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„Herr Jericke, beten Sie?“ Eine Schülerin hat mich das im Religionsunterricht gefragt? „Nun ja, ich bin Pfarrer, natürlich bete ich“, habe ich ihr geantwortet. Im Nachhinein finde ich diese Antwort etwas irreführend. Denn bete ich nur, weil es zu meinem Beruf dazugehört?
Ehrlicherweise fällt es mir manchmal schwer zu Beten. Insbesondere dann, wenn ich nicht mit meinen eigenen Worten bete, sondern vorgefertigte Gebete nutze. So wie zum Beispiel das Vaterunser. Oder die Psalmen in der Bibel. Drücken diese Worte anderer wirklich das aus, was ich sagen will? Über einen Psalm wird heute in vielen evangelischen Kirchen gepredigt. Da heißt es:
Gott steht mir immer vor Augen. Mit ihm an meiner Seite falle ich nicht hin. Darum ist mein Herz so fröhlich und meine Seele jubelt vor Freude.
Ich finde, das sind schöne, hoffnungsvolle Worte. Und ich finde es beeindruckend, wenn jemand so ein unerschütterliches Gottvertrauen hat. Und aus diesem Vertrauen heraus betet.
Aber passt das zu mir? Denn ja: ich glaube an Gott, aber er steht mir nicht immer vor Augen. Manchmal habe ich auch das Gefühl, er ist weit weg. Dann zweifle ich an Gott.
Und ja, der Glaube an Gott macht mich sicher auch manchmal fröhlich. Ich glaube, mein Leben wird dadurch in vielen Bereichen leichter. Aber dass meine Seele vor Freude jubelt? Selbst würde ich das so nicht sagen.
Und trotzdem merke ich: Es tut mir gut, mit diesen alten Worten zu beten. Weil Glaube für mich auch immer mit Gemeinschaft zu tun hat. Alleine Glauben, das gibt es für mich nicht. Da hilft es mir zu wissen, dass es auch vor vielen Jahren schon Menschen gab, die auf Gott vertraut haben.
Manchmal bin ich selbst auch sprachlos oder finde keine oder nicht die richtigen Worte finde. Dann helfen mir diese alten Gebete, eine Sprache für das zu finden, was ich denke oder fühle. Und auch der bedingungslose, der zweifelsfreie Glaube, der in diesem Psalm zur Sprache kommt, hilft mir. Weil ich glaube, dass Vertrauen abfärbt. Wenn jemand anderes glaubt und vertraut, hilft das mir zu vertrauen. Und deshalb bete ich heute mit, wenn es in der Kirche heißt: Mit Gott an meiner Seite falle ich nicht hin!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40651Haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit, frei von jedem Ansehen der Person![1] Diese Stelle aus dem Jakobusbrief im Neuen Testament wird heute in den katholischen Gottesdiensten vorgetragen. Schon seltsam. Da wird in der Bibel klipp und klar formuliert, wie es sein soll. Und die Realität sieht so anders aus. Und ich meine nicht die Realität der großen weiten Welt, die es sich aussuchen kann, ob sie sich an die Weisung der Bibel hält oder nicht. Ich meine die Realität in der Kirche. Dort, wo die Bibel über allem steht. Der Glaube: Frei von jedem Ansehen der Person. Ich finde, klarer kann man nicht sagen, dass es bei Gott nicht aufs Äußere ankommt, nicht um Oberflächlichkeiten geht. Dass es beim Glauben Wichtigeres gibt als Titel und Geld. Dass es eben nicht darum geht, was einer geleistet oder welchen Namen sie oder er sich im Laufe des Lebens gemacht hat. Sondern nur um den nackten Menschen. Ich bin, wer ich bin, weil Gott mich so gewollt hat. Und nur das interessiert. Alle sind bei ihm gleich wichtig, gleich viel wert.
