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SWR2 Wort zum Tag
Ich liebe die deutsche Sprache. Ein Grund dafür sind die vielen Möglichkeiten, Hauptwörter zusammenzusetzen und so ganz neue Wörter zu schaffen. Zum Beispiel Beziehungswohlstand. Das Wort habe ich vor kurzem erst gelernt. Es bezeichnet einen Reichtum an Beziehungen. Was es in guten Beziehungen zu finden gibt, das kann man mit Geld nicht kaufen: das Gefühl dazuzugehören, die Gespräche, das Lachen, der gemeinsame Alltag. Umgekehrt geht Armut oft damit einher, von Beziehungsmöglichkeiten ausgeschlossen zu sein. Ich denke an die Frau im Pflegeheim, die kaum Besuch bekommt. Oder an die Mutter, die sich schämt, die Spielkameraden ihrer Kinder in die Wohnung zu lassen. Wer in diesem Sinne arm ist, bleibt außen vor.
Dass wir Menschen vor allem Beziehungswesen sind, gehört zentral zum christlichen Menschenbild. Der Augustinermönch Richard von Sankt Viktor nennt eine Person schon im 12. Jahrhundert ein „Voneinander-und-Füreinander-Sein“. Personen kommen voneinander her, und sie sind aufeinander hin angelegt. Sie kommen auch von Gott her und sind auf ihn hin angelegt. Dieses Denken unterscheidet sich grundlegend von Ansätzen, die sagen: Eine Person macht aus, dass sie vernunftbegabt ist oder sprachfähig, wie sich das seit der Aufklärung immer mehr durchgesetzt hat. Wenn aber dann jemand seinen Verstand verliert oder seine Sprache, dann bleibt mir eigentlich nur noch zu sagen: Das ist doch kein Leben mehr! Ich habe den Satz schon oft gehört, an Pflegebetten, im Trauergespräch. Ich denke ihn manchmal auch selbst, wenn ich mir vorstelle, dass es mir so gehen könnte. Aber ich weigere mich, dieser Angst das letzte Wort zu lassen. Und das ist nicht nur als Pfarrerin, sondern vor allem als Christin auch mein Job.
Das gilt umso mehr als mir immer wieder auch andere, schöne Beispiele begegnen: Der strenge Familienvater etwa, der in seiner Demenz seine Liebe endlich zeigen kann. Wir Menschen sind Voneinander-und-füreinander -Seiende. Das hängt nicht davon ab, was wir können oder leisten. Es ist uns zugesprochen mit dem Moment, in dem wir sind, bis zu unserem letzten Atemzug.
Eine der wichtigsten Aufgabe von Kirche und Gemeinde liegt für mich deshalb darin, der Beziehungsarmut etwas entgegenzusetzen.
Am letzten Samstag haben 13 Ehrenamtliche aus ganz Heidelberg den Kurs „Seelsorge als Begleitung“ abgeschlossen. 1,5 Jahre lang haben sie Grundlagen der Seelsorge gelernt. Engagiert und sensibel machen sie jetzt Besuche – an Geburtstagen, im Krankenhaus oder im Pflegeheim. Sie tragen zum Beziehungswohlstand der Menschen bei – und werden dabei selbst oft reich beschenkt.
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In meinem Garten sind gerade Walnüsse, Äpfel, Birnen und Quitten reif. Ohne dass ich irgendetwas dafür getan hätte. Ich finde das jedes Jahr wieder erstaunlich und freue mich über die Birne im Müsli oder über den Apfelkuchen. Dass das einfach alles so wächst – das ist schon ein ziemliches Wunder.
Für viele Bauern sah das mit der Ernte dieses Jahr anders aus. Der Mais ist vertrocknet, die Weizenernte war in manchen Regionen irre schlecht und die Winzer hatten in den letzten Jahren mit Pilzen und Schädlingen zu kämpfen, die es hier über eine lange Zeit gar nicht gab. „Erntedank? Fällt 2022 aus!“ hat die Süddeutsche Zeitung deswegen schon Mitte September getitelt.
