SWR2 Wort zum Tag

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07NOV2022
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In Jules Vernes Roman: „20 000 Meilen unter dem Meer“ ist Kapitän Nemo die interessanteste Figur. Nemo hat seine Familie verloren. Er wurde als Wissenschaftler nie so anerkannt, wie es ihm seiner Meinung nach zugestanden hätte. Er ist resigniert und gibt den Menschen und der Gesellschaft die Schuld dafür. Deshalb hat er beschlossen sich ganz von seinen Artgenossen zu entfernen. Mit seinem U-Boot, der Nautilus, bereist er die Tiefsee und durchforscht diese menschleere und menschenferne Welt. Er will mit Seinesgleichen nichts mehr zu tun haben, will sein eigenes Menschsein ablegen. Als er drei Schiffbrüchige aufnimmt, führt er einen davon, einen Meeresbiologen, durch sein Schiff. Er zeigt ihm dabei auch seine Bibliothek, in der alle Geistesgrößen der Menschheit vertreten sind.  Außerdem hängen dort viele Werke bedeutender Künstler. Das ist nur eine kleine Episode des Romans, wie ich finde aber eine sehr bedeutende. Denn: In seinem Vorhaben, sich ganz der Menschen zu entledigen und sein Leben an der Oberfläche hinter sich zu lassen, schafft es Kapitän Nemo nicht, auf die Früchte des menschlichen Geistes zu verzichten. Er kann diese nicht aufgeben. Er kann also sein Menschsein nicht abstreifen. Er behält etwas Menschliches bei sich. Er kann nicht „Nemo“ – also „Niemand“ werden. Auch wenn er es noch so sehr will.

Mir zeigt diese Geschichte: Wir können unsere eigene Menschlichkeit nicht ablegen. Wir sind Menschen, ob wir wollen oder nicht. Wir alle tragen das in uns, was das Christentum die „Menschliche Seele“ nennt. Die gibt uns unsere eigene Persönlichkeit und verbindet uns zugleich alle miteinander. Wie oft wurde und wird dies vergessen oder bewusst ignoriert. Menschen werden gedemütigt, erniedrigt, entmenschlicht.

Weil manche nicht akzeptieren können, wie vielschichtig und facettenreich das Menschsein ist. Oder weil jemand nicht ertragen kann, dass die Welt nicht nur für ihn da ist.

Von heute an stellt die ARD Themenwoche die Frage danach, was uns zusammenhält. Ein Wir wird gesucht. Das ist natürlich eine schwierige Suche, liest man doch überall von Spaltung der Gesellschaft; bekommen doch Besserwissertum und Rücksichtslosigkeit Oberwasser.

Ich möchte mit dieser Suche ganz am Anfang beginnen. Ein bisschen wie Kapitän Nemo: Am tiefsten Grund. Am Ursprung. Bei der simplen Tatsache, dass ich ein Mensch bin.

In diesem meinem Menschsein finde ich nicht nur ein Ich, sondern auch ein Wir.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36439
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