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SWR2 Wort zum Tag

07NOV2022
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In Jules Vernes Roman: „20 000 Meilen unter dem Meer“ ist Kapitän Nemo die interessanteste Figur. Nemo hat seine Familie verloren. Er wurde als Wissenschaftler nie so anerkannt, wie es ihm seiner Meinung nach zugestanden hätte. Er ist resigniert und gibt den Menschen und der Gesellschaft die Schuld dafür. Deshalb hat er beschlossen sich ganz von seinen Artgenossen zu entfernen. Mit seinem U-Boot, der Nautilus, bereist er die Tiefsee und durchforscht diese menschleere und menschenferne Welt. Er will mit Seinesgleichen nichts mehr zu tun haben, will sein eigenes Menschsein ablegen. Als er drei Schiffbrüchige aufnimmt, führt er einen davon, einen Meeresbiologen, durch sein Schiff. Er zeigt ihm dabei auch seine Bibliothek, in der alle Geistesgrößen der Menschheit vertreten sind.  Außerdem hängen dort viele Werke bedeutender Künstler. Das ist nur eine kleine Episode des Romans, wie ich finde aber eine sehr bedeutende. Denn: In seinem Vorhaben, sich ganz der Menschen zu entledigen und sein Leben an der Oberfläche hinter sich zu lassen, schafft es Kapitän Nemo nicht, auf die Früchte des menschlichen Geistes zu verzichten. Er kann diese nicht aufgeben. Er kann also sein Menschsein nicht abstreifen. Er behält etwas Menschliches bei sich. Er kann nicht „Nemo“ – also „Niemand“ werden. Auch wenn er es noch so sehr will.

Mir zeigt diese Geschichte: Wir können unsere eigene Menschlichkeit nicht ablegen. Wir sind Menschen, ob wir wollen oder nicht. Wir alle tragen das in uns, was das Christentum die „Menschliche Seele“ nennt. Die gibt uns unsere eigene Persönlichkeit und verbindet uns zugleich alle miteinander. Wie oft wurde und wird dies vergessen oder bewusst ignoriert. Menschen werden gedemütigt, erniedrigt, entmenschlicht.

Weil manche nicht akzeptieren können, wie vielschichtig und facettenreich das Menschsein ist. Oder weil jemand nicht ertragen kann, dass die Welt nicht nur für ihn da ist.

Von heute an stellt die ARD Themenwoche die Frage danach, was uns zusammenhält. Ein Wir wird gesucht. Das ist natürlich eine schwierige Suche, liest man doch überall von Spaltung der Gesellschaft; bekommen doch Besserwissertum und Rücksichtslosigkeit Oberwasser.

Ich möchte mit dieser Suche ganz am Anfang beginnen. Ein bisschen wie Kapitän Nemo: Am tiefsten Grund. Am Ursprung. Bei der simplen Tatsache, dass ich ein Mensch bin.

In diesem meinem Menschsein finde ich nicht nur ein Ich, sondern auch ein Wir.

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SWR2 Wort zum Tag

17AUG2022
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Ich gehe gerne Bergsteigen. Und wenn ich dann oben bin, auf dem Gipfel, bin ich glücklich. Für einen kurzen Moment ist alles in Ordnung. Ich habe mich bewegt, spüre meinen Körper, der Kopf ist klar, ich fühle mich vollkommen gut und zufrieden. Dann, so nach einer halben Stunde packe ich zusammen und steige wieder ab. Das gute Gefühl bleibt noch eine Weile, aber irgendwann ist es verflogen.

