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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

16NOV2024
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Ich bin in Vaihingen an der Enz aufgewachsen. Wir sind als Familie dort gelandet, weil mein Vater damals in der Nähe Arbeit gefunden hatte. Wir waren in der Kleinstadt erst einmal vollkommen fremd. Für meine Eltern gab es nach der Vertreibung aus Tschechien 1945 keine Heimat mehr. Sie kannten niemanden, egal wo sie hingekommen sind. Deshalb war die Kirchengemeinde St. Antonius in Vaihingen die erste Gemeinschaft, zu der sie Kontakt aufgenommen haben. Der Glaube an Jesus, die vertrauten Rituale im Gottesdienst, gemeinsame Gebete und andere Heimatvertriebene, die das gleiche Schicksal hatten wie wir, haben uns als Familie Halt gegeben. Ich habe schon als Kind gespürt, wie existentiell es ist, dazuzugehören. Mit anderen Menschen verbunden zu sein, sich füreinander zu interessieren, Freundschaften zu finden. Vaihingen/Enz als Stadt kann sich glücklich schätzen, weil sie jedes Jahr an Pfingsten ein Jahrhunderte altes Fest feiert: Den Maientag. Alle Bewohnerinnen und Bewohner sind eingeladen, als Menschen dieser Stadt ihre Gemeinschaft zu feiern. Dieses Jahr ist mir das besonders zu Herzen gegangen als mir ein Schwarzes Mädchen auf dem Marktplatz über den Weg gelaufen ist. Sie hatte ein rotblaues Kleid an. Das sind die Stadtfarben von Vaihingen. Im Haar ein wunderschön gebundenes Kränzchen aus echten Blumen und weiße Lackschuhe an den Füßen. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Für einen Moment war ich selbst wieder acht Jahre alt. Habe mich gesehen mit meinem rotblauen Kleid und dem Blumenkranz im Haar zum Maientag. Ich war glücklich damals. Beim traditionellen Umzug bin ich mit meiner Klasse mitgelaufen. Ich habe dazugehört. Zu dieser Schule. Zu dieser Stadt. Zur ökumenischen Gemeinde. Die ganze Stadt feiert an Pfingsten miteinander. Musikvereine, alle Sportvereine, Schulen, Stadtteilgemeinden, alle ausländischen Vereine. Menschen, die sich kennen oder auch nicht, wünschen sich auf der Straße „an scheena Maiadag“.

Zum Abschluss des Maientags am Pfingstmontag auf dem Vaihinger Markplatz singen alle, die gekommen sind: „Nun danket alle Gott. Mit Herzen, Mund und Händen.“ Ein Gänsehautmoment für mich. Weil ich etwas davon spüren kann, wie wir Menschen verbunden sind. Ganz gleich, welche Hautfarbe wir haben, welche Sprache wir sprechen und wo wir geboren sind.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

