SWR2 Wort zum Tag

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04JAN2022
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Es gibt immer wieder Phänomene, die plötzlich in aller Munde sind. Prokrastination ist so eines.

Prokrastination - das ist, wenn wir Sachen vor uns herschieben, nur um sie nicht erledigen zu müssen. Wenn wir anfangen Fenster zu putzen, anstatt zu lernen oder einen unangenehmen Brief zu schreiben. Wenn wir nach Jahren der Unordnung ganz plötzlich den Keller aufräumen anstatt dringende Formulare auszufüllen. Das kann durchaus auch krankhaft sein. Dann ist es großes Leid. Bei mir geht das nicht ganz so weit. Und trotzdem fühle ich mich dann so, als würde ich scheitern. Als wäre ich falsch. Als würde ich den Ansprüchen nicht gerecht, die an mich gestellt werden. Es soll doch immer alles sofort erledigt sein. Warum eigentlich?

Ich finde Prokrastination, außer wenn sie einen (Menschen) krank macht, nicht so schlimm. Im Gegenteil. Ich finde in manchen Bereichen sollte das Prokrastinieren offiziell eingeführt und kultiviert werden. Ich meine vor allem das Internet, die sozialen Netzwerke. Es wird viel darüber diskutiert, wieviel Hass und Lügen dort verbreitet werden. Hate speech, oder shitstorm, das sind alltägliche Begriffe geworden. Das kann Menschen kaputt machen, wenn sie bloßgestellt werden, wenn die ganze Welt über sie lacht oder sie niedermacht.

Oft hat sich da jemand stinksauer hingesetzt und sich seine Wut unreflektiert und meist anonym von der Seele geschrieben. Dann auf Senden gedrückt. Und hier käme nun die Prokrastination ins Spiel. Vielleicht in Form einer Verzögerungsfunktion. Dass mein Kommentar nicht gleich weggeschickt wird und ankommt, sondern dass es eine Stunde dauert. Dann fragt das Programm noch einmal nach. Wollen sie das wirklich abschicken? Das muss ich dann, wenn ich will, bejahen und dann dauert es noch einmal eine Stunde und erst dann, nach reiflicher Überlegung und auf erneute Nachfrage hin wird der Kommentar abgesetzt. Oder eben nicht, weil die Wut verflogen ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass uns dann viel Geschimpfe und Gejammer erspart bleibt. Wer seinen Hasskommentar trotzdem absetzt, der kann sich zumindest nicht mehr mit seiner Wut herausreden.

Aber vielleicht würde es auch anders gehen. Ohne technische Hilfe. Vielleicht sollte jeder von uns von sich aus erst mal die Küche putzen, bevor er sich an den Computer setzt. Oder einfach nur durchschnaufen. Oder einen Spaziergang machen. Oder mal wieder die Bibel oder ein anderes Buch in die Hand nehmen.

Es gibt viele tolle Wege, um langsam zu machen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34540
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