So ein Gipfel ist ein Ziel. Und wenn ich oben bin, bin ich angekommen. Wenn ich mein Ziel erreicht habe. Aber ich bleibe dort nicht, ich gehe weiter. So empfinde ich es auch im Leben überhaupt. Jedes Ziel, das ich erreiche, ist nur vorläufig. Ein Zwischenschritt. Jedes Ziel wird zum Ausgangspunkt für ein neues Ziel. Ich glaube nicht, dass es ein wirkliches Ankommen gibt. Später dann, im Jenseits vielleicht, aber darüber kann ich nicht viel sagen. Dieses vorläufige Ankommen und wieder Aufbrechen ist eine Grunderfahrung meines Lebens. Es ist etwas, das mich ausmacht. Und deshalb tue ich mir auch mit klaren Antworten schwer. Wenn jemand kommt und mir die Welt erklärt, dass sie so oder so ist und nicht anders, da werde ich skeptisch und ziehe mich zurück. Denn ich habe gelernt, dass die Welt immer anders ist. In jedem Lebensabschnitt, in jedem Lebensgefühl zeigt sie sich mir anders. Und wenn ich meine, etwas verstanden zu haben, dann ist das nur eine neue Grundlage dafür weiter zu gehen. Selbst wenn ich mir bei etwas ganz sicher gewesen bin, hat das nie lange gehalten.

Auch mein Glaube hat sich gewandelt. In allen Phasen meines Lebens, sei es als Kind oder als Jugendlicher, hatte ich ein anderes Verständnis von Gott und eine andere Beziehung zu ihm. Und deshalb habe ich auch manchmal mit meiner eigenen Kirche zu kämpfen. Manchmal ist sie mir zu stur. Als hätte sie einfach aufgehört sich weiter zu entwickeln. Als hätte sie jede Flexibilität verloren. Flexibilität, nicht Beliebigkeit. Ich meine damit nicht, dass sie keinen Standpunkt vertreten sollte. Aber manchmal erscheint mir ihr Bild von Gott als zu starr. Und das widerspricht eben meiner eigenen Erfahrung.

Ich empfinde Glauben als einen inneren Prozess, der auch offen ist. Manchmal wünsche ich mir, dass er klar und eindeutig wäre. Aber das ist er für mich nicht. Oft ist er unsicher, oft zweifle ich, oft widerspricht er sich. Ich kann nicht einfach irgendwelche festen Wahrheiten übernehmen. Denn ich glaube, dass das Leben - wie auch Gott - immer mehr ist, als ich es von meinem momentanen Blickwinkel aus sehen kann.

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SWR2 Wort zum Tag

16AUG2022
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Ein Freund hat mir gesagt: Andi, Du brauchst wieder eine Frau in deinem Leben. Also hat er mich überredet, mich auf einer Dating Plattform anzumelden. Auf so einer Plattform im Internet werden einem Kurzprofile von potentiellen Partnern oder Partnerinnen vorgestellt. Wenn ich auf dem Smartphone nach links wische, dann bekunde ich mein Desinteresse, wenn ich nach rechts wische, mein Interesse an einer Person. Wenn zwei Interesse aneinander signalisieren, kann man in Kontakt treten. Ich finde das an und für sich schon recht speziell. Aber mir ist noch etwas anderes aufgefallen. Denn häufig haben Frauen geschrieben, dass sie keine „Altlasten“ haben oder sich einen Mann wünschen, der seinerseits keine Altlasten hat. Ich nehme an, auch viele Männer schreiben das. Ich habe zunächst gar nicht verstanden, was damit gemeint ist. Ich habe erst gedacht, da geht es um finanzielle Schulden oder so etwas, bis mich jemand aufgeklärt hat. Zum einen geht es offenbar darum, dass man seine letzte Beziehung überwunden und verarbeitet hat. Zum anderen sind damit scheinbar auch Kinder aus früheren Partnerschaften gemeint. Und das fand ich doch ein bisschen schwierig: Kinder als Altlasten. Das ist geschmacklos. Mir scheint, mit „Altlasten“ ist hier eher etwas ganz Grundsätzliches gemeint. Alles, was in der Vergangenheit war, was man mit anderen Menschen, mit früheren Partnern erlebt hat, das alles soll eine alte Last gewesen sein. Etwas, das weg muss. Nur wenn man mit dem Alten abgeschlossen hat, gelingt etwas Neues.