15NOV2024
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Der Vater eines meiner Schulkinder hat türkische Wurzeln. Er erzählt mir, wie er plötzlich angefeindet wird, obwohl er Deutscher ist und Steuern bezahlt wie alle anderen Arbeitnehmer auch. Bis vor wenigen Jahren sei das anders gewesen. Er hat das Gefühl, dass der Hass in den letzten Jahren gewachsen ist gegen alles, was nicht Deutsch klingt oder aussieht. Auch für mich hat sich etwas verändert. Bisher musste ich mich zu diesem Thema noch nie positionieren. Ich bin Demokratin und Christin. Es gehört sozusagen zu meiner DNA, dass jeder Mensch seine Meinung frei sagen darf. Dass jeder einzigartig ist und wertvoll. Ganz egal was er glaubt, woher er kommt und welche Sprache er spricht. Das war einfach immer klar. So habe ich das in meinem Elternhaus und in unserer Kirchengemeinde erlebt. So habe ich das in der Schule gelernt. Jeder Lehrer und jede Lehrerin wollte, dass wir lernen unsere Meinung zu sagen und dazu zu stehen. Dass wir lernen Unterschiede auszuhalten und respektvoll miteinander umzugehen. Auf einmal spüre ich, dass diese Selbstverständlichkeit in Gefahr ist. Und ich fühle mich aufgefordert laut zu sagen wieviel es mir bedeutet, frei sagen zu dürfen, was ich denke, mich nicht unterwerfen zu müssen und als Frau eine Position zu haben, wie sie meine Großmütter noch längst nicht hatten. Bemerkenswert daran ist, dass mein Bewusstsein für die Werte des deutschen Grundgesetzes auch geschärft wurde durch Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben – wie beispielsweise der Vater meines Schulkindes oder auch der Rapper und Schauspieler Eko Fresh. Seine Großeltern sind in den 60er Jahren als türkische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Eko Fresh ist in Köln geboren und hatte es als Kind und Jugendlicher nicht leicht. Er hat lange das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören, weil er immer wieder als „Kanake“ beschimpft wurde. Heute kann er trotzdem klar und deutlich sagen, warum er in Deutschland bleibt: Eko Fresh ist ein großer Fan unseres Grundgesetzes. Und er fordert von allen, die in diesem Land leben, dass sie genau dahinter stehen. Sie sollen zeigen, dass sie die Gesellschaft mitgestalten wollen. Als Wähler in einer Demokratie, als empathische Nachbarn und, als Eltern, die ihre Kinder freiheitlich erziehen. Ganz egal, woher sie kommen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

14NOV2024
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Was wäre, wenn wir uns für das Ende des Lebens genauso interessieren würden wie für den Anfang? Diese Frage hat mich neugierig gemacht. Der Palliativmediziner Steffen Eychmüller hat sie gestellt. Der Beginn eines Lebens hat unsere volle Aufmerksamkeit. Das habe ich bei der Geburt meines Enkels noch intensiver erlebt als damals bei der Geburt meines Kindes. Mein Sohn und seine Frau haben sich umfassend informiert. Was man während einer Schwangerschaft essen darf. Welcher Kinderwagen am besten ist, welcher Kindersitz fürs Auto. Die Hebamme haben sie sorgfältig gewählt. Und sie haben viel darüber gesprochen, was ihnen bei der Erziehung ihres Sohnes wichtig ist. Auch, wie sich ihre Beziehung als Paar verändern wird. Das ist so geblieben, seitdem der Junge auf der Welt ist. Was braucht er, dass er gut aufwachsen kann? Dass er lernt, was für das Leben wirklich wichtig ist? Ich finde richtig, wenn Kinder heute mit so viel Aufmerksamkeit ins Leben begleitet werden. Denn jedes Leben ist kostbar.

Umso mehr hat mich die Frage aufgerüttelt, was wäre, wenn wir uns für das Ende eines Lebens ebenso interessieren würden. Wenn wir selbstverständlich damit umgingen, dass unser Leben endlich ist. Dass wir uns von unseren Kräften und Fähigkeiten verabschieden müssen. Dass wir öfter krank werden können. Mein Vater ist 90 und mit ihm erlebe ich nach dem Tod meiner Mutter zum zweiten Mal, dass es mehrere Jahre dauert, um sich vom Leben wieder zu verabschieden. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die zeigen, wie ignorant unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht, die ihre letzten Jahre erleben. Zum Beispiel, wenn plötzlich nur noch per E-Mail kommuniziert werden kann obwohl alte Leute nicht selbstverständlich über digitale Medien verfügen. Oder wenn die Frau im Finanzamt nicht bereit ist, einem alten Mann die Vordrucke für die Steuererklärung zuzuschicken, sondern von ihm verlangt, sie selbst abzuholen. Mich überzeugt, was Steffen Eychmüller sagt: Es ist wichtig den Wert des Lebensendes neu zu definieren. Dass wir alte Menschen nicht als Last sehen. Sie haben ein Recht darauf, dass wir würdevoll mit ihnen umgehen in den letzten Jahren ihres Lebens. Lernen können wir dabei von den Kindern. Mich fasziniert jedes Mal, wenn mein Enkelsohn auf seinen Uropa trifft. Er begegnet ihm automatisch so andächtig und respektvoll, dass jeder sehen kann, wie wertvoll der alte Mann ist. Mit allem, was er in 90 Jahren erlebt hat.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

