SWR2 Wort zum Tag

19SEP2023
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Diesen Sommer habe ich ein Fotobuch erstellt. Zum ersten Mal eine gedruckte Variante: Schöne Momente des Sommers, Wandern in den Alpen, ein Familienfest – alles ist festgehalten zum Anfassen und Aufschlagen. Wenn ich das Büchlein zur Hand nehme, spüre ich, wie sehr die Erinnerungen zu mir gehören – egal, was im Alltag gerade los ist.

Dieses Lachen, jenes Glas Sekt, „weißt Du noch?“ – schöne Augenblicke werden dadurch so wertvoll, dass sie einmalig sind. Ihren Geschmack und ihren Geruch, ihr Licht und ihren Klang auskosten und genießen – dabei helfen mir die Bilder.

„Was bleibt ist die Erinnerung“ heißt es in oft in Todesanzeigen oder in Trauergesprächen. Manchmal schwingt darin etwas Antireligiöses mit – so als würde eine religiöse Sicht der Dinge bloß davon ablenken wollen, dass das Leben endlich ist und manches unwiederbringlich vorbei.

Bei Navid Kermani habe ich gerade schöne Sätze dazu gelesen: „Wir sind sterblich und damit menschlich, aber in unserer Einzigartigkeit – ja, ausgerechnet in unserer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit und Undwiederholbarkeit – sind wir Teil einer unendlichen Vielfalt und damit göttlich.“ (Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, 14) Ja, denke ich: Diesen einen Augenblick gibt es nur in meinem Leben. Diese eine Berührung passiert nur zwischen mir und dir. Die Eindrücke meines Sommers sind der eine kleine Ausschnitt aus einer unendlichen Zahl von Konstellationen, die möglich gewesen wären. Geworden sind es diese. Meine.

Weil es so schön war, bin ich dankbar dafür. Manchmal staune ich darüber. Im Danken und im Staunen binde ich das, was war, zurück an die unendliche Vielfalt, an Gott. Das ist der Wortsinn von Religion: Religio, das heißt im Lateinischen zurückbinden, anbinden – an etwas Größeres. Darin steckt das Vertrauen darauf, dass auch das Größere sich an uns gebunden hat.

Was bleibt ist die Erinnerung. Ja, stimmt. Aber nicht bloß meine. Was bleibt ist unsere und Gottes Erinnerung. Er kennt die unendliche Vielzahl seiner Möglichkeiten und gibt keine davon verloren. Er bewahrt sie in sich und hat damit auch für meine Erinnerungen und Erfahrungen Raum. Der Gedanke hilft mir, wenn ich Menschen beerdigen muss, an die sich keiner erinnern wird. Es hilft mir auch, wenn ich daran denke, dass in nur wenigen Generationen die Erinnerung an jeden von uns verblasst sein wird.

Aber das ist weit weg – erst einmal freue ich mich an meinem Fotobuch und wandere in Gedanken noch einmal zurück in einen herrlichen Sommer. Was bleibt ist die Erinnerung.

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