Ich bezweifle, dass das so radikal möglich ist. Und ich glaube nicht, dass ich das will. Ich glaube nicht, dass ich das, was ich in meinem Leben durchgemacht habe, einfach löschen oder verdrängen kann. Ich kann lernen damit umzugehen, wenn es etwas Schlimmes war, aber es bleibt immer Bestandteil meines Wesens. Des Menschen, der ich eben im Laufe der Jahre geworden bin. Wenn mich ein Mensch wirklich interessiert, ich Liebe für ihn entwickle, dann kann ich - ja muss ich auch - seine Vergangenheit mit einbeziehen. Ich bin 42. Auch ich bin beschädigt und nicht auf alles stolz, was in meinem Leben so gewesen ist. Das ist einfach so. Bei jedem von uns. 

Nach drei Tagen habe ich mich wieder abgemeldet. Weil die Plattform einfach nichts für mich gewesen ist. Ohne sie zu verurteilen, ich weiß, darüber entstehen viele gute Bekanntschaften und Beziehungen. Ich habe mir dann aber ein Herz gefasst und die gute alte Methode angewendet und eine Frau angesprochen, die mich fasziniert hat. In dem Moment war es mir egal, ob sie irgendwelche „Altlasten“ mit sich herumträgt. Ich wollte sie kennenlernen. Diese Offenheit zu spüren, hat mir gut getan.

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SWR2 Wort zum Tag

15AUG2022
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Vor einigen Wochen habe ich auf einmal eine Verhärtung in meiner Brust ertastet. Ich habe das nicht sonderlich beachtet, aber Freunde haben mich gebeten zum Arzt zu gehen. Das habe ich dann auch gemacht. Weil in meiner Familie schon Brustkrebs vorgekommen ist, bekam ich schließlich eine Überweisung zum Gynäkologen. Das hört sich vermutlich etwas komisch an. Viele wissen das nicht, aber Männer können auch Brustkrebs bekommen.

Ich habe lange im Krankenhaus gearbeitet und bin vielen Menschen mit einer Krebsdiagnose und anderen schweren Krankheiten begegnet. Aber selbst bin ich in meinem Leben bisher nie schwer krank geworden. Gott sei Dank. Und da habe ich nun diese Überweisung gehabt, mit meinem Namen drauf - und darunter: Verdacht auf Mamma CA – also eben Brustkrebs. Und plötzlich war alles anders. Plötzlich war ich in dem „System Krankenhaus“ drin. Nur diesmal von der anderen Seite. Das ist aber nur das Eine, das Äußerliche, gewesen. In meinem Inneren bin ich auch in ein anderes System geraten. In das System der Angst. Denn der erste Gedanke, der gleich nach dem Gedanken an den Krebs gekommen ist, war der ans Sterben. Sofort. Da hat es keinen Zwischenschritt gegeben.

Ich habe mir schon oft überlegt, was ich alles will, wenn ich einmal krank werden sollte. Dabei hat mir die Zeit als Krankenpfleger sehr geholfen: Dass ich nicht alles mit mir machen lassen will. Dass ich mich nicht ans Leben krallen will, denn irgendwann ist es vorbei und das will ich akzeptieren.

Das alles hat auf einmal keine Bedeutung mehr gehabt. Mit dem Verdacht auf Krebs in der Hand. Ich war selbst überrascht, wie schnell das gegangen ist. Und dass ich bei diesem Thema bisher beinahe überheblich gewesen bin. Von außen lässt es sich leicht über Krankheit philosophieren. Wenn es um den eigenen Körper geht, dann wird alle Theorie grau und blass. Dann wird es praktisch. Ich bin bereit gewesen alles zu tun, um wieder gesund zu werden.