Als ich in der Ausbildung zur Pfarrerin war – das ist noch keine zehn Jahre her – da hieß es immer mal, das Erntedankfest sei heute für die meisten Menschen ja kaum noch verständlich. Das hat mich schon damals nicht überzeugt. Ich komme aus einem Weingut und manche meiner tiefsten geistlichen Erfahrungen hängen mit der Ernte zusammen. Auf einem Anhänger voller schöner Trauben nach einem Tag Weinlese heimfahren – ich kann mir kaum eine tiefere Erfahrung von Dankbarkeit vorstellen.
Ich habe den Eindruck: Dieses Jahr ist besonders spürbar, welche Erfahrung hinter dem Erntedankfest liegen. Denn gute Ernten sind eben nicht selbstverständlich. Wir können uns bemühen, aber wir haben es nicht in der Hand. Auf einmal merken viele ganz deutlich, wie das ist, wenn die Ernte schlecht ist.
Deswegen finde ich: Erntedank sollte dieses Jahr nicht ausfallen: Ganz im Gegenteil. Ich glaube nämlich, dass der Dank für die Ernte viel mehr Menschen angeht als diejenigen, die ihn in Gottesdiensten stellvertretend für alle andern feiern. Statt also nur an einem Tag danke zu sagen, wie wäre es, wenn wir in diesem Jahr eine ganze Erntedankzeit ausrufen? Ich stelle mir vor, dass die nächsten zehn Tage lang, also bis zum Erntedankfest, einmal alle darauf achten, was andere für sie geerntet haben: All die Kartoffeln und Salatköpfe, die Zucchini und Tomaten, das Getreide, die Kaffeebohnen, den Tee und den Reis. Auch die Baumwolle, aus der unsere Kleider gemacht sind, und das Holz für unsere Möbel. Ich glaube, wir würden nochmal stärker wahrnehmen, wie sehr wir abhängen von dem, was wächst. Nicht nur im Garten hinterm Haus, wo ich mich über Äpfel und Birnen freue. Vermutlich würden wir tatsächlich ein bisschen dankbarer und damit auch behutsamer unseren Lebensgrundlagen gegenüber sein. Und das, das wäre doch ein guter Anfang.
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„In der Kirche sind halt immer so komische Leute!“, sagt einer in der Wandergruppe, mit der ich Urlaub mache. Mit Kirche hat er nichts am Hut. „Ja“, sage ich, „stimmt. Lauter komische Leute in der Kirche, ich auch. Und weißt Du was? Genau darum geht’s.“
Denn wenn es einen Kritikpunkt Kirche gegenüber gibt, den ich wirklich gerne höre, dann diesen. Genau das hat Jesus nämlich vorgelebt – er ist zu den komischen Menschen hingegangen. Zu Fischern, die frustriert waren, weil sie nichts gefangen hatten. Zu Zachäus, dem klein gewachsenen Zöllner, den keiner leiden konnte, weil er die Leute abgezockt hat. Jesus hat sich mit Kranken zusammengesetzt und ist auch zu Frauen und Kindern hin. Auch die haben damals eigentlich nichts gezählt.
In der Bibel wird erzählt, dass die frühe Kirche es geschafft hat, das fortzusetzen. In den ersten Gemeinden, da saßen Sklaven neben reichen Frauen, da waren Frauen auch ohne ihre Männer angesehen, da haben Ausländer so viel gezählt wie Einheimische.
Macht war anders verteilt als in der übrigen Gesellschaft. Die Kirche hat denjenigen Partizipation ermöglicht, die sonst nichts zu melden hatten. Genau dadurch wurden die Gemeinden so attraktiv – lang bevor das Christentum durch den römischen Kaiser als Religion anerkannt wurde. Ohne diese Offenheit, hätte sich das frühe Christentum nie so schnell so weit verbreitet.
Damals haben die am Rand der Gesellschaft erlebt, dass sie Kirche mitgestalten konnten. Ich finde, wo Kirche genau das noch heute ermöglicht, da haben wir was richtig gemacht.
Ich denke z.B. an das Café Talk in Heidelberg. Da treffen sich zwei Mal in der Woche Geflüchtete und Deutsche miteinander, trinken Kaffee und erzählen. Da ist Raum Deutsch zu lernen und einander kennen zu lernen. Da erleben die, die sich oft ohnmächtig fühlen, dass sie Gemeinschaft mitgestalten können.