13NOV2024
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„Und ich bin gut so.“ Das steht auf einer Tasse in meinem Geschirrschrank. Sie ist eine meiner Lieblingstassen und sie erinnert mich daran, dass Gott mich so liebt und annimmt wie ich bin. Das klingt vielleicht kitschig und flach. So wie der Satz: „Jesus liebt dich“, der manchmal in Bahnhöfen auf riesigen Plakaten steht. Sozusagen als Werbung für den christlichen Glauben. Ich mag diese Plakate nicht. Aber der Gedanke, dass es eine Instanz gibt, die mich gut so findet, wie ich bin, lässt mich jedes Mal tief durchatmen. Ich muss nichts tun, ich muss mich nicht anstrengen, ich muss mich nicht verhalten, wie andere das gerne hätten – da ist einer, der mich lieb hat ohne Wenn und Aber. Ich nenne diese Instanz Gott. Und ich bin dankbar, dass ich Ihm glauben kann. Denn es gibt genügend Menschen, mich selbst eingeschlossen, die gar nicht finden, dass ich uneingeschränkt gut so bin. Den einen lache ich zu laut. Andere finden, ich bin zu emotional. Ich selbst ärgere mich, wenn ich im Klassenzimmer mit einem Kind zu schnell die Geduld verliere. Oder wenn ich was esse, das mir nicht gut tut.

Die Sehnsucht, dass mich jemand liebt, genauso wie ich bin, teile ich mit vielen Menschen. Wer Glück hat, erlebt dieses bedingungslose Angenommensein in einer Liebesbeziehung. Zumindest am Anfang, wenn beide verliebt sind. Manchmal haben auch Kinder das Glück, dass sie sich von ihren Eltern grenzenlos geliebt fühlen. Und jeder Mensch kann selbst daran arbeiten sich zu mögen, einverstanden zu sein mit sich und sich anzunehmen trotz aller Unvollkommenheit. Realistisch betrachtet ist das natürlich kein Dauerzustand. Als Mensch in dieser Welt bin ich unvollkommen, mache Fehler und ich verändere mich. Manchmal kann ich mich so mögen wie ich bin. Manchmal auch nicht. An manchen Tagen fühle ich mich von den Menschen um mich herum geliebt, so wie ich bin. An anderen Tagen merke ich, was sie an mir nervt. Dann spüre ich die Sehnsucht danach, dass ich für immer und ewig uneingeschränkt geliebt bin. Diese Sehnsucht erinnert mich an das Paradies. Ich glaube, dass ich dort ankomme nach meinem Tod. Dass meine Sehnsucht ein Hinweis ist auf die Wirklichkeit, die auf mich wartet. Diese Wirklichkeit, die ich Gott nenne. Bis dahin reicht es mir, von Zeit zu Zeit tief durchzuatmen, wenn ich daran denke, dass es eine Instanz gibt, die mich gut findet, genauso wie ich bin.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