Ich habe Glück gehabt. Es ist nur ein Abszess gewesen, der nicht einmal behandelt werden musste. Aber ganz kurz habe ich diese Angst zumindest im Ansatz erfahren. Ganz kurz war ich in eine Welt hineingeworfen, in der viele Menschen täglich leben.

Ich will jetzt nicht über Trost, Mitleid oder Hoffnung reden. Mit bloßen Worten aus der Ferne bleibt das zu abstrakt. Ich möchte nur meinen Respekt ausdrücken. Allen Menschen, die täglich

mit so einer schweren Krankheit leben müssen. Womöglich dem Tod ins Auge schauen. Vielleicht klingt das Wort Respekt hier etwas seltsam. Aber es ist das, was ich empfinde. Wenn man es schafft

in diesem Gefühl zu leben, das ich nur am Rande erfahren habe. Weiterzuleben, wenn die Bedrohung und die Angst jeden Tag da sind. Ich kann mir gar nicht ausmalen wieviel Kraft, Mut und Lebenswillen hierfür aufgebracht werden müssen.

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SWR2 Wort zum Tag

25JUN2022
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Eine der bekanntesten Geschichten im Neuen Testament ist die vom barmherzigen Samariter. Darin wird ein Mann überfallen und bleibt verletzt liegen. Die Leute, die vorbeikommen, beachten ihn nicht. Erst ein Mann aus Samarien kümmert sich um den Verletzten und versorgt ihn. Jesus antwortet mit dieser Geschichte auf die Frage, wer denn genau der Nächste sei, wenn er von Nächstenliebe spricht. Dass er den Samariter als Helfer darstellt, hat seine Zuhörer sicher überrascht. Denn die Samariter waren in dieser Zeit nicht sehr angesehen. Sie waren eher verdächtig und haben nicht dazugehört. Genau das aber macht diese Geschichte so stark. Denn indem Jesus jemand Unbeliebten als vorbildhaft darstellt, unterstreicht er, dass Mitmenschlichkeit keine Grenzen kennen soll.

Aber es schwingt auch etwas mit, das missverstanden werden kann. Denn er sagt auch, dass der Samariter hilft obwohl er Samariter ist. Der Effekt des Gleichnisses wird verstärkt, weil die Zuhörer davon ausgehen, dass Samariter eigentlich nicht barmherzig sind. Einerseits durchbricht Jesus dieses Vorurteil. Aber man könnte hier auch das bekannte Sprichwort anwenden:  Ausnahmen bestätigen die Regel. So gesehen bestätigt er auch das Vorurteil.

Das ist etwas spitzfindig, aber ich komme darauf, weil mir in letzter Zeit immer wieder Situationen auffallen, in denen das passiert. Ein Beispiel: Wenn ich mich mit Leuten über Integration und Geflüchtete unterhalte, ist oft jemand dabei, der in etwa Folgendes Sagt: „Bei uns in der Firma ist auch ein Flüchtling, aber der ist in Ordnung, der ist fleißig und zuverlässig.“ Das soll betonen, dass der Betreffende ein guter Kollege ist.  Aber zugleich schwingt mit, dass er das ist, obwohl er ein Flüchtling ist. Und Flüchtlinge, so wird unterstellt, sind ja eigentlich nicht fleißig oder zuverlässig. Es ist klar, dass die Aussage gut gemeint ist - Und ich will auch nicht alle Worte auf die Goldwaage legen, der Umgang mit unserer Sprache ist sensibel genug - aber mit Blick auf ein mögliches Vorurteil, das dahinter steht, ist diese Aussage auch schwierig.