Das sind Sätze, wie sie von einem Theologen erwartet werden. Und die Gefahr ist groß, dass sie deshalb überhört oder belächelt werden. Nicht zuletzt, weil die Realität so anders aussieht. Eben auch in der Kirche, wo es oft eben doch um Äußerlichkeiten geht. Wer klüger redet, wer fleißiger arbeitet, gilt mehr. Je höher einer in der Rangordnung aufsteigt, desto prächtiger werden die Gewänder und Titel. So, als gäbe es diesen Satz nicht. Der Glaube an Jesus Christus – frei von jedem Ansehen der Person. Die sich am ehesten daran halten müssten, tun’s nicht, und darunter leidet die Glaubwürdigkeit. Wenn es die in der Kirche schon nicht machen, weshalb sollten wir anderen es dann tun.
Es ist immer problematisch, wenn man einzelne Bibelstellen aus ihrem Zusammenhang reißt. Aber die Sache mit dem Ansehen der Person zieht sich wie ein roter Faden durch die Bibel. Schon im Alten Testament sagt Gott von sich selbst: Der Mensch sieht, was vor Augen ist, ich sehe auf das Herz[2]. Wer sich damit beschäftigt, wie Jesus gegenüber Menschen eingestellt ist, merkt schnell, dass bei ihm Geschlecht, Nation, Religion zunächst unwichtig sind. Er interessiert sich für die Person, die ihm gerade gegenübersteht. Der Verfasser des Jakobusbriefs hat das kapiert und es deshalb so niedergeschrieben. Allen ins Stammbuch, die seine Worte heute hören.
[1] Jakobus 2,1
[2] Vgl. 1 Samuel 16,7
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40555Vielleicht haben Sie schon einmal von Marlene Engelhorn gehört. Sie ist Enkelin einer reichen Frau und hat beschlossen, dass sie, wenn sie einmal erben wird, einen Großteil davon hergeben wird. Weil sie es ungerecht findet, ein so ungeheuer großes Erbe für sich allein zu behalten, ohne etwas dafür getan zu haben. Einfach nur, weil sie in der richtigen Familie geboren wurde. Verdient hat sie sich das Erbe nicht, sagt sie. Und will darum 90 % davon abgeben, wenn sie es einmal hat.
In einer ähnlichen Ausgangslage befinden sich, wenn man dem Apostel Paulus folgt, Christinnen und Christen. Er erklärt den Gläubigen in Rom, dass sie Kinder Gottes sind. Und dann schreibt er: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, weil wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.“
Über diese Bibelstelle wird heute in vielen evangelischen Gemeinden gepredigt.
Dass Christinnen und Christen Kinder Gottes sind, haben sie nicht ihrer eigenen Leistung zu verdanken, sondern dem Glauben. Und der, das ist immer wieder im Neues Testament zu lesen, ist ein Geschenk. Nichts, was wir leisten können.
Kind und Erbe Gottes zu sein – das ist also genauso unverdient, wie einfach so mehrere Millionen Euro zu erben. Vielleicht sogar noch ungerechter – denn mit dem Erbe Gottes ist bei Paulus das ewige Leben verbunden. Die Gewissheit, Gott einmal als sein Kind ganz nahe zu sein.
Paulus glaubt, dass dieses Erbe schon die Gegenwart betrifft. Die Aussicht auf dieses unglaublich schöne und große Erbe kann die Sorge vor dem Scheitern nehmen – weil ich weiß, dass einmal für mich gesorgt sein wird. Und die Aussicht auf ein Erbe, das von so vielen Menschen geteilt werden wird, schafft einen anderen Blick aufeinander – meine Mitmenschen sind auch Erben und Kinder Gottes.
Erben Gottes zu sein – das ist zuerst ein riesiger Grund zu Freude. Weil es sicher ist. Keiner wird einem dieses Erbe streitig machen, weil es nicht von den Menschen damals oder heute abhängt. Sondern vom Versprechen Gottes.
So wie Marlene Engelhorn, die Millionenerbin in Spe, aber verantwortungsvoll mit dem großen Erbe umgeht, so fordert auch Paulus Verantwortung.