12NOV2024
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Überraschend. Erstaunlich. Unfassbar. So kann das Leben manchmal sein. Wie das Leben von Johanna. Sie ist eine Kollegin. Mit 40, unverheiratet und kinderlos, hatte sie mit dem Thema Familie abgeschlossen. Und dann ist sie umgezogen in ein anderes Dorf, hat sich verliebt und wurde unerwartet schwanger. Ich weiß noch, wie sehr ich mich mit ihr gefreut habe. Johanna ist Grundschullehrerin und geht mit Kindern großartig um. Sie würde eine tolle Mutter sein. Und dann der Schock. Das Baby von Johanna und ihrem Mann ist kurz nach der Geburt gestorben. Das war nur schrecklich. Es war ein Moment, in dem ich mich wieder einmal gefragt habe, warum solche Schicksalsschläge sein müssen. Darauf gibt es keine Antwort. Ich weiß. Aber wenn es so hart kommt, stellt sich die Frage einfach. Die Beerdigung war trotz allem tröstlich. Getragen hat die Vorstellung, dass das kleine Mädchen als Sternenkind im Himmel einen Platz gefunden hat. Glauben zu können, dass sie bei Gott aufgehoben ist. Getragen hat auch die Gemeinschaft. Viele Menschen sind auf den Friedhof gekommen. Die Eltern waren nicht allein mit ihrem Kummer. 

Wenige Monate später wurde Johanna wieder schwanger. Ich habe ihren Mut bewundert. Wieder ist ein kleines Mädchen auf die Welt gekommen. Sie ist inzwischen zwei Jahre alt, quicklebendig und große Schwester von Brüdern, die als Zwillinge geboren sind. Für Johanna und ihren Mann gehört selbstverständlich auch ihr verstorbenes Kind zur Familie. Ihr Geburtstag wird gefeiert, ihr Todestag bedacht und ihr Grab sorgfältig gepflegt.

Wenn ich an Johanna denke, fällt mir immer die Liedzeile ein: „Wunder gibt es immer wieder…“. Unglaublich, wie sich ihr Leben gewendet hat. Was mich beeindruckt: Johanna hat das Leben immer genommen, wie es sich ihr gezeigt hat. Schmerzhaft, niederschmetternd, beglückend und wundervoll. Sie ist nicht stecken geblieben im Schmerz. Hat auch nicht damit gehadert, warum gerade ihr das passieren muss. Und sie hat mit zwei anderen Müttern einen Stammtisch gegründet, um ihre Erfahrungen mit Eltern teilen zu können, die auch ein Kind verloren haben. Nicht jeder Mensch ist so gesegnet. Und ich verstehe sehr gut, wenn Schicksalsschläge einen auch für lange Zeit aus der Bahn werfen. Aber ich wünsche jedem Menschen, möglichst nicht müde zu werden und daran zu glauben, dass Wunder immer wieder geschehen.

 

Stammtisch für verwaiste Eltern und Angehörige jeden ersten Dienstag im Monat um 20 Uhr im LTT-LOKAL Eberhardstr. 6 72072 Tübingen

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

11NOV2024
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Ich habe gelernt, um Hilfe zu bitten. Das ist mir schwer gefallen. Wenn ich für etwas Hilfe gebraucht habe, war mir das immer unangenehm. Zum Beispiel als Schülerin in Mathe. Da habe ich Nachhilfe gebraucht, weil ich Mathe nicht kapiert habe. Auch als ich anfing, ein Smartphone zu nutzen, hab ich das nicht alleine hingekriegt.

„Ich brauche Hilfe.“ Es hat gedauert, um diesen kleinen Satz offen aussprechen zu können. Unterstützt hat mich dabei eine Predigt, die ich vor vielen Jahren gehört habe. Das war während eines Gottesdienstes am 11. November zu St. Martin. Die Geschichte vom Heiligen Martin erzählen wir uns ja bis heute, weil er gerne geteilt hat und hilfsbereit war. Der Prediger damals hat sich interessanterweise mehr mit dem Bettler beschäftigt als mit dem Heiligen Martin. Und wortwörtlich gesagt: „Martin konnte nur helfen und etwas Gutes tun, weil da jemand war, der seine Hilfe gebraucht hat.“ Ich war baff. Das war ein außergewöhnlicher Perspektivwechsel. Der Gedanke war völlig neu für mich. Der arme Mann am Straßenrand, der Hilfe gebraucht hat, war wichtig und wertvoll. Weil Martin ohne ihn gar nicht hätte zeigen können, dass er hilfsbereit ist und gerne teilt.