Aber ich denke auch an ganz normale Sonntagsgottesdienste. Da sitzen Menschen mit ihren Macken und Blessuren, seltsame Käuze und alte Damen mit komischen Ticks. Da sitzen Studierende und junge Familien, Menschen in der Krise und Eltern, die dankbar sind für ihr erstes Kind. Und alle gehören einfach dazu.
In all den Veränderungsprozessen, die gerade auf die Kirchen zukommen, da wünsche ich mir eins: Dass wir in der Kirche die Liebe zum Schiefen, Schrägen und im besten Sinne Eigenartigen behalten. Und ich wünsche mir von Herzen, dass dann, wenn ich in Rente bin, immer noch einer in meiner Wandergruppe sagt: „In der Kirche, da sind halt immer so komische Leute“.
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Vor einer Weile hat mir eine Bekannte ein lang vereinbartes Treffen abgesagt. „Du, sorry, ich brauch den Abend heut für mich“, las ich in einer Whatsapp. Ich hab mich geärgert, denn es ist nicht zum ersten Mal passiert. Ich hatte mich auf den Abend gefreut und sehnte mich nach Begegnung. Stattdessen also wieder ein Abend mit Netflix auf der Couch. Seither hab ich gar nicht mehr versucht, mich mit ihr zu verabreden.
Vor einiger Zeit hatte sie an einem Achtsamkeitskurs teilgenommen. Seither schaut sie mehr nach sich selbst. Nun bin ich mir sicher, dass es wichtig ist, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, und dass auch Achtsamkeit hilfreich ist. Aber manchmal staune ich über die Konsequenzen, die das haben kann.
So musste ich herzhaft lachen, als ich den Krimi „Achtsam Morden“ gelesen habe: Darin wird ein Anwalt von seiner Frau zu einem Achtsamkeitstraining gezwungen, um ihre Ehe zu retten. Und es funktioniert – der Mann ändert tatsächlich sein Leben. Inspiriert durch den Satz „Sie müssen nicht tun, was Sie nicht tun wollen“ entscheidet er sich dagegen, den Gangster in seinem Kofferraum freizulassen, trotz hochsommerlicher Temperaturen. In der Folge begeht der Anwalt einen Mord nach dem anderen, wobei er – in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Achtsamkeit – immer sehr auf die eigene Gefühlswelt bedacht ist.
Natürlich ist das eine krasse Übertreibung. Aber mir ist beim Lesen etwas deutlich geworden. Ja, es ist wichtig, gut für sich selbst zu sorgen – sonst verausgabt man sich. Aber manchmal schlägt das Pendel auch zur falschen Seite aus. Dann liegen Achtsamkeit und Egoismus ziemlich nah beieinander.
Ich frage mich, was ein guter Kompass sein kann. „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, heißt es in der Bibel. Das Liebesgebot hat damit drei Seiten: Da ist einmal die Gottesliebe, in der sich zeigt, dass jedes Leben einen größeren Bezugsrahmen hat als die eigene kleine Welt. Und da sind Nächsten- und Selbstliebe. Keine der anderen übergeordnet, beide gleich wichtig. Auf mich selbst zu achten und mir trotzdem den Blick für die anderen zu bewahren, darum geht es dabei.
Vielleicht sollte ich also zuerst einmal selbst ernstmachen damit. Fürs nächste Mal nehme ich mir vor, dass ich sage, wie es mir geht mit solch einer Absage. Das hätte sie bestimmt verstanden. Vielleicht hätten wir uns auch zuerst einmal gestritten – aber dann bestimmt einen Weg gefunden, miteinander statt ohneeinander.
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Seit Januar habe ich ein Rudergerät. Darauf kann man zuhause im Wohnzimmer rudern. Ich liebe das. Es entspannt mich, wenn ich ärgerlich bin, oder ich kriege neue Energie, wenn Müdigkeit sich breit macht. Die gleichmäßige Bewegung, der angenehme Widerstand und das Rauschen des Wassers im Tank zusammengenommen machen, dass ich mich wohlfühle.
Viel schöner ist es noch, bei gutem Wetter draußen zu rudern. Gerne schaue ich den Ruderern auf dem Neckar zu. Manchmal fühle ich mich ihnen tief verbunden, manchmal bin ich geradezu neidisch, weil ich dazu gerade nicht komme.
