Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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02DEZ2023
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Es war letztes Jahr, mitten im Advent. Ich stehe am Postschalter und rege mich auf, weil ich lange warten muss. Ich hab’s außerdem ziemlich eilig und die Päckchen sollen ja rechtzeitig vor Weihnachten ankommen. Ich bin gestresst, getrieben – und eigentlich sauer auf mich, dass ich so bin.

Jetzt ist wieder Advent. Morgen zünde ich die erste Kerze am Adventskranz an. Die Situation am Postschalter vom letzten Jahr fällt mir pünktlich zu Beginn der Adventszeit wieder ein. Vielleicht auch deshalb, weil mir das so oder ähnlich immer wieder passiert. Eigentlich wäre ich in solchen Stress-Momenten viel lieber gelassen. Weil ich sie ohnehin nicht ändern kann. Und weil sie mich Kraft kosten. Völlig unnötig. Damals habe ich mit einer Seelsorgerin darüber gesprochen, wie ich mich erlebt habe.

Ihre erste Frage war: „Sind Sie bereit für ein Experiment?“ Ich lasse mich darauf ein und bin überrascht. Ich soll die Situation zunächst genau so nehmen, wie sie war. In diesem Fall bedeutet das: bewusst erleben wie getrieben ich mich gefühlt habe und wie atemlos ich war. Ohne das zu bekämpfen und schrecklich zu finden. Das ist schwierig. Denn viel lieber will ich ja eben nicht fühlen, wie gestresst ich bin. Umso erstaunlicher, was ich dabei erlebe: Wenn ich zulassen kann, was ist, ohne das zu bewerten, werde ich schon ruhiger. Ich kann tief durchatmen und bei mir ankommen. Schon nach wenigen Minuten habe ich wieder fühlen können, dass ich mehr bin als diese Frau, die gerade gestresst und erschöpft am Postschalter steht. So als wäre ich aus einem engen, dunklen Raum durch eine Tür gegangen in einen anderen Raum, der grenzenlos ist, hell und still. Ich habe Abstand gewonnen zu der gestressten Frau. Und dieser kleine Abstand hat genügt, um ruhig zu werden und mich wieder lebendig zu fühlen.

Ich nenne diesen hellen Raum meine Mitte. Ich gelange zu ihm, wenn ich Situationen genau so nehme, wie sie sind. Es ist ein Raum in dem ich einverstanden bin mit mir. Es ist ein Raum, in dem ich erlebe, dass Gott in meinem Leben, in mir selbst da ist. Und dieses Ankommen bei mir selbst und bei Gott ist zutiefst adventlich.

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