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08MAI2024
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„Was macht Menschen glücklich?“ - das untersucht eine Langzeitstudie der Universität Harvard seit über 80 Jahren. 1938 haben die Forschenden mit der Studie begonnen. Seitdem haben sie über 2000 Männer und Frauen zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Leben gefragt: Was macht Sie glücklich? Die Haupterkenntnis, die sie dabei gewonnen haben, ist: der Schlüssel zu einem glücklichen Leben sind Beziehungen.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, erfüllende Beziehung zu anderen Menschen tragen entscheidend dazu bei, dass es einem selbst gut geht. Wer sich jeden Tag darum bemüht eine Verbindung zu einem anderen Menschen aufzubauen, der hat gute Chancen während und am Ende des Lebens glücklich und zufrieden zu sein. Das muss nicht unbedingt eine partnerschaftliche Beziehung sein. Eine positive Wirkung haben auch der Kontakt zu Freunden oder Gespräche mit Fremden. Und es kommt wohl auch gar nicht unbedingt so sehr darauf an, was man gemeinsam tut. Hauptsache ich trete immer wieder in Verbindung zu anderen.

Ist es also gar nicht so schwer glücklich zu sein? Ich glaube, dass klingt einfacher als es im Alltag oft ist.

Ich stelle es mir besonders herausfordernd vor, wenn man allein lebt, und ein regelmäßiger Kontakt zu Freunden oder zur Familie sich im Alltag nicht so ohne weiteres ergibt. Vielleicht, weil man selbst sehr beschäftigt ist, oder die anderen wenig Zeit haben. Weil wichtige Menschen weit weg leben oder ein nahestehender Mensch verstorben ist. Dann kostet es Mühe und Aufwand, immer wieder die Verbindung zu suchen. Vielleicht besteht auch die Angst, sich anderen zuzumuten, mit allem, was einen beschäftigt oder wie man gerade drauf ist.

Aber manchmal ist es auch gar nicht so einfach, wenn ich in einer Partnerschaft oder Familie lebe. Die Eltern haben auf der Arbeit viel zu tun, die Kinder sind in der Schule gefordert und nebenher sollte noch der Haushalt erledigt werden. Und dann gibt es da noch das Handy, das uns immer wieder lockt.

Zeit und Aufmerksamkeit habe ich nur begrenzt und ich muss mich entscheiden, wem oder was ich sie widme: gleich heute melde ich mich mal wieder bei einem guten Freund, das nächste Mal steige auf das Gesprächsangebot des Nachbarn ein. Und ich nehme mir vor, wenn ich unterwegs bin die Menschen und nicht mein Smartphone anzuschauen. Danke, liebe Harvard-Studie, dass du mich daran erinnert hast, was eigentlich auch ohne dich gewusst habe: mit Menschen in Verbindung sein macht glücklich:  mich – und hoffentlich auch die anderen. 

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07MAI2024
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Himbeere oder Heidelbeere? Ich zögere kurz, nehme das Glas Himbeerjoghurt aus dem Kühlregal und packe es in meinen Einkaufswagen. Eigentlich wollte ich Erdbeerjoghurt kaufen, aber der ist aus. Früher hätte ich vermutlich länger für diese Entscheidung gebraucht. Aber in einem Seminar habe ich den Tipp bekommen, bei solchen kleinen Entscheidungen nicht zu lange nachzudenken. Der Dozent hat gemeint: Trainieren Sie ihren Entscheidungsmuskel in den alltäglichen Situationen, dann werden Ihnen auch größeren Entscheidungen leichter fallen.

Ich brauche oft lange, um eine Entscheidung zu treffen. Ich versuche alle Vor- und Nachteile abzuwägen, möchte sicher sein, welche der möglichen Optionen die richtige ist. Das ist prinzipiell nichts Schlechtes. Das Problem ist nur: Ich vertage die Entscheidung und denke immer mal wieder darüber nach, ohne wirklich weiterzukommen. Das belastet mich. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich nicht mutiger und entscheidungsfreudiger bin. Woher kommt dieses Zögern? Ich glaube es ist die Angst, mich für das Falsche zu entscheiden.