Das Besondere bei dem Sport ist für mich, dass er mich auf vielerlei Weise in Verbindungen bringt. Mit Dem Wasser, durch das das Boot gleitet, mit der Natur um mich her, mit den Menschen, die mit mir sprichwörtlich in einem Boot sitzen. Während ich in meinem Alltag oft eine Leitungsposition innehabe, genieße ich es, wenn ich nicht vorne, also: „auf Schlag“ sitze. Beim Rudern kann ich mich einklinken in eine Bewegung, die andere vor und hinter mir auch ausüben. Einmal nicht denken müssen; sondern Teil eines Ganzen sein.
Vom Wasser aus sieht die Welt auch anders aus. Auf Augenhöhe mit Schwänen und Gänsen, weit unterhalb von Fahrradwegen und Straßen ergeben sich neue Perspektiven, andere Blickwinkel.
Für mich passt das Ruderboot zu Pfingsten – dem Fest des Heiligen Geistes. Von diesem Geist, der – wie es im Römerbrief heißt – lebendig und frei macht, wird für mich beim Rudern manchmal etwas spürbar: Oft komme ich dabei mehr zu mir selbst und damit auch näher zu Gott. Ich erlebe mich als Teil der Schöpfung, sowohl mit der Natur als auch mit den Menschen auf eine gute Weise verbunden. Ich spüre meine Kraft – die zwar angewiesen ist auf andere und abhängig von ihnen, aber ich selbst kann etwas tun, bewegen und bewirken. Widerstände sind beim Rudern kein Problem – im Gegenteil, sie sind nötig, damit sich etwas entwickeln kann, damit es voran geht. Zurück am Ufer bleibt oft noch ein Gefühl dafür, dass ein anderer Blickwinkel auf meinen Alltag und auf die Welt möglich ist. Ein Sport, bei dem ich mich als frei und lebendig erlebe – das kommt mir deshalb geradezu pfingstlich vor. Dem Heiligen Geist Raum zu geben – damit er spürbar und lebendig werden kann, das nehme ich mir vor. Also doch: Runter vom Rudergerät und raus aufs Wasser und ins Leben!
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Vor Kurzem war ich mit unseren Konfirmandinnen und Konfirmanden auf Freizeit. Es ging um das Thema Taufe und die Jugendlichen haben T-Shirts gestaltet, auf denen sie dargestellt haben, was die Taufe für sie persönlich bedeutet. Ein Konfirmand hat seinen Taufspruch auf das T-Shirt geschrieben: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Leider ist beim Schreiben mit Farbe und Pinsel ein Fehler passiert und er hat aus Versehen das Wort „Gnade“ weggelassen. Der Frust war riesengroß, denn der Rest des T-Shirts war schon mit viel Liebe gestaltet. Ein Reserve-Shirt, um noch einmal neu anzufangen, gab es nicht. Erst einmal ist das gute Stück in der Ecke gelandet, daran weiterzuarbeiten kam ihm sinnlos vor.
Nach einer Weile hat er es dann aber doch wieder vorgeholt. „Vielleicht passt das doch ganz gut“, hat er gesagt. „Gott weiß ja, dass Fehler dazugehören.“ Ich dachte: „Stimmt, und wenn die Gnade fehlt, ist alles nichts.“ Ohne Gnade, ohne einen freundlichen Blick auf meine Fehler und auf das, was nicht läuft, ist das Leben hart. Dann ist es ein Drama, wenn etwas einmal nicht gelingt, dann stehe ich als Person infrage, sobald ich scheitere. Diesen freundlichen Blick, den brauchen wir zuallererst einmal von außen. Von Menschen, die uns wichtig sind, von nahen Bezugspersonen. Ich kann nur selbst gut mit meinen Fehlern umgehen, wenn ich die Erfahrung gemacht habe, dass andere mich dafür nicht verurteilen. Eltern, Freundinnen, Kollegen. Genau darum geht es auch bei der Taufe: Dass Gott mich freundlich ansieht. Dass er mir meine Fehler verzeiht. Dass er auch dann noch zu mir hält, wenn ich einen richtigen Bock geschossen habe.