Damals ist mir noch tiefer bewusst geworden, wie wir Menschen aufeinander angewiesen sind. Manchmal bin ich diejenige, die hilft und teilt. Manchmal brauche ich jemanden, der für mich da ist. Ich mag es noch immer nicht, wenn ich auf Hilfe angewiesen bin. Und ich schaffe es auch nicht immer, darum zu bitten. Wie vor Jahren als ich mit einem gebrochenen Zeh zu einer Untersuchung in die Klinik musste. Mit der Plastikschiene konnte ich zwar laufen, aber halt mehr schlecht als recht. Trotzdem habe ich mich entschieden lieber den Bus zu nehmen als jemanden zu fragen, der mich mit dem Auto fährt. Dann hat mich meine Nachbarin gefragt, wie ich in die Klinik komme. Auf meine Antwort hat sie liebevoll gesagt: „Nein, nein ich fahre dich. Ich steh um viertel vor 9 vor deiner Tür.“ Ich hab mich so gefreut und das Angebot gerne angenommen. Es ist wundervoll, wenn Menschen wie der Heilige Martin oder meine Nachbarin merken, dass jemand Hilfe braucht. Trotzdem übe ich weiter auch um Hilfe zu bitten, weil es menschlich ist, nicht alles alleine zu schaffen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

04MAI2024
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Mein Vater ist 89 Jahre alt. Das glaubt keiner, weil er viel jünger aussieht. Und weil er noch immer neugierig und wach ist. Auch im hohen Alter ist er offen für neue Erfahrungen. Das macht es für ihn aber nicht immer einfach: So wie kürzlich, als wir gemeinsam in einem Konzert waren. Es hat meinen Vater begeistert, wie der junge Pianist Beethovens 3. Klaviersonate interpretiert hat. „So frisch und jugendlich habe ich diese Sonate noch nie gehört“, hat er dann zu seiner Nachbarin im Konzertsaal gesagt. Die hat ihn entgeistert angeschaut und geantwortet: „Respektlos könnte man auch sagen“. Mein Vater war noch Tage später irritiert, welches Urteil sich die Dame über den jungen, begabten Künstler erlaubt hat.

Mein Vater ist offen und direkt und kann gleichzeitig sehr reflektiert auf sein langes Leben zurückschauen. Junge Menschen hören ihm auch deshalb gerne zu. Ich merke, wie gut ihm solche Situationen und so ein Austausch tun. Denn: Alt werden ist auch für ihn keine leichte Aufgabe. Vor Jahren habe ich das schon einmal mit meiner Mutter intensiv erlebt. Jetzt begleite ich meinen Vater dabei. Es ist schwer für ihn, dass seine Kräfte nachlassen, obwohl sein Verstand noch so wach ist. Das kleine Gartenbeet vor der Garage kann er plötzlich nicht mehr pflegen. Die Getränkekisten lässt er im Eingang stehen, bis jemand kommt, der sie in den Keller tragen kann. Für die Steuererklärung braucht er viel länger als früher. Wie schwer ihm das fällt, kann nur verstehen, wer sich in ihn hineinversetzt. Sieht man die Fakten denkt man schnell: Na so schlimm ist das nun wirklich nicht. Für ihn ist es schlimm, weil er sich langsam von seinen Kräften verabschieden muss. Außerdem ist ihm jeden Tag bewusst, dass der Tod nahe ist. Eben ohne genau zu wissen, wann er sterben wird.