 Aber oft gibt es gar kein falsch. Die meisten Entscheidung muss ich zwischen zwei Dingen treffen, die beide gut sind: so wie Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt. Beide werden mir vermutlich schmecken.

Dieser Gedanke, dass ich bei den meisten Entscheidungen zwischen zwei guten Dingen wählen darf, war mir lange nicht bewusst. Mein Doktorvater mich damals darauf hingewiesen, als ich hin- und herrissen war, ob ich meine Promotion fortsetzen oder direkt ins Berufsleben einsteigen soll. Damals hat er gemeint: „Denken Sie daran, Sie entscheiden sich zwischen zwei guten Optionen, nicht zwischen einer guten und einer schlechten!“. Ich habe damals entschieden, meine Doktorarbeit weiterzuschreiben, und es unterwegs manchmal bereut. Im Nachhinein betrachtet kann ich mit der Entscheidung gut leben. Wahrscheinlich wäre das aber auch der Fall, wenn ich mich andersherum entschieden hätte.

Daran denke ich immer wieder, wenn eine Entscheidung ansteht. Und dann versuche ich, eine mutige Wahl zu treffen. So komme ich voran und trainiere gleichzeitig meinen Entscheidungsmuskel. Auch dann, wenn es um mehr als nur um Himbeer- oder Heidelbeerjoghurt geht.

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06MAI2024
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Es war ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für einen Papst.  Am 6. Mai 2001, heute vor 23 Jahren, hat Papst Johannes Paul II. als erster Papst in der Geschichte eine Moschee betreten.  Zusammen mit dem damaligen Großmufti von Syrien hat er die Umayyadenmoschee in Damaskus besucht. Seite an Seite, jeder auf seinen Stock gestützt, haben die beiden über 80jährigen Männer gemeinsam den Gebetsraum betreten und damit ein Zeichen für Frieden und Verständigung zwischen Islam und Christentum gesetzt.

Der Großmufti hat in seiner Ansprache betont, dass die Religion die Menschen nicht zu Hass und Feindschaft aufrufen soll, sondern dazu, zusammenzukommen, sich kennenzulernen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Dem hat sich der Papst angeschlossen und gefordert, die beide Religionen sollten jungen Menschen vermitteln, andere zu respektieren und sie besser zu verstehen, damit sie ihre eigene Religion nicht dazu missbrauchen, um Hass und Gewalt zu fördern oder zu rechtfertigen.

Das Treffen wird damals live im syrischen Staatsfernsehen übertragen, und die Bilder gehen um die Welt. Im selben Jahr, nur wenige Monate später, erschüttern die islamistischen Anschläge vom 11. September die Welt. Im anschließenden „Krieg gegen den Terror“ sterben unzählige Menschen, die meisten von ihnen Muslime. Zehn Jahre später bricht in Syrien ein schrecklicher Bürgerkrieg aus, in dem der syrische Präsident Assad auf sein eigenes Volk schießen lässt.

Ich frage mich, was solche Zeichen des Dialogs wie der Moscheebesuch des Papstes bewirken können. Sind sie stark genug, um Hoffnung zu geben für ein besseres Miteinander auf unsere Erde?

In seiner Ansprache antwortet der Papst damals genau auf diese Frage. Er sagt: „Jede Person und jede Familie kennt Zeiten der Eintracht und dann wieder Augenblicke, in denen der Dialog zusammengebrochen ist. Die positiven Erfahrungen müssen unsere Hoffnung auf Frieden stärken, und den negativen Erfahrungen darf es nicht gelingen, diese Hoffnung zu untergraben.“

Ich möchte mir meine Hoffnung nicht rauben lassen. Auch wenn ich mich machtlos fühle, angesichts dessen, was gerade im Nahen Osten passiert. Dieser Konflikt wirkt sich auch auf unsere Gesellschaft aus, und ich merke wie viele Schritte des Dialogs hier noch zu gehen sind. Ich habe erfahren, dass Dialog nur funktioniert, wenn wir miteinander reden und uns gegenseitig kennenlernen. Dazu müssen wir uns aber begegnen. Ein Schritt dazu könnte sein, einfach mal die nächstgelegene Moschee zu besuchen.