Dass das Erbe sicher ist, soll kein Grund sein, gedankenlos in den Tag hineinzuleben. Die Herausforderung besteht darin, das Erbe nicht für sich zu behalten. Schon jetzt auszuprobieren und davon zu träumen, wie Gottes Ewigkeit aussehen könnte. Eine Ewigkeit, in der keiner allein ist. In der Gott alle Tränen abtrocknet. In der alle ein riesiges Fest feiern und darüber jubeln, wie wunderbar und schön Gottes Schöpfung ist. Dieses Erbe ist für alle da. Und Gott ermutigt uns, schon kräftig damit anzufangen, dieses Erbe auszugeben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40553„Damit kann ich nichts anfangen.“ Das höre ich hin und wieder, wenn es um die Bibel geht. Und ja, manchmal stehe ich auch selbst ein bisschen ratlos vor den uralten Texten. Immerhin geht es um Gedanken, die vor fast 2000 Jahren geschrieben wurden. Für Menschen der Antike. Menschen, die ganz anders lebten, anders dachten und wohl auch anders glaubten als wir Menschen heute. Manches lässt sich da kaum noch nachvollziehen. So ist das auch mit dem Text, der heute in den katholischen Gottesdiensten zu hören ist. (Joh 6,60-69) Da wird erzählt, wie Jesus sich über Leute wundert, die nicht glauben können oder wollen. Denn schon damals haben das offenbar etliche gesagt. Dass sie nichts anfangen können mit seinem Anspruch, mit dem er auftrat. Nicht mit seinen oft steilen Forderungen an die persönliche Lebensführung. Vor allem nicht mit seiner Aussage, er sei von Gott gesandt, würde quasi im Namen Gottes sprechen. In der Tat, dieser Jesus kann ganz schön anstrengend sein. Die Leute, die ihn zuerst noch ganz spannend und interessant fanden, machen sich nun aus dem Staub. Übrig bleiben nur noch die Treuesten der Treuen. Die Zwölf, die ihn bis zum Ende begleitet und später dann seine Botschaft weitergetragen haben. Sie haben in ihm wohl mehr gesehen, als das Gros der Menschen um sie herum.
Und heute? Jesus ist längst Teil der globalen Popkultur geworden. Die Beatles etwa haben sich mal ziemlich unbeliebt gemacht, als John Lennon meinte, sie seien inzwischen populärer als Jesus. Was im Umkehrschluss ja auch hieß: Jesus, den kennt doch fast jeder. Fragt sich allerdings, welcher Jesus damit gemeint sein soll? Jesus, der sanfte Gutmensch? Der verhaltensauffällige Hippie? Jesus, der Wunderheiler, der Tote erwecken kann? Der strenge Richter im jüngsten Gericht? Oder doch nur der seltsame Mann da oben am Kreuz, mit dem man selbst aber nichts anzufangen weiß. Es kann einem schon leicht schwindelig werden bei all den Bildern und Vorstellungen, die sich Menschen seit Jahrhunderten von diesem Jesus machen.
Ganz am Ende des heutigen Textes sagt Simon Petrus, der Sprecher der zwölf Gefährten, zu ihm: Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes. Auch wenn das natürlich Theologensprache ist. Vielleicht ist es trotzdem die überzeugendste Antwort. Auf den Glauben kommt es letztlich an. Denn wer dieser Jesus für mich in meinem Leben sein kann, das erschließt sich wahrscheinlich wirklich erst, wenn ich glauben kann.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40538Ich hatte neulich eine schlaflose Nacht. Mein Herz und meine Gedanken waren bei einem geliebten Menschen, dem ich einfach nicht helfen kann, weil niemand helfen kann. Es gibt nichts gegen die Schmerzen im Rücken, in den Beinen und Gelenken, mit denen er leben muss. Meine Versuche, wenigstens etwas Linderung zu schaffen, sind am Tag zuvor wieder einmal ins Leere gelaufen. Diese Nacht hat mich fast gebrochen, und ich hatte keinen Funken Zuversicht mehr in mir.
