Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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29NOV2023
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Der Krieg im Nahen Osten beschäftigt mich. Jeden Tag. Ich war vor 18 Jahren zu einer Studienreise in Israel. Und habe hautnah erlebt, wie verhärtet der Konflikt ist. Sowohl im Gespräch mit Juden als auch im Gespräch mit Palästinensern habe ich so viel Schmerz und Trauer erlebt. In Tel Aviv habe ich einen Mann getroffen der durch einen Selbstmordattentäter der Hamas seine ganze Familie verloren hat. In Ostjerusalem habe ich eine palästinensische Familie kennen gelernt, deren Haus von Israelis platt gewalzt wurde. Es war schrecklich. Dass es trotz allem immer noch viele Juden und Palästinenser gibt, die friedlich miteinander leben, ist bemerkenswert.

Auf dieser Studienreise damals habe ich Jehuda Bacon kennengelernt. Er hat den Holocaust überlebt, ist inzwischen 94 Jahre alt und lebt noch immer in Jerusalem. Nie wieder hat mich eine Begegnung mehr beeindruckt. Er war 13 als seine ganze Familie in deutschen Konzentrationslagern umgebracht worden ist. Bis heute erinnert er sich an alles, was er erlebt hat und spricht darüber. Ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe, ohne Hass. Wie er das geschafft hat? Er sagt, dass er damals begriffen hat: Unrecht geschieht immer an Menschen. Ganz gleich ob Israeli oder Palästinenser. Außerdem: Hass bringt uns nicht vorwärts und gibt auch keinen Sinn im Leben. Ein Buch über die Geschichte von Jehuda Bacon trägt den Titel: „Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden.“ Als Christin und geboren als Deutsche nach 1945 habe ich mich längst entschieden: Mit Gewalt, Hass und Rache will ich keine Konflikte lösen. Das leitet mich bis heute. Auch bei meiner Arbeit in der Schule. Jeden Tag arbeite ich mit Kindern daran, wie wir Konflikte lösen können. Dass wir einen Streit verstehen und schauen, wer welchen Anteil daran hat. Wer wen um Entschuldigung bitten muss und gegebenenfalls für eine Wiedergutmachung sorgen muss. Dabei erlebe ich, wie viel Zeit und Energie wir auch für kleine Konflikte brauchen, wenn z.B. jemand ein anderes Kind beleidigt hat. Weil er dessen Namen veräppelt hat. Und sehr oft erlebe ich, dass die Kinder merken und spüren: Es ist befreiend, sich eben nicht zu rächen und zu hassen.

Jehuda Bacon, Manfred Lütz: Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden. Gütersloher Verlagshaus 2016

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