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04MAI2024
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Glauben heißt vertrauen - ohne Beweise, dass es wirklich etwas Vertrauenswürdiges gibt. Das ist das Dilemma des Christentums und eigentlich jeder Religion. In einer Welt, die sich in ganz vielen Zusammenhängen rational begründet, fordern Menschen Beweise ein. Der Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard hat den Glauben mit einem Sprung verglichen. Man muss sich trauen zu springen, auch ohne Garantie und Sicherheit, dass am Ende des Sprungs fester Boden ist. Aber wer traut sich schon zu springen, wenn es so ein Risiko ist?

Mir hilft dabei die biblische Geschichte von Thomas. Der steckt nämlich auch in einem Dilemma. Seine Freunde behaupten Dinge, für die es keinerlei rationale Grundlage gibt:  

Einige Tage nach Jesu Tod am Kreuz haben sie Jesus angeblich wieder gesehen.
Abends saßen sie zusammen, als Jesus zu den trauernden Gefährten gekommen ist.
Friede sei mit euch!“, ist das Einzige, was Jesus sagt. Er erklärt nichts, sagt sonst nichts, ist einfach da und dann auch schon wieder weg. Die Jünger und Freundinnen von Jesus sind erschrocken und verwirrt. Aber sie sehen seine Wundmale und glauben ihm. Thomas ist an dem Abend aber nicht dabei und sagt klipp und klar, dass er das alles erst glaubt, wenn er selbst in die Wundmale von Jesus gefasst hat.  

Eine Woche später kommt Jesus noch einmal zu den Gefährten zurück. Wieder sagt er: „Friede sei mit euch!“ Und er zeigt Thomas seine Wundmale und lässt ihn in seine Seite fassen und seine Wunden spüren. Da glaubt Thomas.
Jesus sagt ihnen, dass sie von nun an ohne Beweise auskommen müssen. Und er erklärt dem Thomas: „Weil du mich gesehen hast, hast du geglaubt. Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben!“ (Johannes 20,29).

Von da an haben die Gefährten rund um Jesus erzählt, was passiert ist. Sie sind Zeugen und Botschafterinnen der Auferstehung geworden. Wenn Menschen in der Osterzeit und danach an den Tod von Jesus erinnern und die Auferstehung feiern, dann vertrauen sie bis heute auf die alten Zeugenberichte und trauen sich zu springen, -  ganz ohne Beweise und Sicherheit. Sie tun es einfach. Wer vertraut, kann Überraschendes erleben. Und wer springt, kommt irgendwo an. Manchmal ganz woanders, als gedacht.

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03MAI2024
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Seit Anfang des Jahres steht in meinem Büro in der Mainzer Hochschulgemeinde ein nagelneues knallrotes Sofa. Ein echter Hingucker. Schnell ist es zum neuen Lieblingsort für viele Menschen geworden. Planungstreffen für kleine Gruppen, Seelsorge und Beratungen… alles findet plötzlich auf dem roten Sofa statt. Und das beste: Die Polsterung ist so gut, dass niemand in dem Sofa versinkt. Kaffee, Tee, Obst und Kekse können in aufrechter Haltung genossen werden. Ich könnte es mir gar nicht besser wünschen.

Dabei war das gute Stück gar keine geplante Anschaffung gewesen. Wir haben es geschenkt bekommen. Von der Oma einer Studentin. Die hatte sich beim Einrichten ihres Wohnzimmers mit den Maßen vertan und erst bei der Anlieferung festgestellt, dass ein neuer Schrank und ein neues Sofa zusammen leider nicht ins Wohnzimmer passen.
Was also tun? Zurückgeben? Umtauschen?

