SWR2 Wort zum Tag

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11SEP2021
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Wie leicht Menschen andere zum Sündenbock machen, das ging mir durch den Kopf, als ich letzte Woche Folgendes gelesen habe: Die Zahl der Hassverbrechen gegen Minderheiten ist in den USA im letzten Jahr um 40% gestiegen. Corona, die politische Lage – in Krisenzeiten laden Menschen gerne ihren Frust bei anderen ab. Dann hat man selbst den Kopf frei und muss sich nicht so sehr mit sich selbst auseinandersetzen.

Der so genannte Sündenbockmechanismus hat einen religiösen Hintergrund. Die hebräische Bibel erzählt, wie ein Ziegenbock mit den Sünden der Israeliten beladen und sprichwörtlich in die Wüste gejagt wurde. Als würde das die Gemeinschaft davor schützen, untereinander zu sehr in Konflikt zu geraten.

Auch Jesus wurde von den Menschen und den Mächtigen seiner Zeit zum Sündenbock gemacht. Besser den einen unbequemen Prediger hinrichten, als zu riskieren, dass sich die Unzufriedenheit mit dem politischen System in gesellschaftlichen Unruhen Bahn bricht.

Nun kann man fragen, ob das Kreuz nicht bis heute diesen unheilvollen Mechanismus befördert. Wenn es heißt: Jesus ist für meine Schuld gestorben – stellt das Kreuz dann den Sündenbockmechanismus nicht auf Dauer? Das kann man so lesen und es gibt auch eine ganze theologische Tradition, die das tut.

Es gibt aber auch die entgegengesetzte Richtung. Die Evangelien stellen das Urteil der staatlichen und religiösen Macht in Jesu Prozess als völlig verfehlt dar, als Beispiel größter Ungerechtigkeit. Sie legen damit auch offen, wie verkehrt der Sündenbockmechanismus als solcher ist: Der angebliche Feind von Staat und Religion erweist sich als deren unschuldiges Opfer. (Girard) Der Theologe Walter Wink beschreibt Jesu Tod deshalb als das Ende aller Opfer. Dem friedlichen Gottessohn die Schuld geben – spätestens hier wird deutlich, dass der religiöse Opfergedanke als solcher nicht trägt. Und Gott selbst setzt den zu Unrecht Geopferten mit der Auferstehung dann ja auch ins Recht.

All das mahnt mich zur Vorsicht. „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, das hat Jesus einmal gesagt, als eine Ehebrecherin gesteinigt werden sollte. Statt sich weiter auf die Frau einzuschießen, gingen die Leute anschließend nachhaus. So will ich  mir in unseren aufgeregten Zeiten an die eigene Nase fassen und fragen, an welchen Stellen ich andere zum Sündenbock mache. Bestimmt kennen manche von Ihnen das auch: die Kollegin, die einen so schrecklich ärgert oder der blöde Nachbar. Aber was können die wirklich dazu? Wenn heute jeder bei sich selbst anfinge statt bei der anderen, dann wären wir schon einen ganzen Schritt näher an einer etwas friedlicheren Welt.

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