Solange er noch so für sich sorgen kann, wie er das jetzt tut, ist das ein großes Glück. Alles, was doch noch geht, ist schön, nicht selbstverständlich: Die vielen Treppen steigen, in dem Haus, in dem er seit 55 Jahren wohnt. Selbst noch mit dem Auto einkaufen fahren können. Den Sommerflieder und die Hortensie vor dem Haus im Herbst schneiden. Ich wünsche ihm, dass er oft dabei denken kann: Danke! Dass das immer noch geht, auch wenn ich schon fast 90 bin.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

03MAI2024
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Da wo ich wohne, hat jemand auf einen geteerten Feldweg mit Kreide geschrieben: „Jesus ist toll. Jesus ist für uns am Kreuz gestorben, Jesus lebt.“ Und das auf einer Länge von etwa einem Kilometer. Was die Sätze für den Schreiber bedeuten, weiß ich nicht. In den zehn Minuten, in denen ich über diese Sätze gelaufen bin, ist mir meine eigene Geschichte mit Jesus und dem Kreuz durch den Kopf gegangen: In den 63 Jahren meines Lebens ist Vieles schwierig gewesen und oft hat mich das Kreuz getröstet. Trotzdem habe ich mir immer wieder gewünscht, dass das Leben aufhört schwierig zu sein. Ich wollte sorglos und glücklich sein. Manche Erinnerungen an schwere Zeiten hätte ich am liebsten aus meinem Gehirn gelöscht. Zum Beispiel die Erinnerung an meine Schwangerschaft. Ich war damals noch sehr jung, hatte gerade angefangen zu studieren. Ich könnte viel darüber erzählen, was mich damals belastet hat. Das ist lange vorbei und heute bin ich froh, wie alles geworden ist: Mein Sohn ist ein wunderbarer Mann und Vater. Er ist lebenstüchtig, gesund. Ein ehrlicher Mensch. Und wir haben eine gute Beziehung zueinander. Er wirft mir nicht mehr vor, was ich als Mutter alles versäumt habe. Alles gut, könnte ich sagen. Wenn ich nicht immer wieder in bestimmten Situationen traurig wäre. Zum Beispiel wenn ich sehe, wie aufmerksam er mit seinem kleinen Sohn ist. Das konnte ich damals mit ihm so nicht sein.

Mir hilft es dann, wenn ich mit meinem alten Vater darüber spreche. Er ist 89 und stellt auch für sich fest, dass alles, was er jemals erlebt hat, bleibt. Je älter er wird, desto intensiver ist die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend. Alles ewig vorbei und doch ist Vieles so präsent, als wäre es gestern gewesen. Wenn er das so erzählt begreife ich einmal mehr: Nichts geht verloren. Kein Glück und keine Freude, aber auch keine Traurigkeit und kein Schmerz. Ich habe gelernt zu würdigen, dass ich gewachsen bin mit allem, was schwierig war. Der gekreuzigte Jesus ist für mich dabei ein hilfreiches Bild. Die Not, der Schmerz - auch das ist Leben.

Als die Kreide-Sätze auf dem geteerten Feldweg zwischen den Äckern vor meinem Wohnort aufhören, schaue ich zurück. Sehr dankbar für alles.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02MAI2024
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Ich hatte immer Angst vor Prüfungen. Ganz schlimm waren mündliche Prüfungen. Ich seh mich noch als wäre es gestern gewesen. Beim mündlichen Abitur in meinem braunen Kleid. Alles, was ich gelernt hatte, war wie weggeblasen. Später dann, im Theologiestudium, hatte ich viele mündliche Prüfungen. Einer der Professoren war noch dazu bei allen Studierenden gefürchtet. Ich wusste: Mit so viel Angst würde ich die Prüfung nie bestehen. Damals habe ich entschieden, in die Sprechstunde des Professors zu gehen. Ihm zu sagen, dass ich Angst vor ihm habe und dass mir dann nichts mehr einfällt. Es war eine gute Entscheidung, mit ihm zu sprechen. Mein Mut hat ihn beeindruckt. Er hat mir zugehört und war freundlich. Auch in der Prüfung. Und ich konnte zeigen, was ich in seinem Fach verstanden hatte.

Diese Erfahrung war wegweisend für mich. Als junge Studentin habe ich es noch als Schwäche empfunden, dem Professor von meiner Angst zu erzählen. Ich habe mich dafür geschämt. Später habe ich erkannt, wie mutig und stark ich damals war. Ich bin zu mir gestanden.