Mit den eigenen Fehlern und missratenen Plänen zu leben, ist manchmal gar nicht leicht. Der Schreibfehler auf dem T-Shirt des Konfirmanden hat sich am Ende noch so überarbeiten lassen, dass es doch noch gepasst hat. Die Gnade hat am Ende keiner mehr übersehen. Das ist dem Konfirmanden gut gelungen und sein Shirt war nachher richtig schön.
Bei den wichtigen Projekten im Leben, sieht das manchmal anders aus. Deren Ausgang habe ich meistens nicht in der Hand. Vielleicht kann der Spruch auf dem Taufshirt mir dann helfen und der Gedanke „Wenn die Gnade fehlt, ist alles nichts.“. Er kann mich daran erinnern, dass Fehler dazugehören und dass das Bild, das Gott sich von mir macht, dadurch nur noch bunter und eindrücklicher wird – auch wenn ich mir selbst das in dem Moment vielleicht noch gar nicht vorstellen kann.
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Pausengespräch in der Grundschule: „Der liebe Gott soll endlich eine Bombe auf Putin werfen!“, sagt der kleine Junge vor mir. Ich: „Der liebe Gott wirft keine Bomben.“ Er, nicht auf den Kopf gefallen: „Ja, aber im Vaterunser heißt es doch: „und erlöse uns von den Bösen“. „Von dem Bösen“, sage ich. „Er erlöst uns nicht von bösen Menschen.“ Mein Gegenüber ist unzufrieden und enttäuscht: „ja, aber dann hilft er uns ja gar nicht.“
Und erlöse uns von den Bösen. Ich erinnere mich, dass ich lange demselben Hörfehler erlegen bin. Auch ich fand, dass Gott uns von diesem oder jenem schlechten Menschen befreien soll. Dann wäre alles einfacher.
Aber einfach ist es nicht. Das Böse im Menschen. Gerade begegnet es uns auf Schritt und Tritt. In jeder Nachrichtensendung. Und die Angst ist groß, es könne überhandnehmen und unser Leben bedrohen. Ganz leicht werden einzelnen Personen nicht nur bösartige Absichten unterstellt, sie werden selbst zum Bösen gemacht, während man selbst sich auf der Seite der Guten wähnt. Da ist Putin als Feindbild. Aber da sind auch hasserfüllte Angriffe auf Politiker von Leuten, die sich gegen Waffenlieferungen einsetzen.
Ich frage mich, was wir selbst dafür tun können, dass das Böse seine Macht verliert. Vielleicht zuerst einmal: darüber sprechen. Dinge, die wir benennen können, machen nicht mehr so viel Angst und wirken nicht mehr so unberechenbar. Vielleicht öffnet sich das Gespräch dann auch für das Böse, das in uns selber steckt. Was auf der weltweiten politischen Bühne passiert, hat ja oft auch seine Entsprechungen im Alltag: Wie entsetzlich kann der Zwist zwischen Nachbarn sein, wie zerstörerisch der dauerhaft schwelende Konflikt am Küchentisch.
Ein Raum, in dem ich mich dem stellen kann, ist das Gebet. Letztlich ist das nichts anderes als Gott davon zu erzählen, was gerade los ist. Dazu gehört auch darüber zu sprechen, wenn ich dem Bösen in mir selber auf die Spur komme. Das ist nicht leicht. Aber Gott verurteilt mich dafür nicht – im Gegenteil: Er nimmt mich an, wie ich nun einmal bin. Und er traut er mir zu, dass ich selbst etwas ändern kann: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem, heißt es ja auch: Das Böse in mir und dir.
Im Gespräch mit dem kleinen Jungen hatte ich spontan keine gute Antwort. Beim nächsten Mal würde ich ihm sagen: Doch, Gott hilft uns. Nicht mit Bomben. Sondern indem er uns zutraut, dem Bösen etwas entgegenzusetzen: das Gute in uns, dass wir einander helfen und füreinander einstehen. Ich glaube, das will er von uns.
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Irgendwie wird das nichts mit der Selbstbestimmung im Moment. Gerade ist schon wieder mein Urlaub ausgefallen. Eigentlich wollte ich für ein paar Tage nach Rom fahren. Aber dann haben eben doch wieder die aktuellen Fallzahlen entschieden. Das war zumindest mein Eindruck Anfang Januar. Zur guten Laune beigetragen hat es nicht, mich so fremdbestimmt und passiv zu fühlen.