Die Enkelin – eine unserer aktiven Studentinnen - hatte eine bessere Idee. „Wie wäre es, wenn du das Sofa der Hochschulgemeinde schenkst?“, hat sie die Oma gefragt. Nach Rücksprache mit mir und einer diesmal sorgfältigen Ausmessaktion haben schließlich alle Seiten eingewilligt. 
Zwei Studierende haben das Sofa angeliefert und gemeinsam in mein Büro geschleppt.
Und es hat sich gelohnt. Auch die Oma ist zufrieden. Als sie gehört hat, dass das rote Sofa bei den Studierenden beliebt ist für Besprechungen aller Art, hat sie wohlwollend genickt und der Enkelin erklärt: „So sollte es wohl sein. Erst bin ich genervt gewesen, weil ich falsch gemessen habe. Aber manchmal muss man wohl einen Fehler machen, damit sich die eigentliche Bestimmung einer Sache zeigt.“
Recht hat sie! Und das ist nicht nur bei einem roten Sofa so. Manchmal braucht es Umwege, falsche Lieferungen, scheinbare Missverständnisse oder Unverhofftes, damit eine Sache gut wird. Das rote Sofa wird mich jedenfalls auch in Zukunft daran erinnern, dass gerade das, was gar nicht im Blick war und nicht geplant gewesen ist, sich am Ende genau als das erweist, was es gebraucht hat.

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02MAI2024
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Mit Maiglöckchen läutet das junge Jahr seinen Duft / Der Flieder erwacht aus Liebe zur Sonne / Bäume erfinden wieder ihr Laub und führen Gespräche / Wolken umarmen die Erde mit silbernem Wasser / (…) /

Der Wonnemonat Mai ist in vielen Gedichten und Liedern besungen worden. So wie von Rose Ausländer, die ich gerade zitiert habe. Der Mai gilt als der Frühlingsmonat. Die Vögel zwitschern, die Tage sind heller, die Natur ist erwacht und zeigt sich nach der Blütezeit in frischem Grün an Büschen und Bäumen. Die Maiglöckchen grüßen von den Wiesen und die Sonnenstrahlen werden stärker und vertreiben endgültig die Macht des Winters.
Auch wenn warme Tage aufgrund des Klimawandels immer früher im Jahr kommen, bleibt der Monat Mai doch derjenige, der sprichwörtlich für Frühlingsenergie und Zuversicht steht. Der Monat Mai ist damit auch der beste Zeuge von Gottes guter Schöpfung, die im Psalm 104 besungen wird. Da heißt es:

16 Die Bäume Gottes stehen voll Saft, die Zedern des Libanon, die Gott gepflanzt hat. 17 Dort nisten die Vögel, und die Störche wohnen in den Wipfeln. 

Aber nicht nur die Natur genießt das Licht und die Frühlingsenergie, auch die Menschen tun das. Diese Energie macht es für viele einfacher, wieder Kontakt mit anderen aufzunehmen.  Wer sich im Winter eingeigelt hat, bekommt nun doch langsam wieder Lust die Nase ins Freie zu stecken, andere Menschen zu treffen und wieder aktiv am Leben teilzunehmen. So sagt es auch Rose Ausländer in ihrem Gedicht über den Mai. Sie schreibt weiter:

„Es ist Zeit sich zu freuen an atmenden Farben / zu trauen dem blühenden Wunder / Ja es ist Zeit sich zu öffnen / allen ein Freund zu sein und das Leben zu rühmen.“  (Mai II)

Für viele Menschen kommt im Mai die Hoffnung und Zuversicht zurück. Und die Natur bleibt trotz aller Krisen diejenige, die uns das Überleben vormacht. Das Leben geht weiter. Das versprechen auch die biblischen Worte von Gottes Schöpfung, wenn trotz aller Konflikte und Katastrophen immer wieder Neues entsteht und Neuanfänge gelingen können.

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„Gleicher Lohn für alle!“ Diese Forderung wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten erhoben. Auch heute, am traditionellen Tag der Arbeit, könnte sie wieder laut werden. Noch immer verdienen Frauen in vielen Bereichen für dieselbe Arbeit deutlich weniger als Männer. Wer sich über dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle aufregt, hat noch nicht gehört, was für eine Aufregung das durchgezogene Prinzip „Gleicher Lohn für alle“ in einer biblischen Geschichte aus dem Neuen Testament verursacht.