Und dann sehe ich auch noch, welche Jesusgeschichte heute im Mittelpunkt vieler evangelischer Gottesdienste steht: Jesus heilt eine verkrümmte Frau. Er befreit die Frau von ihren Schmerzen – für mich nach dieser Nacht fast Hohn. Was nützen solche Wundergeschichten dem lieben Menschen an meiner Seite? Was nützt mir der Glaube an Wunderheilungen, wenn hier und heute doch kein Wunder geschieht?
Über dem heutigen Sonntag steht aber noch ein anderer biblischer Satz aus dem Buch des Propheten Jesaja. Ein Zitat, das meinen Blick verändert hat. Es lautet:
Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. (Jesaja 42,3)
Ich habe mich in dieser Nacht völlig geknickt gefühlt und meine Zuversicht war höchstens noch wie ein glimmendes Flämmchen. Und Jesaja sagt dazu: So ist es. Und es bleibt, was es ist! Lässt meine Zuversicht eben nicht einfach so wieder leuchten wie eine lodernde Flamme und lässt mich auch nicht plötzlich aufrecht den Stürmen des Lebens trotzen. So gesehen, „nützt“ mir mein Glaube da gar nichts.
Mir ist bei Jesaja klar geworden, dass Glaube nichts „Nützliches“ ist. Glaube – das ist eher meine Sehnsucht nach Gott. Hoffen, dass Gott meine Sehnsucht stillen wird. Daran glauben, selbst, wenn ich kaum noch glauben kann.
Und auch die Geschichte von Jesus, wie er die verkrümmte Frau gesund macht, lese ich jetzt weniger als Wunder- sondern eher als Sehnsuchtsgeschichte: über die Sehnsucht, dass Gott uns Menschen nicht allein lässt; dass er uns in Jesus Christus zur Seite steht, so wie der Frau: bei allem, was im Leben weh tut.
Obwohl ich das neulich nachts fast nicht mehr glauben konnte – meine Sehnsucht danach ist noch da. Nach Gott an meiner Seite und an der des geliebten Menschen. Ob mir das neulich nachts genützt hat? Ich bin nicht sicher. Aber immerhin ist sie da und ich denke, sie treibt mich, mich dem Schweren im Leben nicht zu ergeben.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40536Manchmal sind es die einfachen Dinge, die es braucht, um wieder zu Kräften zu kommen: eine Umarmung, jemand, der mich zum Lachen bringt, oder etwas, was dem Körper Kraft gibt. Ein gutes Essen zum Beispiel. Oder mal Zeit zum Ausschlafen. Das klingt nach nicht viel, aber ohne geht es nicht.
Von stärkenden Dingen ist heute auch in katholischen Gottesdiensten zu hören. In der biblischen Erzählung geht um den Propheten Elija, der eine anstrengende Zeit hinter sich hat. Mit Energie und Herzblut hat er sich in die Arbeit gestürzt und alles gegeben, um zu zeigen, dass sein Gott der Größte ist. Aber nun kann er nicht mehr. Elija ist erschöpft. Irgendwie scheint alles sinnlos, weil seine Bemühungen letztlich umsonst waren. Nur wenige konnte er von Gott überzeugen. Jetzt will er am liebsten nur noch schlafen und nicht mehr aufwachen.
Um vor allem und jedem Ruhe zu haben, geht Elija in die Wüste. Nachdem er eine Weile ganz allein unterwegs ist, legt er sich unter einen Ginsterstrauch und sagt zu Gott: „Nun ist es genug, HERR. Nimm mein Leben.“ (1 Kön 19,4) Elija ist am Ende. Er steckt mitten in einer Krise. Nichts geht mehr. Da berührt ihn ein Engel. Er stellt Elija Brot und Wasser hin und sagt: „Steh auf und iss.“ Elija macht, was der Engel sagt. Er isst und trinkt …und legt sich wieder hin. So müde ist er. Doch der Engel lässt nicht locker. Ein zweites Mal sagt er zu Elija: „Steh auf und iss.“ Langsam kommt Elija wieder zu Kräften. Er fasst neuen Mut und kann weitergehen. Vermutlich erst zaghaft, aber es geht weiter.