Was mir in der Situation geholfen hat, war ein Gedanke von Martin Seel. Selbstbestimmt zu handeln heißt für ihn nicht einfach zu tun, was man gerne will oder sich selbst möglichst viele Wünsche zu erfüllen. Er versteht unter Selbstbestimmung die „Fähigkeit, in Antwort auf gegebene (…) Bedingungen, den Kurs des eigenen Handelns (…) zu bestimmen“.
Also das mit dem Antworten, das gefällt mir. Denn es ist ja von vornherein ein Trugschluss, dass ich meine Entscheidungen unabhängig von anderen Menschen, von der politischen Lage oder der pandemischen Situation treffen könnte. Um wirklich selbstbestimmt zu handeln, muss ich mich von der Welt, wie sie ist, ansprechen lassen. Ich muss sie wahrnehmen, mich auch irritieren lassen. Ich muss mir eingestehen: Ja, das Virus ärgert und verunsichert mich und die Einschränkungen nerven. Trotzdem bin ich dadurch nicht einfach nur fremdbestimmt: Ich kann ja selbst entscheiden, wie ich mit der Situation umgehe. Ich hätte ja nach Rom fliegen können und mich um die Inzidenzen nicht weiter scheren und auch nicht um die Konsequenzen für mich und mein Umfeld. Die Reise abzusagen war meine Entscheidung, meine gut überlegte Antwort auf die konkrete Situation.
Ich habe den Eindruck im Moment wird einfach offensichtlicher als sonst, dass das, was wir oft unter Autonomie verstehen, uns Menschen nicht ganz angemessen ist. „No man is an island“ heißt es. Keiner ist für sich allein. Selbstbestimmt handeln kann ich trotzdem – indem ich meine Antwort finde.
In Antwort auf gegebene Bedingungen den Kurs des eigenen Handelns bestimmen. Für mich klingt das nach einem realistischen Freiheitsbegriff. Er beinhaltet, dass wir abhängig von anderen sind – und trotzdem frei, unsere eigenen Antworten zu geben.
Auch der Gedanke, dass es um den Kurs des eigenen Handelns geht, leuchtet mir ein: Nicht alles, was ich tue, ist selbstbestimmt – aber die Richtung, die schon. Ich jedenfalls habe direkt nach der Stornierung gleich den nächsten Urlaub geplant.
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Es geht hoch her zur Zeit – in unserer Gesellschaft, aber auch an einem Sitzungstisch, zu dem ich Sie für einen Moment einlade: Sechs Leute diskutieren miteinander. Alle haben einen bunten Hut auf. Gerade spricht ein Mann mit einem rotem Hut. Er hat auch ein ganz rotes Gesicht und ist emotional sehr bewegt. Nach ihm legt eine Frau mit weißem Hut ruhig und sachlich Zahlen und Fakten auf den Tisch. „Das wird nichts“ ruft da eine Kritikerin mit schwarzem Hut dazwischen und zählt einen Grund nach dem nächsten auf, wieso das gesamte Projekt zum Scheitern verurteilt ist. „Ich bitte Sie“, sagt da ein Mann, der einen gelben Hut trägt, „sehen Sie doch die Vorteile und Chancen, die darin liegen.“ Schließlich steht eine Frau mit grünem Hut auf und skizziert mit schnellen Strichen einen ganz neuen Vorschlag auf ein Flipchart. „Das wäre vielleicht eine Alternative“.
Was auf den ersten Blick an eine Fastnachtssitzung erinnert, steht für eine Methode zur Sitzungsleitung, die ich vor kurzem kennen gelernt habe. Sechs denkende Hüte heißt sie. Jeder Hut steht für eine Position, die in Diskussionen klassischerweise vorkommt, wie in unserer Eingangsszene. Der Witz an der Methode ist jetzt aber, dass die Rollen gerade nicht auf einzelne Personen aufgeteilt sind, sondern dass die ganze Gruppe im Lauf der Diskussion einmal jede Position einnimmt. Dafür sorgt die Person mit dem blauen Hut. Sie moderiert die Sitzung so, dass sich alle gleichzeitig zuerst z.B. die Faktenlage anschauen, dann die Vor- und Nachteile, die emotionale Ebene und schließlich mögliche Alternativen. So ist jede Diskussionsteilnehmerin gehalten, einmal jede Position einzunehmen. Die Rollen sind dann nicht mehr so festgezurrt. Man diskutiert miteinander statt gegeneinander.