Da erzählt Jesus einmal von einem Weinbergbesitzer, der in der Erntezeit Saisonarbeiter anheuert. Früh am Morgen nimmt er etliche unter Vertrag und sichert ihnen, sagen wir den derzeit gültigen Mindestlohn von 12,41 € in der Stunde zu. Im Tagesverlauf nimmt er noch mehrmals weitere Zeitarbeiter unter Vertrag, allerdings ohne mit ihnen eine Bezahlung zu vereinbaren. Sie sind wohl froh, dass sie überhaupt Aussicht auf ein paar Groschen haben. Am Abend zahlt der Weinbergbesitzer den Tageslohn bar aus. Jeder Arbeiter bekommt, und zwar unabhängig von der Zahl der Stunden, die er gearbeitet hat, exakt 124,10 €. Da kommt es zu lautstarken Protesten unter denen, die von morgens bis abends geschuftet haben. Sie fühlen sich betrogen, ungerecht behandelt. Der Arbeitgeber lässt sich aber nicht beirren und sagt ganz ruhig: Ihr habt bekommen, was vereinbart war. Warum seid ihr jetzt also unzufrieden?  Weil ich so gütig bin?

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Diese wunderbar entlarvende Frage aus dem Gleichnis möchte ich gerne mitnehmen in diesen neuen Monat und sie mir immer dann stellen, wenn der Neid an mir nagt, wenn mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird, wenn ich bemerke, dass der Blick, mit dem ich am Morgen in die Welt blicke, scheel wird, missgünstig, empört. Ich nehme mir vor, den Silbergroschen, den ich in der Tasche habe, zu spüren wie einen Schatz, und mich nicht zu ärgern an den prall gefüllten Taschen der anderen.

In Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ wünscht sich der Held, als er einen Wunsch frei hat, immer so viel Geld in der Tasche zu haben wie einer, den er schon immer um seinen Reichtum beneidet hat. Das geht auch eine ganze Zeit lang gut. Bis der Bewunderte schließlich beim Kartenspiel alles auf eine Karte setzt, verliert und den Helden mit seinem unbedachten Wunsch ins Elend reißt. Hätte er mal nicht so missgünstig dreingeschaut, nicht geschielt auf das vermeintliche Glück der anderen, sondern wäre er bei sich geblieben.

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Ich spinne die Frage weiter: Wie wäre es wohl, wenn keiner sich mehr aufregen würde, zu kurz gekommen zu sein. Wenn alle einfach zufrieden wären mit dem, was sie haben. Wenn Gnade vor Recht erginge und gar niemand was dran auszusetzen hätte. Wenn Neid und Missgunst kein Thema wären, weil die einen den andern das ihre von Herzen gönnen. Wenn die Letzten die Ersten wären. Wenn Hierarchien keine Rolle mehr spielten, weil alle im Kreis um einen großen Tisch sitzen und nicht mehr in einer langen Warteschlange vor dem Jobcenter anstehen? Wenn alle genug zum Leben hätten unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht. Wenn alle mitgenommen würden und keiner mehr auf der Strecke bliebe. Wenn alle beschäftigt wären. Wenn Gerechtigkeit und Güte keine Gegensätze mehr wären. Wenn niemand mehr auf Barmherzigkeit angewiesen wäre, weil sowieso alle auf Barmherzigkeit angewiesen sind und von derselben Güte desselben Gottes leben.

Dann, so erzählt es Jesus in diesem Gleichnis vom ungerechten, aber gütigen Weinbergbesitzer, dann wäre wohl das Himmelreich auf Erden angebrochen. So weit sind wir noch nicht an diesem 1. Mai 2024. Aber wir könnten ja mal anfangen. Vielleicht mit gleichem Lohn für Männer und für Frauen!