Ich mag die Geschichte. Denn Gott gibt Elija Zeit. Und er versorgt ihn mit dem, was er gerade braucht – ohne gleich irgendetwas von ihm zu erwarten. Oder ihm mit moralischem Zeigefinger vorzuhalten, dass er doch weitergehen, sich nicht so anstellen soll. Erst als die Kräfte wieder da sind, geht der Blick nach vorn.
Für mich heißt das: Gott richtet auf. Er sorgt für mich und stärkt. Und er tut es meist durch einen anderen Menschen. Jemand, der mich anruft, wenn ich mich eingeigelt habe, oder jemand, der zu mir sagt „Ich finde, das hast du richtig gut hingekriegt!“, wenn ich selbst nur noch an mir zweifle. Ich weiß, dass das keine Probleme löst. Schon gar nicht, wenn sich hinter der Erschöpfung eine krankhafte Depression oder ein Burn-Out verbirgt. Aber es gibt Kraft für den nächsten Schritt.
Pause machen, sich stärken lassen…und dann weitergehen. Das ist nicht nur für Elija wichtig. Sondern für alle. Und deshalb finde ich es auch eine super Urlaubsgeschichte.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40434Es ist jetzt 35 Jahre her, dass ich zum ersten und bislang einzigen Mal in Israel gewesen bin. Für eine Theologiestudentin war eine Reise ins Land der Bibel praktisch Pflicht. In den 80er Jahren hat an deutschen Fakultäten der Dialog zwischen Juden und Christen geblüht; die kritische Auseinandersetzung mit dem antijudaistischen Erbe christlicher Theologie befand sich auf einem Höhepunkt. „Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Dieser Satz des biblischen Propheten Sacharja gibt die damalige Stimmung sehr gut wieder. Viele Christen waren bereit, diesen Zipfel vom Gewand zu ergreifen und sich mitziehen zu lassen. Ein jüdischer Mann – nicht in der Rolle des Verfolgten, sondern als Vorbild und Wegbereiter für ein friedliches Zusammenleben der Völker in Jerusalem. Ausgerechnet in Jerusalem!
Auf meiner Israelreise im Jahr 1989 wurde ich allerdings mit einer ganz anderen Wirklichkeit konfrontiert. Es war zur Zeit der ersten Intifada. Palästinenser hatten begonnen, ihre Rechte einzuklagen und sich gegen Repressalien zu wehren. Die Lage im Land war angespannt; das Reisen gefährlich. Und wie viele Chancen auf Frieden und Versöhnung sind seither verpasst worden! Heute ist die Lage im Nahen Osten verzweifelter und aussichtsloser denn je, und wahrscheinlich weiß nicht einmal Gott selber, wie sie zu lösen sein könnte. Aber sein Prophet stellt uns das Bild heute, am Israelsonntag 2024, erneut vor Augen: „Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Ach, Gott, es braucht ja nur den Zipfel eines Gewandes. Häng ihn uns doch in den Weg!
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40443Wir rechnen. Zählen zusammen, führen Buch, kalkulieren. Wir überlegen: Komme ich so über die Runden? Reicht mein Lohn, meine Rente? Bin ich gut genug versichert? Rechnen können wir. Darin sind wir geübt. Weil so viel bei uns über Zahlen bestimmt wird. Zahlen kann man vergleichen. Und wer sich vergleicht, weiß, ob er mithalten kann. Oder sich schämen muss und sich lieber verkriecht; oder sich gar betrogen vorkommt. Betrogen um sein Geld und sein Recht. Ich verstehe das alles. Und gestehe auch jedem zu, dass er überlegt, ob er gerecht behandelt wird. Aber rechnen ist nicht alles, und nicht immer kommt es auf Zahlen an. Wer krank ist, soll behandelt werden, auch wenn er nicht ausreichend versichert ist. Wer studieren kann und will, soll dazu die Möglichkeit bekommen, auch wenn er aus einfachen Verhältnissen stammt. Wer arm ist und nichts zu essen hat, soll nicht hungern müssen. Wo es ums Mindeste geht, um das, was jeder zum Leben haben sollte, kommt man mit Rechnen sowieso nicht weiter.
Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll[1]. Sagt Philippus zu Jesus angesichts einer bedrohlich großen Menge von Menschen, die sich bei ihnen versammelt hat. Heute wird diese Stelle aus dem Johannesevangelium in den katholischen Gottesdiensten gelesen und bedacht. Da ist also auch einer, der genau rechnen kann. Fünftausend Männer zählt er, dazu Frauen und Kinder, also eine Riesenmenschenmenge hat sich versammelt, um zu hören, was Jesus zu sagen hat. Diese Menschen haben Hunger, und es stehen nur fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung, wie später erwähnt wird. Und wohl jene 200 Denare in Silber, was ziemlich viel ist und wohl für über anderthalb Tonnen Brot gereicht hätte[2].
Aber darauf eben kommt es hier nicht an. Die Erzählung von der wunderbaren Brotvermehrung ist nämlich kein Rechenexempel. Jesus sorgt dafür, dass die Leute sitzen können, dann betet er und teilt Brot und Fische aus. So viel sie wollten[3], steht dort wörtlich. Eben nicht abgezählt. Nachher sollen zwölf Körbe voll übriggeblieben sein. Und auch bei dieser Zahl geht es nicht um das Ergebnis einer mathematischen Kalkulation. Sondern um Wunder und Fülle. Ihr müsst nicht kleinlich rechnen. Es gibt mehr als genug. Das ist die Pointe der Geschichte.
Wenn wir immerzu rechnen und uns vergleichen, macht das auf Dauer unglücklich. Schenken und geschenkt bekommen, ohne schlechtes Gewissen, das ist viel menschlicher und macht am Ende sogar glücklich.
[1] Johannes 6,7
[2] Vgl. https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/neues-testament/denar
[3] Johannes 6,11
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40356Früher war alles besser… dieser Stoßseufzer ist wahrscheinlich den meisten schon mal durch den Kopf gegangen. Auch heute höre ich das immer wieder. Zum Beispiel, wenn es um die Spaltung der Gesellschaft geht. Früher da war alles besser, da haben die Menschen wenigstens noch zusammengehalten…
Ein Abschnitt aus dem Epheserbrief in der Bibel, über den heute in vielen evangelischen Kirchen gepredigt wird, dreht die Perspektive.
Da heißt es: früher was alles schlechter! Der Briefschreiber erinnert die Menschen daran, dass ihnen in ihrem Leben ein Licht aufgegangen ist: Christus ist in euer Leben gekommen. Er hat es heller gemacht. Ihr seid Kinder des Lichts. Der Glaube an Gott, zu dem die Menschen durch Christus gekommen sind, war für sie lebensverändernd. Eine Wende zum Guten.
Ich finde, diese Kraft kann Glaube heute immer noch entfalten. Weil er auch in manchmal komplizierten Zeiten, Hoffnung schenkt. Es gibt etwas Größeres als mich. Einen Zuspruch. Gott meint es gut mit mir. Mit uns allen. Für mich ist das etwas, das meine Leben heller macht. Und meinen Blick hin zum Guten wendet.
Früher war alles besser? Es gab mehr Zusammenhalt? Mag sein, dass das stimmt. Andererseits habe ich auch den Eindruck: Früher musste man sich viel mehr anpassen. Es gab bestimmte Werte, die galten. Wer damit nicht konform ging, wurde mindestens schief angeschaut. Vieles wurde gar nicht erst thematisiert. Menschen mussten zum Beispiel ihre Liebe im Verborgenen leben.