Als Jesus vom barmherzigen Samariter erzählt hat, ist ihm klar gewesen, was seine Mitmenschen von den Samaritern gehalten haben. Sein Gleichnis hat seine neue und  revolutionäre Lehre unterstrichen. Heute ist diese Lehre 2000 Jahre alt. Die Forderung nach Nächstenliebe und einem respektvollen Miteinander über Grenzen hinweg ist nichts Neues mehr. Aber die alten Denkmuster, in die hinein Jesus gesprochen hat, sind noch nicht überwunden. Ich finde es wichtig das festzustellen und nach Wegen zu suchen, diese Muster zu durchbrechen. Worte wie Freiheit und Chancengleichheit gehen uns leicht über die Lippen. Aber damals wie heute sind sie noch keine Wirklichkeit, sondern bleiben eine Forderung.

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SWR2 Wort zum Tag

24JUN2022
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Ich habe leider oft den Eindruck: Wir Menschen machen mit Gott, was wir wollen. Schon in der Schlacht bei der Milvischen Brücke im Jahr 312 hat Kaiser Konstantin das Kreuz auf die Schilde seiner Soldaten malen lassen. Konstantin hatte sich - mehr aus der Not heraus - an den Gott der Christen gewendet. Er sollte ihm zum Sieg verhelfen. Der Kaiser hat die Schlacht gewonnen, und der Christengott hat von nun an als der stärkste Gott gegolten. Die christliche Lehre von der Nächstenliebe hat sich paradoxerweise hauptsächlich mit Hilfe des Schwertes ausgebreitet. Und jeder Herrscher, der einen Krieg führen wollte, hat sich durch die Jahrhunderte gerne auf den göttlichen Willen berufen. Sogar auf die Gürtelschnallen der Wehrmachtssoldaten hatte man im zweiten Weltkrieg  „Gott mit uns“ eingraviert. Und heute überfällt die russische Armee die Ukraine - gesegnet von den Anführern der russisch-orthodoxen Kirche.

Wenn Menschen anfangen einander zu bekriegen, stellen sie gerne Gott ganz nach vorne in ihre Reihen. Das gibt den niederen Beweggründen, die eigentlich zu einem Krieg führen, den Anstrich einer höheren Mission. Wer Gott vereinnahmt, erklärt sich zum Werkzeug Gottes. So wird ein schicksalhafter Kampf daraus, und man ist auf der richtigen Seite. Krieg ist dann in den Augen der Aggressoren kein Verbrechen mehr, sondern eine moralische Pflicht. Man greift dann nicht mehr an, um zu erobern, sondern um die „göttliche Sache“ zu verteidigen. Denn es ist ja offensichtlich, dass es Unrecht ist, jemand anderen zu überfallen - also biegt man es so hin, dass der Angegriffene schuldig ist und wahlweise bestraft oder befreit werden muss. Der Krieg ist „gottgewollt“, also hat der Angreifer nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht dazu. Er erfüllt den göttlichen Plan.

Eigentlich sind diese Argumentationen an den Haaren herbeigezogen. Das könnte jeder einsehen. Dennoch funktionieren sie seit Jahrhunderten. Womöglich seitdem es uns Menschen gibt. Wir formen und biegen uns Gott zurecht, wie wir ihn gerade brauchen. Selbst wenn es sich um einen Gott handelt, der Nächsten- und sogar Feindesliebe fordert, gibt es Menschen, die ihn für ihre niederträchtigen Ziele missbrauchen. In seinem Namen wird gemordet, geplündert und vergewaltigt. Obwohl seine Lehre doch eher dazu einlädt, gerade das zu überwinden und andere Wege zu finden.

Schon allein daran sieht man, wie widersinnig alle Versuche sind, einen Krieg zu rechtfertigen.

Ich nehme für mich nicht in Anspruch zu wissen, was Gott mit uns und der Welt vorhat. Aber ich glaube erkennen zu können, wann Menschen Gott für sich vereinnahmen und ihn in ihre Vorstellungen zwängen, um tun zu können, was sie wollen. Wir alle sind dazu verpflichtet - wenn wir es ernst meinen mit Gott und dem Glauben - hier vorsichtig und aufmerksam zu sein. Denn wer wirklich glaubt, darf nicht alles glauben.