Heute weiß ich, dass es eine meiner Stärken ist, zu Menschen ehrlich zu sein. Anzusprechen, was los ist, obwohl etwas manchmal nur unterschwellig im Raum steht. Direkt etwas zu benennen und nicht um den heißen Brei zu reden. Nicht nur, wenn es um mich selbst geht, wie damals vor der Prüfung. Ich mache das heute zum Beispiel auch im Gespräch mit Kollegen. Einer, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat mit der Zeit immer verwahrloster und unglücklicher ausgesehen. Ich habe ihn direkt darauf angesprochen und offen gefragt, wie es ihm geht. Ohne zu urteilen. In diesem Fall war der Kollege dankbar und hat erzählt, was ihn bedrückt. Anschließend hat er sogar den Mut gefunden, sich Hilfe zu holen.

Direkt und ehrlich bin ich aber nicht nur im Konfliktfall. Ich habe mir auch angewöhnt, anderen zu sagen, was ich an ihnen mag oder wenn mir etwas gut tut. Das sage ich manchmal sogar Menschen, die ich gar nicht kenne. So wie vor kurzem der Verkäuferin an der Käsetheke, weil sie mich ausgesprochen freundlich bedient hat. Sie hat gelacht und sich für das Kompliment bedankt. Es war ein schöner Moment – für uns beide.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01MAI2024
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Heute ist Feiertag. Viele können sich am Tag der Arbeit Zeit nehmen; um auszuruhen oder um sich an den Kundgebungen zum 1. Mai zu beteiligen. Ich möchte heute von Menschen erzählen, die sich bei ihrer Arbeit eine ganze Menge gefallen lassen müssen. Dafür aber nicht auf die Straße gehen.

Mir fällt ein Busfahrer aus Tübingen ein. Er erzählt, dass er alle Fahrgäste freundlich grüßt, wenn sie in seinen Bus steigen. Und ist schockiert, weil immer weniger Leute seinen Gruß erwidern. Er wünscht sich, dass die Leute auch ihn anschauen und grüßen, weil sie ihm so nah kommen in seinem Bus auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.

Und ich denke an den Koch in unserer Schulmensa. Er kocht gerne. Kommt oft in den Speisesaal um zu fragen, ob es den Kindern schmeckt. Und muss dann zum Beispiel erleben, wie sich ein Junge den Quark vom Nachtisch ins Gesicht schmiert und Grimassen macht. Der Koch fragt ihn noch, warum er das tut. Aber der Junge streckt ihm nur die Zunge raus. Der Koch geht kopfschüttelnd in die Küche zurück. Eine Erzieherin sorgt immerhin dafür, dass der Junge den Koch um Entschuldigung bittet.

Oder die Sprechstundenhilfe in einer Arztpraxis. Sie hat alle Hände voll zu tun. Zwei Notfälle innerhalb einer Stunde haben den ganzen Behandlungsplan zerhauen. Einem der Patienten fällt nichts anderes ein als die Sprechstundenhilfe zu beschimpfen und ihr lautstark Vorwürfe zu machen. Weil er warten muss.

Mein Friseur erzählt, dass immer häufiger Kunden ihre Termine nicht absagen. Für ihn ist das verlorene Zeit und verlorenes Geld. Und aus meiner Autowerkstatt höre ich, dass es Leute gibt, die ihre Rechnungen monatelang nicht bezahlen.

Immer sind es Menschen, die für andere da sind, ihre Arbeit gut machen und dann unwürdig behandelt werden. Oft lassen sie sich das widerspruchslos gefallen. Ich finde es großartig, wenn sich andere dann einmischen und sich für sie stark machen, wie die Erzieherin in der Schulmensa. Aber ein freundlicher Gruß für den Busfahrer; ein Dankeschön für den Koch; mehr Verständnis für die Sprechstundenhilfe; Verbindliche Termine beim Friseur und die Rechnung für den Automechaniker nicht verschleppen – ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Und würde so viel ändern.

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