Sie mussten sich verstecken, nur weil ihre Beziehung nicht zur Norm passte oder kein Trauschein vorhanden war. Was als unnormal galt, wurde verschwiegen oder ins Dunkel geschobenen.
Aber ihr seid Kinder des Lichts. Heute sind wir offener. Für vieles, was früher unmöglich gewesen wäre, gibt es jetzt eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Mancherorts, wo es vorher dunkel war, leuchtet heute ein Licht. Insgesamt leben wir freier. Ja, früher war vielleicht manches besser, aber ich finde vieles auch schlechter. Jesus Christus wollte Licht für die Welt sein. Die Erinnerung daran hilft mir, das Gute nicht aus dem Blick zu verlieren. Und es macht mir Mut, dass es immer noch ein Stückchen besser wird.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=40324Eine Botschaft gut unter die Leute bringen, das ist alles andere als einfach. Was lassen sich Unternehmen nicht alles einfallen, um mögliche Kunden anzusprechen und von ihren Produkten zu überzeugen. Nun sind die Kirchen keine Unternehmen, die irgendwas verkaufen wollen. Aber auch sie wollen natürlich, dass ihre Botschaft bei den Leuten ankommt. Ist schließlich die frohe Botschaft, die Jesus selbst hinterlassen hat. Seit 2000 Jahren klappt das ja auch. Aber manchmal geht die Verkündigung dieser frohen Botschaft eben auch gründlich daneben. Das mag mitunter auch an Gottes Bodenpersonal liegen. Aber selbst die, die für die Frohe Botschaft brennen, dringen damit oft einfach nicht durch. Eine Erfahrung, die schon Jesus und seine Leute machen mussten. Davon erzählt die Geschichte, die heute in den katholischen Gottesdiensten zu hören ist.
Die Zwölf, die Jesus unterstützen und begleiten, schickt er in Zweiergruppen los. Nichts Unnötiges sollen sie mitnehmen. Nur sich selbst und die Botschaft. Auf die Gastfreundschaft der Menschen sollen sie setzen. Darauf, dass Menschen bereit sind, sie und die Botschaft in ihren Alltag hineinzulassen. Bei Etlichen kommen sie damit auch an. Andere aber wollen nichts von ihnen wissen. Und in diesem Fall empfiehlt Jesus, einfach weiterzugehen und den Staub von ihren Füßen abzuschütteln. Ein Ausdruck, an dem ich schon oft hängen geblieben bin. Fromme Juden machten das damals, wenn sie heidnische Gebiete durchqueren mussten. Schüttelten symbolisch den Staub von den Sandalen, sobald sie durch waren. Eine Art symbolische Reinigungsgeste, die zeigen sollte: Mit denen machen wir uns nicht gemein. Zugegeben, sympathisch klingt das gerade nicht.
Und doch glaube ich, dass das, was Jesus seinen Leuten da rät, auch heute grundsätzlich sinnvoll sein kann. Denn wenn ich Menschen für eine Idee, ein Projekt gewinnen will, dann klappt das ja wirklich am besten, wenn es gelingt bei den Menschen anzukommen. Ehrlich und verlässlich. In ihrem Alltag und in ihren Herzen. Trotzdem werde ich erleben, dass Leute mich kritisieren. Mich anblaffen und auch ablehnen. Persönlich als Mensch. Aber auch das, was mir besonders wichtig ist.
Und dann kann es manchmal sinnvoll sein, sich nicht in fruchtlose, oft verletzende Auseinandersetzungen zu verbeißen, sondern einfach weiterzugehen. Symbolisch also den Staub abzuschütteln. Anfeindung und schroffe Ablehnung tun weh. Können Motivation und Selbstwert brutal erschüttern. Wenn ich es dann schaffe, mich dadurch nicht runterziehen zu lassen. Wenn ich schaffe, den Staub abzuschütteln, behaupte ich mich selbst. Nehme das Heft des Handelns wieder in meine Hand. Ich weiß selbst: Das ist leichter gesagt als getan. Aber ich bin sicher: Auch das kann ich noch lernen.
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