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30APR2024
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Auf dem Foto, das im April zum besten Pressefoto des Jahres gekürt worden ist, sind eine Frau und ein Mädchen zu sehen. Ihre Gesichter sind nicht zu erkennen. Denn die Frau hält den Kopf gesenkt, so dass man nur ihr sandfarbenes Kopftuch erkennen kann. Das Kind ist von Kopf bis Fuß in ein weißes Leinentuch gewickelt. Es ist tot. Umgekommen bei einem militärischen Angriff auf den Gaza-Streifen; eine israelische Rakete hat das Haus ihrer Familie getroffen. Die Identität der beiden ist bekannt: Es ist die Palästinenserin Ina Abu Mamaar, die ihre fünfjährige Nichte Saly im Arm hält. Durch die Namen ist das Bild einer konkreten Kriegssituation zugeordnet und zeigt exemplarisch das Leid der palästinensischen Bevölkerung. Zugleich weist es aber weit über alle geographischen und nationalen Konflikte hinaus. 

Denn die Haltung von Frau und Kind auf diesem Bild erinnert mich an eine Pietà. An die bildliche Darstellung von Maria als Schmerzensmutter mit dem Leichnam ihres toten, gerade vom Kreuz abgenommenen Kindes Jesus auf dem Schoß. Selbst die leuchtende Farbe von Inas Jeanskleid erinnert an den himmelblauen Mantel der Madonna. Andere Menschen fehlen im Bild, obwohl es in beiden Fällen viel mehr gewesen sein müssen, die um den toten Jesus, um die tote Saly geweint haben. Aber der Fotograf Mohammed Salem hat einen ganz intimen Moment eingefangen. Und gibt mit seinem Foto einen ergreifenden Einblick in unermessliches Leid. Es zeigt einen Schmerz. Den tiefen Schmerz aller Mütter, deren Kinder vor der Zeit gestorben sind. Denen auf gewaltsame, unmenschliche Art und Weise die Zukunft genommen wurde. Mit ihren verhüllten Gesichtern und ihre ausdrucksstarke Körperhaltung werden die Frau und das Mädchen für mich zur Ikone: Da könnte auch eine jüdische Mutter sitzen. Maria mit Jesus. Oder eine ihrer Nachfahrinnen. Eine jemenitische, eine sudanesische Frau.

Pietà heißt Mitleid. Und Mitleid kann der erste Schritt sein, um Leid erträglicher zu machen.  Überall dort, wo wir uns an die Seite derjenigen stellen, die Leid zu tragen haben, geschieht so ein Anfang.  

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29APR2024
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Berlin im Jahr 2049. In dieser gar nicht mehr so fernen Zukunft spielt die neue Staffel der Fernsehserie rund um das renommierte Krankenhaus der Berliner Charité. Das Leben in der Bundeshauptstadt hat sich verändert. Eine unbarmherzige Sonne knallt tagsüber vom Himmel. Temperaturen um die vierzig Grad. Die Folgen des Klimawandels sind drastisch. Und ein großes Problem.

Es ist aber nicht alles nur schlechter geworden in dieser nahen Zukunft: So hat zum Beispiel eine umfassende Reform endlich für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen gesorgt: Wer Vorsorge ernst nimmt und regelmäßig entsprechende Untersuchungen absolviert, hat Anspruch auf medizinische High-Tech-Versorgung. Unglaublich, wozu solche operierenden Roboterarme alles in der Lage sind! Science fiction, die vielleicht bald schon Realität sein könnte. Aber die lichte maschinenglänzende Welt hat auch ihre Schattenseiten: In einem still gelegten Trakt des Krankenhauses werden heimlich Menschen operiert, für die Gerechtigkeit allein nicht ausreicht, um zu überleben. Der Mann mit der vom Alkohol zerfressenen Leber. Die unbekümmerte junge Frau, die nie Schmerzen, aber plötzlich Krebs im Endstadium hat. Der Motorradfahrer, den seine überhöhte Geschwindigkeit aus der Kurve geschleudert hat und der nun mit komplizierten Knochenbrüchen daliegt. Gerecht ist das nicht, dass Menschen, die sich nicht um eine gesunde Lebensweise bemüht und freiwillig erhöhten Risiken ausgesetzt haben, die Solidarität all der Vorsichtigen und Vorsorgenden in Anspruch nehmen. Aber es ist menschlich.

