser Uhr bekomme ich ein ziemlich klares Gefühl dafür, was es bedeutet, dass das Leben endlich ist. Manches ist unwiederbringlich vorbei. Die Uhr erwischt mich an einem sensiblen Punkt. Denn kurz vor der Reise hatte mir meine Freundin Fotos von unserem letzten gemeinsamen England-Aufenthalt geschickt. Gefühlt war das noch gar nicht lange her. 6 Jahre. Eben gerade erst. Und doch: Auf einmal sind die Haare grau und die eigenen Eltern alt. Wo ist denn bloß die Zeit hin?  

Time flies. Selten sehe ich das so plastisch wie dort. Es fühlt sich an, als würde der Zeitfresser mich selbst annagen. Das Kunstwerk hält aber auch noch eine andere Botschaft bereit: Noch selten habe ich eine so innovative Uhr gesehen. Sie kombiniert faszinierendes Ingenieurshandwerk und modernste Ästhetik; klassisch-goldene Farbe mit schicken blauen LEDs. „Nutz deine Zeit“ blinkt mir die Uhr entgegen, so vieles ist noch möglich … Mich darauf einzulassen, dass meine Lebenszeit endlich ist, das kann nämlich auch befreiend sein, kreativ werden lassen und mir helfen, manchen alten Trott zu durchbrechen.

Und was heißt das jetzt für meine alltäglichen Zeitfresser? Den Instagram-Account benutze ich gerade seltener. Und ich habe den ein oder anderen Besuch gemacht, bei Menschen, die mir wichtig sind. Die Zeit für das, was wirklich wichtig ist, die will ich meinen Zeitfressern nicht mehr ganz so oft ins Maul stopfen …

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