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SWR2 Wort zum Tag

23JUN2022
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Immer wenn ich das Grab meiner Mutter besuche, streife ich noch ein wenig über den Friedhof. Mir fällt auf, dass in den Gräberreihen immer mehr Lücken entstehen und aufgelöste Gräber nicht neu genutzt werden. Das liegt sicher daran, dass Urnenbestattungen zunehmen und Urnengräber weniger Platz brauchen. Aber es gibt auch immer mehr Menschen, die überhaupt kein Grab wollen. Die Friedwälder oder anonyme Bestattungen bevorzugen. Das begegnet mir auch in vielen Gesprächen. Manche wollen ihre Nachkommen nicht mit der Grabpflege belasten, andere wollen einfach weg sein. Keine Spuren hinterlassen.

Mich wundert das, wo doch viele heutzutage ständig damit beschäftigt sind, sich selbst darzustellen.

Überall posten Menschen Bilder von sich, berichten wo sie sind und was sie machen. Inszenieren sich. Einerseits scheint es ein großes Bedürfnis zu geben wahrgenommen zu werden und sich zu zeigen - Gleichzeitig aber auch das Bedürfnis, nach dem Tod völlig zu verschwinden.

Früher war es vielen Menschen wichtig in einem prunkvollen Grab bestattet zu werden. Das sollte die eigene soziale Stellung und die Bedeutung des Verstorbenen unterstreichen und über den Tod hinaus bewahren. Heute scheint die eigene Bedeutung sehr in das diesseitige Leben verlagert zu sein. Das Jenseits verliert an Wichtigkeit, habe ich den Eindruck. Es ist weniger interessant, was nach meinem Tod passiert, sondern viel wichtiger, wie ich jetzt im Moment wirke und wie besonders mein Leben ist.

Das soll jeder machen wie er will, ich mische mich nicht in die Trauerkultur anderer Menschen ein.

Ich kann nur sagen, wie ich es selbst halte. Ich persönlich finde, Gedenken und Trauer sind nicht unbedingt die Sache des Verstorbenen, sondern die der Hinterbliebenen. Ja, ich möchte nicht verbrannt werden, das wünsche ich mir. Aber alles weitere habe ich nicht in der Hand. Ich hoffe aber, dass es, wenn ich gestorben bin, ein paar Menschen gibt, die mich gern hatten und die sich an mich erinnern wollen. Und dass sie dafür einen Ort gestalten, der etwas von mir in der Welt hält. Nicht weil ich mich für so wichtig halte und die Welt nicht ohne mich klarkäme, sondern weil ich selbst erfahren habe, dass der Tod immer schneller ist als wir. Und dass er, wenn er da ist, immer überraschend ist und uns immer jemanden entreißt. Egal ob wir an ein Jenseits glauben oder nicht. Der Tod eines geliebten Menschen stößt uns in eine neue Wirklichkeit. Ich finde, Gräber helfen dabei, uns an diese neue Wirklichkeit zu gewöhnen.

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SWR2 Wort zum Tag

05JAN2022
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„Habt euch alle lieb“, oder „Gott liebt uns alle und verzeiht uns sowieso“. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die christliche Lehre auf solche Sätze reduziert wird. Ich habe nichts gegen diese Sätze, sie sind mir zwar ein bisschen zu banal, aber natürlich sind die Nächstenliebe und die göttliche Gnade wichtige Eckpfeiler des Christentums. Sie sind zurecht der Grund dafür, dass das Christentum Weltreligion werden konnte. Und auch wesentliche Grundbegriffe für die Aufklärung.

Ich will das alles gar nicht schmälern. Wenn es aber im Christentum ausschließlich um die Soziallehre und die Moral geht, damit tue ich mich schwer.