Der barmherzige Samariter, der in Jesu Gleichnis der erste und einzige ist, der einem Überfallenen Erste Hilfe leistet, fragt nicht nach dessen Krankenversicherung. Er füllt auch nicht erst einen Fragebogen zu den Umständen des Überfalls aus, um sicherzustellen, dass der am Boden Liegende für seinen Weg auch ausreichende Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat. Er hilft, ohne zu fragen. Weil da ein Mensch in Not geraten ist und weil ihn das anrührt. Gerechtigkeit allein ist nicht genug. Sie braucht ihre große Schwester an der Seite, die Barmherzigkeit. Charité heißt Barmherzigkeit. Mit diesem Satz endet dann auch die vierte Staffel der Krankenhausserie. Und erinnert uns daran, was uns zu Menschen macht: Eigenverantwortlichkeit und Solidarität. Der Einsatz für gerechte Verhältnisse. Und allen voran die Fähigkeit, sich von der Not anderer bewegen zu lassen.

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27APR2024
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„Ob Sonnenschein, ob Sterngefunkel, im Tunnel ist es immer Dunkel“. Das ist eines der großartigen Epigramme von Erich Kästner, der ja die Gabe hatte, komplexe Dinge in einen kurzen, pointierten Satz zu packen. Das Gedicht hier heißt: Die Grenzen der Aufklärung.

Für mich drückt dieser kleine Text wunderschön aus, dass es immer wichtig ist den Kopf zu heben, sich selber zu prüfen und sich umzuschauen. Eben den Tunnelblick aufzugeben. Ich versuche das immer wieder. Denn ich ertappe mich oft dabei, dass ich mich in einem Tunnel befinde. Das kann eine berufliche Aufgabe sein, die mich alles um mich herum vergessen lässt. Oder es kann ein Gefühl sein, wenn ich beispielsweise sauer oder gar wütend auf jemanden bin. Oder wenn ich verliebt bin, oder aber auch, wenn ich Angst habe. Ich bin auch in Glaubensfragen schon in einem Tunnel gelandet und habe mich in rigorosen Meinungen verbissen.

Oft werde ich meinen eigenen Vorstellungen von mir selbst und meinem eigenen Anspruch nicht gerecht. Auch da rutsche ich leicht in einen Tunnel, der meinen Blick verengt und alles um mich herum dunkel oder besser gesagt unsichtbar werden lässt. Da hilft mir all meine schöne akademische Bildung nicht, wenn ich mich in einem Tunnel verrenne, bin ich wie in einem Rausch, der mich ganz und gar vereinnahmt.

Weil ich mich mittlerweile kenne, habe ich mir angewöhnt immer wieder innezuhalten und mich selber zu beobachten. In gewisser Weise mache ich einfach eine Pause. Egal, wie groß der Termindruck ist, egal, wie stark das Gefühl, egal, wie groß die Erwartungen. Ich mache mir bewusst, dass mein Leben nicht nur aus dieser einen Sache besteht. Dass es vielfältiger ist. Wenn mir etwas nicht gelingt, schaue ich auf andere Dinge, die mir gelingen. Wenn ich mit jemandem ein Problem habe, denke ich an andere Situationen mit der gleichen Person, in der es anders war. Das hilft mir gut, mich selbst, meinen eigenen Zustand und meine Stimmungen einzuordnen und zu sortieren. Ich meine, es holt mich aus dem Tunnel raus. Und irgendwo da draußen, um mit Kästner zu sprechen, funkelt es oder scheint die Sonne.

Als ich das einmal einem Freund erzählt habe, meinte er, ich würde mir damit mein Leben schönreden. Und das wäre auch so etwas wie ein Tunnel. Nur in eine andere Richtung. Den Vorwurf kann ich nicht ganz ausräumen, vielleicht ist da manchmal was dran. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass es nicht so leicht ist aus dem Tunnel zu kommen, wie ich es behauptet habe. Aber dass es wichtig ist, zumindest das Licht anzuschalten, um zu erkennen, dass ich mich in einem Tunnel befinde.

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