In einer Zeit, in der die Konflikte immer härter werden, in unserer Gesellschaft, aber auch in den Familien und unter Freunden, spricht mich dieses Vorgehen sehr an. Es könnte helfen, wieder mehr in den Blick zu nehmen, was die anderen umtreibt und wo sie in ihrer Kritik vielleicht auch Recht haben. Gerne will ich das mit den Hüten einmal ausprobieren – in einer Kirchengemeinderatssitzung, aber auch als inneres Bild beim Zeitunglesen. Dann merke ich vielleicht eher, wie ohnmächtig und wütend eine Person ist, deren Geschäft von den Coronamaßnahmen hart getroffen wurde – auch wenn ich ihre Beteiligung an den Coronaprotesten sonst nicht nachvollziehen kann.
Sechs denkende Hüte. Vielleicht könnten wir einander so vor dem schroffen Nicht-Verstehen bewahren. Bleiben Sie also behütet – auch in diesem Sinne.
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SWR2 Wort zum Tag
Eins der bekanntesten Jesus-Worte ist für mich zugleich eins der schwierigsten: Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin. Ich frage mich, wie viele geschlagene Frauen und misshandelte Kinder diese Worte aus der Bergpredigt tief verinnerlicht hatten im Laufe von 2000 Jahren. Je länger ich darüber nachdenke, umso ungesünder klingen sie für mich: Wehr dich nicht! Halte still. Dieses Jesus-Wort macht mich ratlos, solange ich nicht genau hinschaue.
Näher hinzusehen lohnt sich in diesem Fall aber. Der Neutestamentler Walter Wink hat das getan: Er stellt sich die Szene bildlich vor: Da stehen zwei einander gegenüber. Der eine schlägt den anderen auf die rechte Wange. Dazu müsste er eigentlich die linke Hand benutzen. Ein Unding! Denn mit der Linken wurden damals ausschließlich „unreine“ Dinge erledigt. Noch nicht einmal geschlagen hätte man damit. Bleibt als einzige Alternative ein Schlag mit dem Handrücken der Rechten.
So schlugen Herren ihre Sklaven oder Eltern ihre Kinder. Solch ein Schlag brachte Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck. Er sollte gezielt demütigen und erniedrigen. Das Opfer war schon vorher nicht in der Position, sich wirklich zu wehren. Für einen Schlagabtausch auf Augenhöhe kommt ein Schlag mit dem Handrücken jedenfalls nicht infrage.
Wenn der geschlagene Sklave aber nun den Kopf dreht und dem Angreifer die linke Wange entgegenhält, dann funktioniert das Ganze nicht mehr! Auf einmal ist da die Nase im Weg. Der Schläger steht blöd da. Er muss entweder aufhören – oder so schlagen, wie man nur Ebenbürtige schlägt: Mit der Faust oder mit der Innenseite der Hand.
Eine kleine Geste nur – eine Kopfbewegung – und die Machtverhältnisse haben sich geändert. Damit ist noch längst nicht alles gut, aber der Sklave signalisiert dem Herren: „Ich bin ein Mensch, genau wie du. Du kannst mich verachten, aber nicht demütigen. Ich lasse das nicht mit mir machen.“
Jesu Worte richten sich an Menschen in einer ohnmächtigen Position. Ihnen eröffnet er einen Spielraum, in dem sie handeln können. Wer sich ohnmächtig fühlt, wird teilmächtig. Es geht nicht ums stille Erdulden, sondern um gewaltlosen Widerstand.
Je mehr ich darüber nachdenke, umso kreativer finde ich diese Lösung. Sie zeigt einen scharfen Blick fürs Detail und ein feines Gespür dafür, wie sich die Logik von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen lässt. Die linke Wange auch hinhalten – vielleicht brauchen wir mehr solche kreativen Lösungen in unserer gewaltbereiten Zeit.
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