SWR2 Wort zum Tag

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19SEP2022
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Vor einer Weile hat mir eine Bekannte ein lang vereinbartes Treffen abgesagt. „Du, sorry, ich brauch den Abend heut für mich“, las ich in einer Whatsapp. Ich hab mich geärgert, denn es ist nicht zum ersten Mal passiert. Ich hatte mich auf den Abend gefreut und sehnte mich nach Begegnung. Stattdessen also wieder ein Abend mit Netflix auf der Couch. Seither hab ich gar nicht mehr versucht, mich mit ihr zu verabreden.  

Vor einiger Zeit hatte sie an einem Achtsamkeitskurs teilgenommen. Seither schaut sie mehr nach sich selbst. Nun bin ich mir sicher, dass es wichtig ist, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, und dass auch Achtsamkeit hilfreich ist. Aber manchmal staune ich über die Konsequenzen, die das haben kann.

So musste ich herzhaft lachen, als ich den Krimi „Achtsam Morden“ gelesen habe: Darin wird ein Anwalt von seiner Frau zu einem Achtsamkeitstraining gezwungen, um ihre Ehe zu retten. Und es funktioniert – der Mann ändert tatsächlich sein Leben. Inspiriert durch den Satz „Sie müssen nicht tun, was Sie nicht tun wollen“ entscheidet er sich dagegen, den Gangster in seinem Kofferraum freizulassen, trotz hochsommerlicher Temperaturen. In der Folge begeht der Anwalt einen Mord nach dem anderen, wobei er – in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Achtsamkeit – immer sehr auf die eigene Gefühlswelt bedacht ist.

Natürlich ist das eine krasse Übertreibung. Aber mir ist beim Lesen etwas deutlich geworden. Ja, es ist wichtig, gut für sich selbst zu sorgen – sonst verausgabt man sich. Aber manchmal schlägt das Pendel auch zur falschen Seite aus. Dann liegen Achtsamkeit und Egoismus ziemlich nah beieinander.

Ich frage mich, was ein guter Kompass sein kann. „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, heißt es in der Bibel. Das Liebesgebot hat damit drei Seiten: Da ist einmal die Gottesliebe, in der sich zeigt, dass jedes Leben einen größeren Bezugsrahmen hat als die eigene kleine Welt. Und da sind Nächsten- und Selbstliebe. Keine der anderen übergeordnet, beide gleich wichtig. Auf mich selbst zu achten und mir trotzdem den Blick für die anderen zu bewahren, darum geht es dabei.

Vielleicht sollte ich also zuerst einmal selbst ernstmachen damit. Fürs nächste Mal nehme ich mir vor, dass ich sage, wie es mir geht mit solch einer Absage. Das hätte sie bestimmt verstanden. Vielleicht hätten wir uns auch zuerst einmal gestritten – aber dann bestimmt einen Weg gefunden, miteinander statt ohneeinander.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36175
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