SWR Kultur Wort zum Tag

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27JUN2023
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In den Pfingstferien war ich in Venedig. Ich habe mich verliebt in diese Stadt. Drei Tage war ich wie high und habe alles in mich aufgesogen: die Landschaft und die prächtigen Bauwerke, die Kanäle und die Kunst – alles, was Menschen an diesem Bilderbuchort erschaffen haben. Ja, die Touristenmassen sind fürchterlich. Aber all der Rummel konnte meine Begeisterung nicht schmälern: So beeindruckend war es, was es dort zu entdecken gab.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Die Frage schoss mir manchmal durch den Kopf. Worte aus Psalm acht sind das, der die Schönheit der Welt lobt und nach der Stellung des Menschen darin fragt. Der Psalmbeter kleckert in seiner Antwort nicht, er klotzt: 6Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, […] 7Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.

In Momenten wie dort in Venedig kann ich mich dem Lob anschließen: Großartig ist der Mensch und das, was er schaffen kann! Dann führt mich ein Spaziergang am Ufer der östlichen Altstadt entlang. Auf einmal stehe ich vor einem überdimensionalen Kriegsschiff; davor Soldatinnen und Soldaten in Ausgehuniform. Ein roter Teppich ist ausgerollt. Hoch über der Lagune thronen Kanonen. Der Anblick verstört mich. Ein kleines Schild erklärt, in welchen Kriegsgebieten das Schiff gerade unterwegs war. Jetzt ist die Stadtgesellschaft eingeladen, das Schiff zu besichtigen – als wäre es ein Museum.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Wo ich eben noch gestaunt habe, erschaudere ich. Im Mittelalter war das Gelände, an dem ich stehe, die erste industrielle Schiffsfabrik. Hier ließen die venezianischen Fürsten die Schiffe bauen, mit denen sie die Welt eroberten. „Arsenale“ heißt es auf Italienisch. Waffenarsenal – nicht nur der Begriff hat von hier aus die Welt erobert. Den Dichter Dante Alighieri hat das Fabrikgelände sogar zu seiner Darstellung der Hölle in der göttlichen Komödie inspiriert.

Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Himmel und Hölle – nicht nur in Venedig, sondern auch in uns Menschen liegen diese Gegenden ganz nah beieinander. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Das war in der Geschichte so, das ist heute so. Wir sind zum Schönsten und zum Schrecklichsten in der Lage. Gefährlich für die Welt wird es, wenn wir in unserem Handeln die Schattenseiten nicht mehr sehen. Gefährlich wird es aber auch, wenn wir das Staunen verlernen und den Blick für Schönheit verlieren. In Venedig kommt beides zusammen. Nicht nur deswegen ist die Stadt die Reise wert.  

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