Es gibt noch andere Aspekte des Christentums, von denen zu wenig gesprochen wird, wie ich finde. Das mag zunächst daran liegen, dass es dabei um Dinge geht, die man kaum ausdrücken kann. Denen wir uns sprachlich immer nur annähern können. Ich meine die Erfahrung des Göttlichen. Man kann das Mystik nennen oder Spiritualität. Es geht um Erfahrungen, die unseren Verstand übersteigen. Die über unsere Sinneswahrnehmung hinausgehen. Erfahrungen und Ahnungen, die (in der Religion) in dem Wort Gott zusammenfasst sind. Und das Christentum hat einen reichen Vorrat an Versuchen und Vorschlägen, dieses Wort Gott zu entschlüsseln.

Vor Kurzem habe ich mit einem Freund hierüber gesprochen und er sagte bloß: „Andi, lass das Theologengestammel, es gibt Wichtigeres, komm aus Deiner Blase“.

Vielleicht hat er recht gehabt. Vielleicht sind alle Versuche Gott oder das Wunder unseres Daseins zu enträtseln letztendlich nur Gestammel. Aber ich glaube, es ist Gestammel, das uns alle angeht. Ob ich Christ bin oder nicht, ob ich religiös bin, oder nicht. Denn ich nehme durchaus wahr, dass sich immer mehr Menschen vom Christentum und der Kirche entfernen. Genauso nehme ich jedoch wahr, dass es ein großes Bedürfnis nach Spiritualität gibt. Viele Menschen wollen sich mit der eigenen Existenz auseinandersetzen, die eigene Person öffnen und sich weiterentwickeln. Aber immer mehr greifen dabei auf fernöstliche Traditionen zurück, oder schließen sich spirituellen Lehrern im Internet an. Dabei hätte das Christentum hier so viel mitzureden.

Ich hoffe, dass auch diese Seite meiner Religion wieder mehr zur Sprache kommen wird. Auch wenn das noch eine Weile dauern kann. Derzeit sind die Kirchen vielerorts zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Damit, was passiert, wenn man den eigenen moralischen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Moral und Ethik sind wichtig, keine Frage. Aber es gibt Situationen und Bereiche, da ist es besser den Zeigefinger zurückzuhalten und ein bisschen zu stammeln.

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SWR2 Wort zum Tag

04JAN2022
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Es gibt immer wieder Phänomene, die plötzlich in aller Munde sind. Prokrastination ist so eines.

Prokrastination - das ist, wenn wir Sachen vor uns herschieben, nur um sie nicht erledigen zu müssen. Wenn wir anfangen Fenster zu putzen, anstatt zu lernen oder einen unangenehmen Brief zu schreiben. Wenn wir nach Jahren der Unordnung ganz plötzlich den Keller aufräumen anstatt dringende Formulare auszufüllen. Das kann durchaus auch krankhaft sein. Dann ist es großes Leid. Bei mir geht das nicht ganz so weit. Und trotzdem fühle ich mich dann so, als würde ich scheitern. Als wäre ich falsch. Als würde ich den Ansprüchen nicht gerecht, die an mich gestellt werden. Es soll doch immer alles sofort erledigt sein. Warum eigentlich?

Ich finde Prokrastination, außer wenn sie einen (Menschen) krank macht, nicht so schlimm. Im Gegenteil. Ich finde in manchen Bereichen sollte das Prokrastinieren offiziell eingeführt und kultiviert werden. Ich meine vor allem das Internet, die sozialen Netzwerke. Es wird viel darüber diskutiert, wieviel Hass und Lügen dort verbreitet werden. Hate speech, oder shitstorm, das sind alltägliche Begriffe geworden. Das kann Menschen kaputt machen, wenn sie bloßgestellt werden, wenn die ganze Welt über sie lacht oder sie niedermacht.

Oft hat sich da jemand stinksauer hingesetzt und sich seine Wut unreflektiert und meist anonym von der Seele geschrieben. Dann auf Senden gedrückt. Und hier käme nun die Prokrastination ins Spiel. Vielleicht in Form einer Verzögerungsfunktion. Dass mein Kommentar nicht gleich weggeschickt wird und ankommt, sondern dass es eine Stunde dauert. Dann fragt das Programm noch einmal nach. Wollen sie das wirklich abschicken? Das muss ich dann, wenn ich will, bejahen und dann dauert es noch einmal eine Stunde und erst dann, nach reiflicher Überlegung und auf erneute Nachfrage hin wird der Kommentar abgesetzt. Oder eben nicht, weil die Wut verflogen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns dann viel Geschimpfe und Gejammer erspart bleibt. Wer seinen Hasskommentar trotzdem absetzt, der kann sich zumindest nicht mehr mit seiner Wut herausreden.

Aber vielleicht würde es auch anders gehen. Ohne technische Hilfe. Vielleicht sollte jeder von uns von sich aus erst mal die Küche putzen, bevor er sich an den Computer setzt. Oder einfach nur durchschnaufen. Oder einen Spaziergang machen. Oder mal wieder die Bibel oder ein anderes Buch in die Hand nehmen.

Es gibt viele tolle Wege, um langsam zu machen.

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SWR2 Wort zum Tag

03JAN2022
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Im Zug lerne ich einen jungen Mann kennen. Schätzungsweise 20 Jahre wird er alt sein.

Er ist auf dem Weg nach Berlin zu einer Demonstration für den Klimaschutz.  Wir sitzen eine Weile nebeneinander im Zug und unterhalten uns über das Klima. Es ist toll, wie eloquent und kenntnisreich er ist. Er hat Fakten und Zahlen parat, argumentiert klar und deutlich und drückt sich dabei richtig gut aus. Er brennt für sein Thema.

Irgendwann erzählt er mir dann, dass er keine Kinder will. Es sei unverantwortlich in so eine Welt noch Kinder zu setzen. Betrachtet man das, was klimatisch auf uns zukommen wird, darf man keine Kinder bekommen. Gewissermaßen sei es seine „Vaterpflicht“ kinderlos zu bleiben.

Das irritiert mich dann schon etwas. Ich kann es grundsätzlich verstehen und nachvollziehen, wenn jemand aus persönlichen Gründen nicht Mutter oder Vater sein möchte  - Aber was der junge Mann sagt, klingt so programmatisch. Beinahe dogmatisch. Wie eine moralische Forderung an seine Generation. Erspart Euren Kindern das Elend, das die Zukunft bringt. Pflanzt euch nicht fort!

Ich tu mir mit solcher Endzeitrhetorik schwer. Das Weltende wurde schon oft beschworen. Aber die Welt ist immer noch da. Ich glaube, solche düsteren Zukunftsbilder bringen uns nicht weiter. Ganz gleich wie drängend das Thema ohne Frage ist.

Vor allem, wenn ich an meine Großeltern zurückdenke, dann sehe ich hoffnungsfroher in die Zukunft.

Ich bin in meinem Leben schon vielen tollen Menschen in meinem Alter begegnet. Aus Polen, aus Deutschland, aus Russland, aus Israel, aus Griechenland, aus ganz vielen anderen Ländern. Sie hatten - genauso wie ich - Großeltern, die nach dem zweiten Weltkrieg auf den Trümmern ihrer Existenz gesessen sind. Die kaum zu essen hatten, die vertrieben worden sind, die trauerten, die traumatisiert waren. Um die herum alles zerstört gewesen ist. Die sich oft keine Zukunft vorstellen konnten. Die keine Perspektive hatten. Die Angst hatten und nicht weiter wussten. Ich kann mir vorstellen, dass viele von ihnen Zweifel gehabt haben, Kinder in diese zerstörte Welt zu setzen.

Ich bin froh und dankbar, dass sie es trotzdem gemacht haben. Vermutlich, weil sie hofften, dass es wieder besser wird. Dass es sich lohnt weiterzumachen.

Deshalb gibt es auch mich. Und ich bin gerne hier.

 

Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr

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